16. Juni 2024 | Hauptkirche St. Michaelis, Hamburg

Gottesdienst am 3. Sonntag nach Trinitatis

17. Juni 2024 von Kirsten Fehrs

Predigt zu Lukas 15,1-3 und 11b-32

Liebe Gemeinde,

kürzlich in einem bekannten Möbelhaus: „Achtung, Achtung. Der kleine Timo ist verloren gegangen. Er findet seine Mutter in der Kinder-Oase beim Bällebad.“ Solche oder ähnliche Durchsagen lassen einen aufhorchen. Auch im größten Gedrängel um ein praktisches Regal oder besonderes Möbelstück erreicht uns so ein Aufruf sofort, oder?

Denn: Verloren gehen, das haben wir wie Timo vielleicht alle schon einmal erlebt. Da ist man ganz verträumt im Hier und Jetzt unterwegs – und auf einmal: Anschluss verloren. Keiner mehr da, der auf einen achtgibt, der vertraut ist und Halt vermittelt. Ein schreckliches Gefühl; als Kind ist es mir einmal beim Wattenlaufen passiert. Diese Angst, in der großen Weite nicht mehr gefunden zu werden. Komplett orientierungslos zu sein. Und wie selig der Moment, wieder gefunden zu werden und geborgen zu sein, wenn die Mutter einen in den Arm nimmt. „Mir ist Erbarmung widerfahren“ – Der Choral von eben spielt mir aus der Seele.

Auch ihm ist Erbarmung widerfahren – die Predigtgeschichte spielt die Melodie weiter. Wir tauchen ein in eine Männerwelt. Vater und zwei Söhne werden uns bekannt. Dazu ein Familienbetrieb, offenkundig begütert. Denn am Ende sind ein kostbares Gewand, ein Ring für den Finger, ein neues Paar Schuhe und ein gemästetes Kalb zur Hand. Für dieses Vermögen hat der ältere Bruder treu geschuftet. Und der Jüngere – so sind sie ja oft, die Brüder – hat Freischwimmtendenzen. Solche Familiendynamiken, wer kennt sie nicht, ganze Soap-Operas erzählen davon. Der gütige Vater zahlt schließlich dem Jüngeren sein Erbe aus. Nützt ja nix. Der Schmerz über diese Trennung von ihm zerreißt ihm das Herz.

Und der Jüngste dann: Er ist so frei und so glücklos. Sein Lebenshunger endet am Schweinetrog. Alles verloren. Sein Geld, seine Lebenslust, seine Würde. Reuig kehrt er nach Hause zurück, in der Erwartung, wenn überhaupt, dann nur mit tiefer Enttäuschung aufgenommen zu werden.

Und dann steht da tatsächlich dieser mich immer berührende Satz, für mich der Kern des ganzen Evangeliums: „Als er aber noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater, und es jammerte ihn, und er lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn.“ Und als der Sohn seine Reue ausdrückt: „Ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße“, hört der Vater das zwar, aber es spielt überhaupt keine Rolle. Schnell läuft er zu seinen Knechten, schnell, schnell, bereitet ein Fest!

Es sind diese Eiligkeit und die offenen Arme, mit denen der Vater dem Sohn entgegenkommt, ja entgegenrennt, was so anrührt. Er sieht seinen verlorenen Sohn schon von Ferne, täglich hat er Ausschau gehalten. Er liebt ihn einfach so. Der Schmerz weicht tiefer Freude, ganz gleich, was passiert ist. Es ist sein Sohn. Statt Enttäuschung neue Hoffnung.

Und für den Sohn – ein neuer Anfang. Eine neue Melodie, ein neues Lied, nur für ihn geschrieben: Amazing grace

[Lied wird gesungen]

Erstaunliche, wunderbare Gnade, wie süß der Klang, der ein Wrack wie mich rettete. Ich war einst verloren, aber nun bin ich gefunden, war blind, aber nun sehe ich.

Es geht hier um mehr als ein Happy End in einer Netflix-Serie, liebe Geschwister. Mit dem Glück endet‘s ja gerade nicht. Mit dem Glück, einander gefunden zu haben, beginnt‘s erst richtig. Wie in jeder Liebesgeschichte! „Und sie fingen an fröhlich zu sein.“ Mensch, wunderbar, dieser Ton – denke ich. Amazing! Amazing grace inmitten all dessen, was wir in dieser ungnädigen Welt gerade erleben. Wir haben ein Recht auf Leben, Frohsinn, Hoffnung! Wir brauchen es wie die Luft zum Atmen. Und was hindert uns, selbst wie der Vater mit offenen Armen auf all die zuzugehen, die sich so verloren fühlen. Denn siehe: Dann fingen sie an fröhlich zu sein!

