4. Juni 2023 | Hauptkirche St. Petri

Predigt zum 10. Jahrestag der Zuflucht der Lampedusa-Flüchtlinge

04. Juni 2023 von Kirsten Fehrs

Predigt von Bischöfin Kirsten Fehrs zu Markus 4,35-41

Liebe Lampedusa-Festgemeinde zu St.Pauli!

Here to pray – ich danke euch für die Einladung, bei diesem fulminant besonderen Gottesdienst dabei sein und sogar predigen zu dürfen. So I’m glad to be here to pray and to preach – und dies just drei Tage, bevor der Evangelische Kirchentag in Nürnberg beginnt. Ein verrücktes Zusammenspiel. Denn auf dem Kirchentag damals, vor genau zehn Jahren, hat alles angefangen. Mit uns und euch, die ihr sagtet: Here to stay!

Isaac hat es eben schon bei der Evangeliumslesung erzählt: Euch blies schwerer Sturm auf der Flucht entgegen, wie überhaupt die ganze Zeit danach. Das Wasser stand euch buchstäblich bis zum Hals. Immer wieder Aufbruch und enttäuschte Hoffnung. Immer aufs Neue die Erfahrung, dass sich am vermeintlich rettenden Ufer der Sturm nicht legte. Nein, Krieg und Flucht, Lampedusa, Italien, Deutschland, Hamburg. Ein langer, langer Weg, der über die Monate und Jahre viele Opfer gefordert hatte! Traumatische Wunden auch für eure Seelen.

In Hamburg indessen ein Traum in Blau, 1.-5. Mai 2013. Wir wogten auf der Kirchentagswelle des „So viel du brauchst“. Wieder mal eine Zeitansage. Weltweite Gerechtigkeit, Krieg und Frieden, Klimakrise – all das stand schon vor zehn Jahren prominent auf dem Kirchentagsprogramm.

Ebenso wie der Protest gegen das grausame Sterben von Flüchtlingen im Mittelmeer. 25.000 sind es inzwischen. Ertrunken, weil das Schlauchboot nicht hielt. Oder – so furchtbar! – neuerdings, weil an den Außengrenzen der EU Kinder(!) „gepushbacked“ und aufs offene Meer ausgesetzt werden – gnadenlos, hoffnungslos, bodenlos.

Und als ich nun beim Flüchtlingsboot des Kirchentages Lampedusa beim Namen nannte, welch humanitäres Desaster sich täglich an den EU-Außengrenzen abspielt, begegnete ich euch, liebe Geschwister, aus aller Herren Länder. An diesem Boot, das so bedrückend symbolisierte: noch immer kein rettendes Ufer in Sicht. Ihr hattet nach Ansicht der Behörden kein Recht, hier zu sein. Kein Aufenthaltstitel, keine Duldung. Dublinfalle.

Einen Monat später dann, nach kaltem Mai und tiefer Resignation, standet ihr vor dieser Kirche. Denn ihr ward „here to stay“, und das ungebrochen. Aber auch total durchnässt. Und ihr, liebe St. Paulianer, Pastor Sieghard und Pastor Martín und ihr vom so zugewandt-klugen Kirchengemeinderat, habt nicht anders gekonnt, als die Tür zu öffnen – eine Herzensbewegung, höher als alle Vernunft. 80 Gäste habt ihr hier aufgenommen.In winzigen Booten waren sie übers Meer geflüchtet, jetzt rollten sie an jedem Abend ihre Isomatten und Schlafsäcke auf diesem Kirchenboden aus, der aus uralten Schiffsplanken besteht. So verweben sich Schicksale und Zeiten. Und Menschen aller Couleur verbinden sich.

Und so ist das, was dann die kommenden Monate geschah, ja eigentlich bis heute geschieht, nichts weniger als eine Hoffnungs- und Mutgeschichte – durchaus mit Wunderqualität! Die Hoffnung nämlich, dass wenn sich viele Leute an vielen Orten wie diesen ein Herz fassen und der Nächstenliebe Einlass gewähren, dies wahrhaftig die Welt verändern kann und wird. Jede eurer kleinen Welten, liebe Geschwister, und auch die eine, große Welt.

