31. Mai 2024 | Hohe Domkirche St. Marien, Erfurt

Ökumenischer Frauengottesdienst im Rahmen des 103. Katholikentags

05. Juni 2024 von Kirsten Fehrs

Predigt zu 2. Könige 5,1-14

Gnade und Friede von dem, der da ist, der da war und der da kommt. Amen.

Liebe Schwestern,

es muss heute in aller Klarheit beim Namen genannt werden: Ich freue mich ausgiebig und es ist mir aufrichtig eine Ehre, hier im Erfurter Dom mit Ihnen Gottesdienst zu feiern und die Predigt halten zu dürfen.

Ökumenisch herzlich verbunden als Schwestern, die wir ebenso herzlich alle anwesenden Brüder mitmeinen. Schwestern, die wir vereint sind in unserer Sehnsucht nach Frieden. Vereint auch darin, in klarer Solidarität diesen Frieden unbeirrbar zu denken, zu handeln, ins Gebet zu nehmen. Wer, wenn nicht wir, sollte dies aus tiefer Hoffnung heraus tun? Ich empfinde es gerade in diesen Zeiten als ein Geschenk, in Gemeinschaft, mit Kraft und Geistesgegenwart, mutig und klar beim Namen zu nennen, dass wir uns nicht abfinden mit gewalttätigen Despoten, mit Machtmissbrauch, mit Diskriminierung. Keine Toleranz dafür, dass die Würde von unzähligen Frauen in so vielen Ländern dieser Erde mit Füßen getreten wird. So viele: rechtlos, heimatlos, hoffnungslos. So unsagbar viele, Hunderttausende pro Tag, sie bleiben namenlos.

„Ich habe dich bei deinem Namen gerufen.“ (Jesaja 43,1) Das ist Gottes Antwort darauf. Fürchte dich nicht. Ich kenne deinen Namen. Du bist mein Augenstern, heißt das, ich achte auf dich. Dies spricht Gott ausnahmslos jedem Menschen zu, vom Anfang bis zum Ende des Lebens. „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen.“ Darin gründet deine Identität und Würde, ganz gleich, was andere sagen.

Und dies erleben wir doch tatsächlich im Alltag: Immer, wenn unser Name gerufen wird, sind wir persönlich gemeint. Wer auch sonst? Unser Name macht uns ansprechbar, nicht nur als Person, sondern als unverwechselbare Persönlichkeit. Mir passiert es ehrlich gestanden öfter, je länger ich als Bischöfin unterwegs bin (immerhin fast auf den Tag genau seit zwölfeinhalb Jahren), dass ich in spontanen Begegnungen zwar die Menschen erinnere, aber nicht immer ihre Namen.

Ich weiß nicht, ob es Ihnen ähnlich geht, aber mir ist das immer ein bisschen peinlich, ganz instinktiv. Weil der Namensvergessenheit immer auch etwas Kränkendes innewohnt. Nicht genannt zu sein, kann ja schnell empfunden werden als: nicht erkannt, nicht anerkannt zu sein. Und in der biblischen Geschichte, die uns heute so intensiv befasst, ist dies den Verfassern offenkundig keinesfalls eine Anfechtung: Die Frau, die mit ihren Worten ein Leben rettet, bleibt konsequent ohne Namen.

Auf den ersten Blick ist die Geschichte schön: Der sehr angesehene, aber kranke Naaman macht sich auf den Weg, um sich heilen zu lassen und – nach einigen Umwegen, Wirrungen und Zumutungen – gesundet er und kehrt heil zurück.

Doch der zweite Blick schärft den Sinn für die Unwuchten. Nur ganz nebenbei nämlich wird erwähnt, dass sich eine – nach den Maßstäben der Zeit – völlig unbedeutende Frau zu Wort meldet und damit den Stein ins Rollen bringt. Ihr Anstoß lässt eine Heilung des Naaman überhaupt erst denkbar werden. In dem Text gibt es dazu nur wenige knappe Sätze. Wahrscheinlich wird diese Frau überhaupt nur deshalb erwähnt, weil die Geschichte ohne ihr Handeln nicht auskommt. Sie hat sich – wohlgemerkt als Sklavin – tatsächlich das Wort erkämpft. Unerhört!