Ja klar, das Leben ist kein Möbelhaus mit Bällebad. Das Leben ist viel komplizierter. Verwirrend, irritierend, seltsam. Komplex. Wir sind unsicher geworden in der Orientierung. Das macht etwas mit unserer Seele, auch der Seele unseres Landes. Wir merken es seit längerer Zeit, wie aufgeraut das gesellschaftliche Klima ist. Wie ungeduldig, eben: ungnädig der Ton in den Diskussionen. Aufgeregt und polarisiert. Nicht zuletzt an der Wahl vergangenen Sonntag hat sich gezeigt, dass es deshalb auch um das Gemeinschaftshaus Europa schlecht bestellt ist. Das macht alles andere als fröhlich. Wir haben mit Verlusten zu kämpfen, und die finden sich in unserer Geschichte genau wieder. In dem Maße nämlich, wie Jesu Erbe, das Vermögen der Herzlichkeit, den Menschen fast unbemerkt abhandenkommt, in dem Maße, wie rechtsextreme Parteien die Würde des Menschen antastbar machen, in dem Maße, wie die Schotten dicht gemacht werden und die Ichlinge in dieser Gesellschaft zunehmen. Ichlinge, die ausschließlich ihre eigene Freiheit absolut setzen und denen die Freiheit der anderen herzlich egal ist. In diesem Maße verlieren wir das Wichtigste, was wir haben: unsere Menschlichkeit.

Doch wir dürfen sie um Jesu willen nicht verloren geben – das legt uns dieses Gleichnis entschlossen ans Herz: Die unantastbare Würde des einzelnen, die Liebe zum Leben und die Liebe zum Sohn und auch zu den Nächsten, der Schutz der Fliehenden und Heimatsuchenden, die Freiheit aller – dies alles ist das Fundament unserer Demokratie. All dies kurz und klar verankert im 75- jährigen Grundgesetz – vor Gott und den Menschen, so die wunderbare Präambel des Grundgesetzes, hat man nach einer Kriegskatastrophe ohnegleichen demütig den eindeutigen Willen zum Ausdruck gebracht, dem Frieden in Europa zu dienen.

Verloren, oder zumindest gedämpft sind derzeit für viele die Hoffnungen auf einen Frieden, der uns über 75 Jahre geschenkt war. Seit zwei Jahren und drei Monaten erwehren sich die Menschen in der Ukraine der kriegerischen und terroristischen Attacken einer russischen Kriegsmaschinerie. Furchtbar. Wir selbst finden uns wieder in Debatten um Rüstung, Kampfkraft, Wehrpflicht, militärischem Sondervermögen. Aber inmitten all dieser aufgerüsteten Sprache klingt unbeirrbar Gottes Gegenton: „In der Welt habt ihr Angst, spricht Christus. […] Aber fürchtet euch nicht, meinen Frieden gebe ich euch, nicht wie die Welt ihn gibt.“

Fürchtet euch nicht. In dieser Welt, die zur Furcht allen Anlass gibt. Gott kommt uns entgegen, seinen Söhnen und Töchtern, die wir um Frieden ringen, mit all unseren Vergeblichkeiten, womöglich nichts ausrichten zu können. Er kommt ihnen und uns entgegen, die in diesen Dauerkrisen tiefe Leere spüren und Hoffnungslosigkeit wie der verlorene Sohn. Damit sich das Leben noch einmal wendet! Amazing grace. Auf dass wir Hoffnungsmenschen werden!

Ein Hoffnungsmensch und -theologe hat mich immer sehr bewegt. Jürgen Moltmann, er starb vor 14 Tagen mit 98 Jahren. Seine „Theologie der Hoffnung“, die 1964 als theologischer Aufbruch galt, war letztlich auch meiner. Dieser entschlossene Mut, entgegen allem Elend, aller Kriegsschuld und aller persönlichen Scham, nicht die Hoffnung verloren zu geben – eben weil sich sein eigenes Leben gnädig wendete – das beschreibt er in seiner Autobiographie[1].