Was für einen Mut hattet ihr. Dem Puls eures Herzens zu folgen, und einfach die Tür zu öffnen, ohne die Absicherung einer Infrastruktur. Eine aus Mitmenschlichkeit geborene Augenblicksentscheidung – gegen viele politische Widerstände. Und sie war genau richtig, weil es hier um Humanität und Menschenwürde ging. Und genau das hat viele Menschen ja nicht nur in St. Pauli, sondern in der ganzen Stadt berührt, ja aufgerüttelt. Jedenfalls wurdet ihr innerhalb kürzester Zeit von einer Welle der Solidarität geradezu überrollt. Angefangen vom Rentnerehepaar nebenan bis hin zum Punk, von freiwilligen Ärztinnen bis zu den Profis vom FC St. Pauli, viele Kirchengemeinden auch – sagenhaft. Ganz vielen Hamburgerinnen leuchtete ein, dass hier unmittelbar Sinnhaftes geschieht, wofür wir als Kirche sowieso stehen: Nächstenliebe live. Und was war hier los! Über hundert Freiwillige haben mit Hingabe geteilt, was sie hatten – Zeit, Aufmerksamkeit, Geduld, Geld. Sie haben für Essen gesorgt und für frische Wäsche, Deutschunterricht und Medizin. 1.000 Zahnbürsten wurden abgegeben, Klempnerdienste angeboten, Hoffnungsbotschaften geschrieben – eine Solidarität ohnegleichen. Und als 2015 – zwei Jahre später – jeden Tag hunderte Geflüchtete nach Hamburg kamen, waren Stadt und Kirche so gut vorbereitet wie wohl kaum ein Ort in Deutschland – Gott sei Dank und dank euch allen!

Zu dieser Mutgeschichte der Mitmenschlichkeit gehört unbedingt auch ihr von Fluchtpunkt. Danke dafür! Über zehn Jahre hin habt ihr fast alle Gäste von damals sagenhaft gut ins Bleiberecht begleitet. Dass der African Summer letztlich eine Erfolgsgeschichte wurde, ist neben Sieghart und Martin und Philipp und allen Paulis hier auch euch zu verdanken! Und last but not least, so viel Gerechtigkeit muss sein: Dass Politik und Behörden sich am Ende auf einen pragmatischen und unaufgeregten Umgang mit den Geflüchteten eingelassen haben, gehört ebenfalls zur guten Nachricht.

Aber erst einmal war‘s eine kritische Zeit. Öfter haben wir hier zusammen gesessen. Einen Abend erinnere ich besonders. Ich war mit Thomas hier, um zu erklären, was wir mit dem Senat besprochen hatten, um eure Situation zu verbessern. Einer von euch sprach Deutsch. Manche Englisch oder Französisch. Manche Twi und manche aus Mali nur Bambara. Und nun erklärt ihr mal die Möglichkeiten, oder besser: Unmöglichkeiten unseres Asylrechts, das man noch nicht einmal auf Deutsch versteht! Ohne Elke, die Übersetzerin des Herzens, wäre das gar nicht gegangen. Es war eine unerhört dichte Atmosphäre, als wir da im Kreis saßen, denn ihr wart ja existentiell betroffen von jedem Wort, das ich sagte – und das wiederum übersetzt wurde, ins Englische, Französische, in Twi und Bambara und zurück ... Am Ende, nach Stunden der Spannung, standen wir auf und beteten. Keine Übersetzung nötig, das haben alle verstanden. Und als ich schließlich die Hände hob, um den Segen zu sprechen, geschah etwas zutiefst Anrührendes: Alle afrikanischen Gäste im Kreis taten es mir nach. In spontaner Zutraulichkeit. Ganz ernsthaft. Ihr segnetet uns. Sieghard und Martin, Elke und all die vielen Unterstützerinnen und Unterstützer. Hotte. Und mich, Madame Leveque.

Das war der Moment, in dem wir, glaube ich, alle merkten: Wir sitzen wirklich in einem Boot. Das war kein Spruch! Sondern wie im Evangelium die Erfahrung: Wenn’s drunter und drüber geht, brauchst du in der Angst Vertrauen. Eine starke Gemeinschaft. Freunde, here to stay.

Wir können es nur gemeinsam schaffen, ans rettende Ufer zu kommen, immer wieder in unserem Leben. Indem wir uns gegenseitig segnen mit dem, was wir zu geben haben an Menschlichkeit, an Glaube, Liebe und Hoffnung. Und so hat sich dann tatsächlich ein Geist der Unverzagtheit durchgesetzt. Ein Geist, es aufzunehmen mit allen Widrigkeiten. Um die Verstörten zu trösten. Vor allem aber: friedlich zu bleiben. Schlieft ihr doch auf engem Raum nebeneinander, zunächst hier, dann in Wohncontainern, Christen und Muslime aus sieben afrikanischen Ländern, auch während des Ramadan. Und es blieb friedlich!

