Predigt anlässlich der Wiedereinweihung der St.-Jürgen-Kirche in Heide
17. Mai 2024
"Ich werde meinen Geist ausgießen.“
Liebe Festgemeinde,
die Bibel ist kein Geschichtsbuch. Die Bibel ist ein Lebensbuch dafür, wie das Leben mit Gott aussehen kann. Deswegen dürfen wir nicht nur, deswegen MÜSSEN wir die Geschichte weiterschreiben. Die Geschichte Gottes mit uns Menschen hat ja nicht mit dem Aufschreiben der Evangelien geendet. Sie ist weitergegangen. Geht weiter. Wild, verwegen, komplex, schön.
Die Pfingstgeschichte also, geschrieben für die Stadt Heide, im Jahr 2024. Eine Geschichte über Grenzen und Grenzenlosigkeit
Alle sind an einem Ort beieinander. Auf diesen Tag haben ganz viele hier gewartet. Endlich wieder hier am Marktplatz, in St.-Jürgen Gottesdienst zu feiern. Und schön ist es geworden. Ein Lebens- und Gottesraum mitten in der Stadt. Was fehlt, wenn so ein Raum, der über Jahrhunderte so selbstverständlicher Teil des Stadtbilds ist, auf einmal nicht mehr zur Verfügung steht, das haben Sie in den letzten Jahren erfahren. Dass ein Kirchengebäude mehr ist als Steine, sondern immer auch Heimatgeber und ein Raum, der sie Seele weitet, das ist hier in Heide heute bestimmt viel mehr Menschen klar als woanders.
Plötzlich kommt vom Himmel her ein Brausen. Es ist wie ein gewaltiger Wind. Wie ein Sturm. Die ganze Kirche wird davon erfüllt.
Es erscheinen Feuerzungen vom Himmel. Und alle werden erfüllt vom Heiligen Geist. Und nun wird es natürlich schwierig mit der Übertragung. Heide 2024. Feuerzungen vom Himmel. Feuer. Untrennbar verbunden mit dem Heiligen Geist. Ich denke an Lagerfeuer. Auch bei den Heider Pfadfindern nicht wegzudenken. Am Feuer sitzen, singen, einfach in die Flammen schauen. Das prägte Generationen, bis heute. Die Faszination des Feuers ist ungebrochen. Feuer zeigt uns unsere Grenzen, aber auch unsere Möglichkeiten. Gemeinsam am Feuer zu sitzen, verbindet. Gemeinsam eine Kerze anzuzünden, ist ein besonderer Moment.
Momente, in denen wir gemeinsam ein Feuer entzünden, sind ganz häufig Momente intensiver Gemeinschaft. Die Kerze am Bett des Sterbenden. Die Taufkerze neben dem Baby. Auch zu Hause: An besonderen Tagen brennen die Kerzen. Wir holen uns damit ein Glanzmoment des Heiligen Geistes hinzu.
Heide 2024. Eine Stadt, in der Menschen ganz verschiedener Herkunft leben. Nach dem 2. Weltkrieg sind Menschen zum Beispiel aus Ostpreußen, Schlesien und vielen anderen Gegenden hier nach Heide gezogen. Menschen aus der Türkei, Indien, Afghanistan, Syrien leben hier. Und seit zwei Jahren auch viele UkrainerInnen – die hier in der Kirchengemeinde ein besonderes zu Hause finden durften.
Also ist Heide logischerweise auch eine Stadt der verschiedenen Sprachen und Dialekten. Und wir wissen: eine Sprache ist immer mehr, also nur zu Worte geformte Laute. Die Sprache transportiert eine Kultur, eine Geschichte. Die deutsch-türkische Autorin Kübra Gümüsay sagt dazu: „Die Sprache öffnet uns die Welt – und grenzt sie zugleich ein“. Weiter schreibt sie: „Letztlich geht es (…) darum, die Architektur der Sprache zu erkennen, sie wahrzunehmen und zu ertasten. Im übertragenen Sinne: ihre Mauern zu sehen. Es geht darum, die Last, die Gewalt, die Perspektiven, die bestimmten Worten innewohnen, zu begreifen, sich der Macht der Sprache bewusst zu werden und offene Türen in die Käfige einzubauen. Letztlich geht es darum, Räume für neue Perspektiven zu schaffen.“
Es lohnt sich also, einen Moment darüber nachzudenken, was da eigentlich im Pfingstwunder geschieht. In der Stadt Heide. Wo Menschen aus allen Herkünften wohnen und in verschiedenen Sprachen reden. Denn natürlich können wir sicherlich viele Geschichten darüber erzählen, wo verschiedene Sprachen zu Mauern werden. Wo Verständigung scheitert, auch wenn die beste Übersetzungs-App auf dem Smartphone zur Hilfe genommen wird.