Im Februar 1945, als verlorener Sohn in holländischer Gefangenschaft, fühlt er es so: „Wir waren dem Inferno entronnen, aber saßen hinter Stacheldraht und hatten unsere Hoffnung verloren. Mancher wurde zynisch, andere wurden krank. […] Wie eiserne Ringe legte sich die kalte Verzweiflung um die Herzen und nahm die Luft zum Atmen. Jeder versuchte, sein blutendes Herz hinter einem Panzer der Unberührbarkeit und Gleichgültigkeit zu verstecken. Das war die innere Gefangenschaft der Seele, die zu jener äußeren Gefangenschaft hinzukam.“ [1]

Einige Monate später in Schottland dann, beim Arbeitsdienst außerhalb des Lagers waren „die schottischen Vormänner und die Familien [waren] die Ersten, die uns, den früheren Feinden, mit einer Gastfreundschaft entgegenkamen, die uns tief beschämte. Wir hörten keine Vorwürfe, uns wurde keine Schuld zugewiesen, wir erfuhren eine einfache und herzliche Menschlichkeit. Sie machte es uns möglich, mit den Lasten des eigenen Volkes zu leben, ohne sie zu verdrängen und ohne sich zu verhärten. Wir trugen zwar die Nummern auf dem Rücken und die Gefangenenflecken auf den Hosen, aber wir fühlten uns als Menschen angenommen. Diese Menschenfreundlichkeit im fernen Schottland machte uns wieder zu Menschen. Wir konnten wieder lachen.“ [1]

„Und sie fingen an fröhlich zu sein.“ Amazing.

Nach und nach kehrte Jürgen Moltmann zu den Worten der Bibel zurück, die er lange verloren hatte. Und liest irgendwann diesen verzweifelten Schrei Jesu: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ „Ich spürte [...] mit wachsender Gewissheit: Da ist einer, der dich ganz versteht, der [...] die gleiche Verlassenheit gefühlt hat, in der du jetzt bist. Ich begann, den angefochtenen, den verlassenen Christus zu verstehen, weil ich mich von ihm verstanden wusste: Der göttliche Bruder in der Not, der Weggefährte, der mit dir durch dieses finstere Tal geht [...] Ich fasste wieder Lebensmut, und es ergriff mich langsam, aber sicher eine große Hoffnung auf die Auferstehung in Gottes weiten Raum, in dem keine Bedrängnis mehr ist.“ [1]

Es ist dies ein Bild, das mich im Herzen berührt. Dass Gott um dich weiß und dich von Ferne schon sieht, in der du dich befindest. Und so kommt er dir eilends vom weiten Raum der Zukunft mit offenen Armen entgegen, jetzt, um dich in Liebe zu umarmen. Und dann ein Fest zu feiern. Und einen Gottesdienst. Vor lauter Freude. Es ist dies Jesu Antwort auf unsere Frage, wo die Hoffnung lebt.

Hier. In der Gegenwart. Niemals gibt Christus eine/n von uns verloren, liebe Geschwister. Auch den älteren Bruder übrigens nicht, der so sauer ist und neidisch und enttäuscht. Weil er sich zu kurz gekommen fühlt. Und schließlich immer alle Arbeit gemacht hat. Auch er, alle gehen mit ihren Enttäuschungen, Verletzungen, ihrer Schuld in der großen Geschichte Gottes nicht verloren, sondern wohnen darin als Gesegnete seiner Barmherzigkeit. Amazing grace. So auch wir, liebe Geschwister. Auf dass wir aufmerksam aufeinander achtgeben und uns die Freudenfeste – und Freundesfeste – am Wegesrand gönnen.

Apropos, Europa: Fußball-EM! Verloren hat unser Land gegen Schottland ja gerade nicht. Hat sogar ein Tor für sie mitgeschossen. Und wie wird das Fest weitergehen? Nun, ich schaue Fußball zugegeben nur aus seelsorgerischen Gründen. Weil so viele sich ein Sommermärchen wünschen. Und wäre es nicht auch märchenhaft, wenn ein Überraschungsteam gewinnt, das fair und vergnügt den Pokal in Händen hält? Dankbar auch, weil Hamburg ihnen allen mit offenen Armen entgegengekommen ist und ihnen zugesungen hat: Amazing grace. Und: Friede sei mit dir. Amen.

 

[1] Jürgen Moltmann: Weiter Raum. Eine Lebensgeschichte, Gütersloh 2006. Zitate von den Seiten 39-41.

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