Übrigens auch vor der Tür. Hotte, du Türsteher Gottes, mit deinem weiten Herzen und deiner geradlinigen Sprache, du standest dafür. „Das Leben ist eine Mischkalkulation“, sagtest du immer, und dann hast du aufgepasst. Nacht für Nacht hast du gemeinsam mit deinen Kumpels die Kirchentür bewacht. Hast gesagt: „Hier in der St. Pauli-Kirche bin ich getauft, hier bin ich in den Kindergarten gegangen. Und als ich gehört habe, dass Rechtsradikale den Afrikajungs Angst machen, da war Feierabend bei mir. Ich bin zum Pastor und hab gesagt: Hier bin ich.“

Hier sind wir. In dem einen Boot, sagten auch die Jugendlichen der Klasse 10 b in der Stadtteilschule nebenan. Im Oktober 2013 schrieben sie dem Innensenator und mir einen Brief. Wie wir ja vielleicht wüssten, seien in der Kirche nebenan afrikanische Flüchtlinge. Diese Männer seien verängstigt und würden leiden. Und außerdem seien sie sehr, sehr nett. Sie, die Zehntklässler, selbst zu zwei Dritteln mit Migrationshintergrund, würden gern ihre Turnhalle als Winterquartier zur Verfügung stellen. Und ob ich nicht die Turnhalle segnen könnte, damit die Flüchtlinge dort sicher sind? Großartig. Auch sie habe ich besucht, ein mich sehr bewegendes Gespräch. Die Jugendlichen wollten nicht länger zuschauen, sondern etwas tun. Wollten nicht hinnehmen, dass Flüchtlinge vor den Augen der ganzen Welt an den Außengrenzen Europas untergehen. Sie wollten sagen: „Willkommen in diesem, in meinem Land.“

Ich denke, wir alle könnten noch viel erzählen von diesem African Summer. Und mit jeder Erinnerung durchleben wir – wir da in dem einen Boot – wie uns diese Erfahrung verändert hat. Wie die Stürme dieser Zeit und was gerade euch entgegengeweht ist, uns durchgeschüttelt haben. Aber auch, was und die Angst genommen hat. Und Ruhe gegeben. Vertrauen und Zuversicht.

Und Jesus hörte die ängstlichen Schreie seiner Jüngerinnen und Jünger. „Und er stand auf und bedrohte den Wind und sprach zu dem Meer: Schweig! Verstumme! Und der Wind legte sich, und es ward eine große Stille.“ Endlich gerettet. Und dann diese Frage: „Was seid ihr so furchtsam? Habt ihr noch keinen Glauben?“ Ich bin da, stay with you, alle Tage. You’ll never walk alone. Also: fasst euch ein Herz!

Fasst euch ein Herz und fürchtet euch nicht. Dieser Satz erreicht mich in diesen Tagen besonders. Während wir wieder eine sehr emotionale Asyldebatte erleben und mancherorts die Stimmung auf Sturm steht. Jetzt ist die Zeit, liebe Geschwister, das Herz in die Hand zu nehmen und wieder mutiger und lauter einzustehen: „Here to stay and here we stand“ – für Menschenrecht und Demokratie, für das Miteinander in Vielfalt, für eine Stadt und ein Land ohne Ausgrenzung, Rassismus, Gewalt.

Ganz klar: Wir brauchen einen pragmatischen Umgang mit Geflüchteten statt ideologisch aufgeladener Diskurse. Und also eine vorausschauende Politik, die gefährdeten Menschen sichere Wege nach Europa öffnet, damit niemand eine lebensgefährliche Fahrt über das Mittelmeer antreten muss. Um des Menschen Recht brauchen wir euch, hier in diesem Boot: die mit dem Mut, höher als alle Vernunft. Die mit dem Herz in der Hand. Die mit den hoffnungstrotzigen Ideen in den Stürmen unserer Welt.

Schönsten Hoffnungstrotz können wir derzeit in Bristol erleben. Dazu meine kleine Schlusskadenz. Dort hat die Kirche St Mary Redcliffe kürzlich einige neue bunte Kirchenfenster bekommen. Die Vorigen mussten nämlich ersetzt werden, weil ihre Inschriften einen Kaufmann ehrten, der sein Geld mit der Versklavung tausender Menschen verdient hatte. Die neuen Fenster zeigen Jesus als Sturmstiller, Jesus als Demonstrant, Jesus in einem überfüllten Flüchtlingsboot und schließlich eine Gruppe von ethnisch diversen Menschen mit der Botschaft: Wir sind angekommen. Gemeinsam am rettenden Ufer. Gemeinsam in einer Welt der Mitmenschlichkeit. Das Licht fällt jeden Tag neu durch diese Fenster – leuchtet ins Leben mit ihren Hoffnungs- und Mutgeschichten. Auf dass auch wir, miteinander gesegnet, von ihr reden, der embassy of hope, zehn Jahre und kein bisschen leise. Amen.

Datum
04.06.2023
Quelle
Kommunikationswerk der Nordkirche
Von
Kirsten Fehrs
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