Meine Frage heute aber an Sie und auch an mich ist: Wo sind die offenen Türen, die wir in unsere Sprachkäfige einbauen können? Wo und wie gelingt Verständigung? Ich denke, in Ihrem Sozialcafé, da leben Sie das ganz normal, im Alltag. Auch das Konzept für die St. Jürgen-Kirche als Neue Mitte für Dithmarschen sieht ja genau das vor: Die Kirche ist Kirche, aber zugleich immer auch viel mehr. Zusammen mit anderen, mit der Diakonie, der Stadt, Kultur- und Bildungsträgern. Und vor allem, mit offenen Türen.
Und wie wäre das – diese Kirche – ein Begegnungsraum, in der Vielsprachigkeit nicht zum Käfig wird, sondern viele Türen von vornherein eingebaut sind, damit Verständigung möglich ist? Wie würde das Heide verändern?
Das sind die Räume, die überall in unserem Land gebraucht werden. Von der Kirche, von der Diakonie, von so vielen anderen Aktiven.
Und dann kommen wir zusammen und wir sehen hinter die Mauern unsere Verschiedenheit und unserer Vorurteile. Und wir öffnen die Käfigtüren und erkennen, dass wir alle eins sind: Geschöpfe Gottes, geschaffen aus reiner und kompromissloser Liebe.
Kommen wir zum letzten Teil der biblischen Pfingstgeschichte: „Jetzt passiert, was der Prophet Joel gesagt hat: Gott sagt: In den letzten Tagen soll es geschehen. Ich will meinen Geist ausgießen. Eure Söhne und Töchter werden Propheten, Prophetinnen sein. Sie werden meinen Willen erkennen. Eure jungen Leute haben Visionen. Und eure Alten werden Träume haben. Ich werde meinen Geist ausgießen.“
Und wenn wir das heute für voll nehmen, liebe Pfingstgemeinde hier in Heide. Wenn wir für vollnehmen, was uns die Pfingstgeschichte erzählt, dann ist heute der Moment für zwei radikale Perspektivwechsel.
Der eine: Hin zu denen, die nach uns kommen. Hin zu unseren Kindern und Enkelkindern. Denn sie werden Propheten und Prophetinnen sein. Sie werden Gottes Willen erkennen. Unsere jungen Leute haben Visionen. Sie tragen ihre Träume in unsere Gesellschaft ein. Von Vielfalt, von Gleichberechtigung der Geschlechter, von einem Lebensstil, das nicht weiter Raubbau an der Erde betreibt. Sie lassen nicht zu, dass Regenbogenfahnen verbrannt werden und Menschen für ihren Einsatz für Demokratie und Vielfalt bedroht und verletzt werden. Wie gut, dass Sie zur Wiedereröffnung der St. Jürgen-Kirche auch einen neuen Kindergottesdienst beginnen und überhaupt eine Gemeinde auch für Kinder und Jugendliche sind!
Der andere Perspektivwechsel: Hin zu denen, die unsere Gesellschaft viele Jahrzehnte lang geprägt und gestaltet haben. Denn sie werden Träume haben. Träume davon, was gutes Leben ausmacht. Was zählt im Leben und wofür es sich einzusetzen lohnt. Weil sie aus dem schöpfen können, worauf sie zurückblicken können. Weil wir gut beraten sind, ihre Stimmen zu hören und aufzunehmen, was sie zu sagen haben.
Und dann, wenn wir uns so öffnen… Hin zu denen, die vor uns waren und zu denen, die nach uns kommen. Dann kann der Geist Gottes fließen. Dann kommen wir der großen Vision einer Gesellschaft, in der Alle gehört werden und Alle einen Platz haben, ein großes Stück näher. Dann wird Pfingsten greifbar und spürbar. Hier in Heide im Jahr 2024.
Amen.