Unerhört konnte ihr Wort aber diesmal nicht bleiben, weil es das entscheidende, rettende Wort war.

Die Frau hat Schlimmes erlebt. Sie hat keiner gerettet. Als junges Mädchen wird sie von den Aramäern als Kriegsbeute aus Israel verschleppt – und unweigerlich bekommt der Text bedrückende Aktualität. „Bring them back!“, dieser Ruf ertönt sofort in meinem inneren Ohr.

Die Verschleppte wird fortan als Sklavin gehalten. Die Frau des Naaman ist ihre Besitzerin. Beim genaueren Lesen erschreckt mich, wie oberflächlich und im wahrsten Sinne des Wortes völlig unbekümmert die Geschichte über dieses Schicksal der Frau hinweggeht. Wir erfahren nichts weiter darüber, was ihr angetan wurde und vielleicht auch weiterhin angetan wird.

Hier wird nichts beim Namen genannt. Dabei sind es doch gerade die Namen, so geht es mir angesichts der Kriege in dieser Welt durch den Sinn, die für die leidenden, verfolgten, politisch gefangenen oder getöteten Menschen Empathie in uns wecken. Namen wie Jina Mahsa Amini. Shani Louk. Mercedes Kierpacz. Maria Kolesnikowa. Shireen Abu Akleh. Say their names!

Natürlich spielt die biblische Geschichte in einer anderen Zeit. Damals gehörten Frauen ebenso wie Bedienstete zum Haus und zum Besitz des Hausherrn. Sie hatten keine eigenen Persönlichkeitsrechte und waren kaum erwähnenswert. Aber mit dem Hinweis auf graue Vorzeiten ist es nicht getan. Denn der Beitrag von Frauen bleibt auch heute oft im Hintergrund. Unzählige Frauen haben ihre Spuren in der Geschichte hinterlassen, haben Steine ins Rollen gebracht, haben ihre damalige Gegenwart vorangetrieben und die ihnen noch ferne Zukunft maßgeblich beeinflusst. Im Rampenlicht stehen sie damit allerdings nicht. Nur wenige – meist solche mit für ihre Zeit ganz und gar außergewöhnlichem Engagement und Verhalten – haben es bis in die Geschichtsbücher geschafft.

Auch heute noch bleiben die Gewalt und die Erniedrigungen, die Frauen erleiden, skandalös unterm Radar. Im Alltag, und ganz besonders auch im Krieg. Und wenn Gewalttaten erwähnt werden, dann in einer Sprache, die sie furchtbar verharmlost. So heißt es schon in der Lutherbibel über unsere namenlose Frau: „Aber die Kriegsleute der Aramäer [...] hatten ein junges Mädchen weggeführt aus dem Lande Israel.“ [hebräisch: schawa – gefangen wegführen]

Diese bagatellisierende Sprache kennen wir auch in der Gegenwart: In Deutschland stirbt fast jeden dritten Tag eine Frau durch die Hand ihres Partners oder Ex-Partners. Die Berichterstattung spricht dann eben nicht von Femiziden, sondern von einem „Familiendrama“. Erst allmählich wächst das Bewusstsein für das Ausmaß dieser Gewalt, die Frauen wegen ihres Geschlechts oder wegen bestimmter Vorstellungen von Weiblichkeit erfahren.

Ein besonderes Kapitel ist die Gewalt, vor allem sexualisierte Gewalt, die Frauen in Kriegen erleiden. Soldaten oder bewaffnete Milizen nutzen ihre Macht und den Zusammenbruch rechtsstaatlicher Kontrolle aus, um auf grausamste Weise Frauen in ihrer Integrität zu zerstören und den Staat als schützende Instanz zu erschüttern. Strafverfolgung müssen sie meist nicht fürchten. Aber auch unabhängig von unmittelbaren Kampfhandlungen sind Frauen in Kriegs- und Krisengebieten permanent der Gefahr ausgesetzt. Seit Jahrtausenden gibt es diese Kriegsgewalt gegen Frauen.

