Vom Sinn des Gebens: Warum sich Selbstlosigkeit auszahlt
07. November 2013
Martin von Tour, der Namensgeber für den bevorstehenden Martinstag (11. November) macht uns vor, wie selbstloses Geben aussehen kann. Der Bischof, der seinen Mantel mit den Armen geteilt hat, ist nicht nur Anlass für viele Laternenumzüge in der dunklen Jahreszeit, sondern auch Vorbild im Geben - Grund genug, sich einmal über das Teilen Gedanken zu machen:
Was haben wir davon, wenn wir hilfsbereit und großzügig sind? Gar nichts, antworten nicht wenige Zeitgenossen hinter vorgehaltener Hand. Ihrer Meinung nach ist es nur einer Dressur zu verdanken, wenn Menschen wenigstens gelegentlich auch an andere denken. Zweifellos hörten wir in unserem Leben Tausende Ermahnungen zur Anständigkeit – von der Anweisung der Eltern, die kostbaren Süßigkeiten mit den Geschwistern zu teilen, bis hin zu den Lehren der Religion. Aber die Frucht dieser Erziehung zur Selbstlosigkeit ist vergiftet: Wir zweifeln längst selber daran, dass wir uns aus freien Stücken um andere kümmern.
Wenn wir anderen helfen können, fühlen wir uns gut
Dabei nehmen wir viele Alltagserfahrungen, die in eine ganz andere Richtung weisen, gar nicht mehr wahr. Wenn wir einem Fremden den Weg in unserer Stadt zeigen können, einem Kind eine Freude bereiten oder Menschen in Not Geld spenden, fühlen wir uns gut. Und die Hochstimmung, die uns nach einer selbstlosen Tat oft ereilt, ist keine Illusion. Wie neue Ergebnisse der Hirnforschung zeigen, werden bei den meisten Menschen Zentren für Lust aktiv, wenn sie freiwillig anderen etwas geben. Es sind dieselben Schaltungen, die uns auch beim Genuss einer Tafel Schokolade, eines geliebten Musikstückes oder auch beim Sex angenehme Gefühle bereiten. Süßer Egoismus, bittere Moral? Tatsächlich scheint geteilte Freude doppelte Freude zu sein.
Geben macht glücklich: Altruisten leiden auffallend selten unter Depressionen
Und das Glück, für andere da zu sein, ist von Dauer. Frauen und Männer, die sich für ihre Mitmenschen einsetzen, sind messbar zufriedener als solche, die nur den eigenen Interessen nachgehen. Medizinische Untersuchungen förderten noch erstaunlichere Fakten zutage. Altruisten leiden nicht nur auffallend selten unter Depressionen, ihr Gesundheitszustand ist allgemein besser. Sie leben sogar länger. Intensive soziale Beziehungen halbieren glattweg das Sterberisiko in jedem Alter. Das ist das Fazit von drei inzwischen klassischen Langzeitstudien an über 500 Menschen: Wer gut zu anderen ist, dem geht es selbst besser.
In Sachen Selbstlosigkeit sind wir mindestens so gespalten wie St. Martins Mantel
Was hindert uns eigentlich daran, zu unserem eigenen Besten mehr für unsere Mitmenschen zu sorgen? Zwar spüren wir oft den Impuls, etwas für andere zu tun, aber dann unterdrücken wir ihn. Dem eigenen Wunsch, großzügig zu sein, misstrauen wir zutiefst. Da ist zum einen die Angst, uns lächerlich zu machen. Großherzigkeit genießt in unserer Gesellschaft einen seltsamen Ruf: Öffentlich lobt jeder selbstlose Menschen, doch hinter vorgehaltener Hand gedeiht der Zynismus. Bewunderung genießt, wer cool und durchsetzungsstark wirkt. Mitgefühl hingegen gilt als ein Zeichen von Schwäche. Man zweifelt am Verstand derer, die ihre Interessen bisweilen zurückstellen; allzu oft fällt der Begriff des naiven "Gutmenschen". Noch tiefer als die Furcht vor Spott sitzt die Angst, ausgenutzt zu werden. Sie plagt uns völlig zu Recht. Denn solange Menschen ihren eigenen Vorteil anstreben, werden Einzelne von der Gutwilligkeit der anderen profitieren wollen.
So sind wir in Sachen Selbstlosigkeit mindestens so gespalten wie St. Martins Mantel: Wir wollen daran glauben, können es aber nicht, und wenn wir es könnten, würden wir es nicht zugeben. Nur auf einen Gedanken scheint niemand zu kommen: Dass die Bereitschaft zur Hingabe auf die Stärke eines Menschen hindeuten könnte. Nicht nur das Wohlergehen jedes Einzelnen hängt von einem Wandel zur Selbstlosigkeit ab, sondern auch die Zukunft der Menschheit. Erst wenn Unternehmen, Völker und Nationen lernen, das Wohl aller den Interessen der eigenen Gemeinschaft wenigstens gleichzustellen, wird es gelingen, die Lebensgrundlagen auf unserem Planeten zu schützen.
– Stefan Klein ist Physiker, Philosoph und Wissenschaftsautor.
– Sein Buch "Der Sinn des Gebens" (S. Fischer Verlage 2010, 9,99 EUR) wurde 2011 zum „Wissenschaftsbuch des Jahres“ gewählt.