Oft kämpfen sie jahrzehntelang um die Anerkennung ihres Leids, wie zehntausende sogenannter „Trostfrauen“ (welch ein schrecklich verharmlosendes Wort!), die während des Zweiten Weltkriegs in japanische Kriegsbordelle verschleppt wurden. Erst allmählich entwickelt sich ein öffentliches Bewusstsein dafür. Auch in den aktuellen Kriegen und bei Terroranschlägen sind Frauen besonders von Gewalt betroffen. Es ist ein Erfolg der weltweiten Frauenrechtsbewegung, dass diese Gewalt gegen Frauen mittlerweile thematisiert, enttabuisiert und ernst genommen wird und internationale Reaktionen hervorruft.

Auch deshalb sind Gottesdienste wie dieser so wichtig – und ich danke allen Frauen, die ihn mit so viel Klugheit und Intensität vorbereitet haben. Denn hier ist ein Ort, an dem wir, inmitten von Krieg und Gewalt, damit beginnen, unsere Schritte auf den Weg des Friedens zu lenken. Und dies gerade nicht unter Absehung des Leids, sondern genau in dessen Anerkennung. Wie sehr ist doch anzuerkennen, dass Frauen sich gerade machen, den Erniedrigungen die Stirn bieten und das Wort ergreifen.

Wie es jetzt übrigens auch geschieht, von betroffenen Menschen, die sexualisierte Gewalt in unseren Kirchen erlitten haben. Sie brechen das Schweigen. Richtig so! Es braucht Sprechräume dafür, klare Worte und die Auseinandersetzung damit, dass und wie Gewalt in unseren Kirchen geschehen konnte und bis heute kann. Leider.

Auch das beeindruckt mich an unserer Predigtgeschichte: Dass eine in Ohnmacht gefangene Frau sich selbstbestimmt das Recht herausnimmt, ihren Mund aufzumachen. Sie vertraut darauf, dass ihr Wort etwas verändern kann. Und wie es das tut! Gerade sie ist es – und nicht die Mächtigen – die Naaman zum Segen wird. Was für eine Umkehr. In der Friedensgeste Iiegt die eigentliche Macht.

Ich liebe das Subversive unseres Glaubens. Die Welt wird auf den Kopf gestellt. Aus oben wird unten, aus Macht wird Ohnmacht, aus Nebenrollen werden Hauptrollen. So auch sind es die Ratschläge von Naamans Bediensteten, die dazu führen, dass er Schwäche zeigt, dass er seine Rüstung ablegt und dass er deshalb wieder gesundet. Der Aussatz verschwindet weder durch militärische Stärke noch durch politisches Kalkül, nein: Naaman wird heil dadurch, dass er sich bedürftig zeigt, dass er Hilfe annimmt, dass er Mensch unter Menschen wird – ein Mitmensch.

Und so bedenken wir‘s nicht nur, wir feiern heute in dieser schwesterlichen Gemeinschaft eine Geschichte gegen die Ohnmacht, eine Geschichte gegen die Resignation und gegen das Gefühl, doch nichts ändern zu können. Eine Geschichte über das Vertrauen in die Kraft, die uns nicht verzagen lässt. Auch wenn wir die Probleme als übermächtig empfinden, wenn wir verzweifeln am Leid dieser Welt, wenn wir meinen, dass all unser Einsatz viel zu langsam viel zu wenig zu verändern scheint – unser Tun ist eben nicht vergeblich. Jeder Einsatz für den Frieden macht einen Unterschied, also: Lassen wir uns in Bewegung bringen. Nennen wir‘s beim Namen. So oft bedeutet ein mutmachendes Wort alles. Und manchmal verändert es sogar die Naamans dieser Welt. Dass sie verlernen Krieg zu führen und dem Frieden das Herz zu öffnen. Gottes Frieden, höher als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

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