Landesbischöfin Kristina Kühnbaum-Schmidt

Predigt im Gottesdienst am 3. September 2023 im Ratzeburger Dom

03. September 2023 von Kristina Kühnbaum-Schmidt

13. Sonntag nach Trinitatis, Predigttext zu Joh 10, 7-10

Jesus sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ich bin die Tür zu den Schafen. Alle, die vor mir gekommen sind, die sind Diebe und Räuber; aber die Schafe haben ihnen nicht gehorcht. Ich bin die Tür; wenn jemand durch mich hineingeht, wird er selig werden und wird ein und aus gehen und Weide finden. Ein Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und umzubringen. Ich bin gekommen, damit sie das Leben in Fülle haben und volle Genüge.“ (Joh 10,7-10)

Das Leben in Fülle!
Leben satt!
Ja, das wäre es -
aus dem Vollen schöpfen, ohne Bedenken,
ob man sich das erlauben kann,
ob es für alle reicht,
ob das nicht ein bisschen zu viel wäre.
All das einfach vergessen.
Weil für alle genug da ist - verschwenderisch viel.
Leben in Fülle - was für ein Versprechen!

Wer in den Sommer- und Herbstmonaten
durch den eigenen Garten schweift,
die Fülle an bunten Marktständen betrachtet
oder auf dem Weg hier nach Ratzeburg
durch Alleen mit Bäumen voller Obst fährt,
wird wohl unmittelbar in die Worte von einem Leben in Fülle einstimmen.
Ja, so vieles ist da, so vieles wird uns geschenkt,
so vieles können wir nutzen an guten Gaben der Natur,
die mit oder auch ohne unser Zutun
immer wieder und immer noch in Fülle da sind.
Da legt es sich nahe,
gerade in diesen Wochen bis zum Erntedankfest
insbesondere auf Gottes Schöpfung zu sehen,
für ihre Schönheit zu danken
und unsere menschliche Verantwortung
für einen achtsamen Umgang mit ihr zu bedenken.
„Schöpfungszeit“ heißen diese Woche
deshalb weltweit in vielen Kirchen der Ökumene.
Zurück geht das auf einen Vorschlag
des Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel, Dimitrios I.

„Damit ihr das Leben in Fülle habt“ -
das diesjährige Motto der Schöpfungszeit
stammt aus dem Johannesevangelium.
Leben in Fülle in einer Welt,
die dort mit dem griechischen Wort Kosmos (κόσμος) bezeichnet wird.
Und das bedeutet „der Schmuck, die Zierde“ -
die Welt als Gottes gute „geschmückte“ Schöpfung.
In ihr, so verspricht es Christus,
sollen alle voll genug zum Leben haben.


Alle - ja, wirklich alle,
alle Gotteskinder und Menschengeschwister auf dieser Erde.
Seine Worte machen deutlich:
es ist kein Exklusivversprechen,
das nur für reiche Länder gilt
oder nur für Menschen, die in der Lage sind,
gut für sich selbst zu sorgen.
Nein, dieses Versprechen soll für alle gelten -
die Fülle des Lebens ist sozusagen „all inclusive“ gemeint -
für alle inklusiv.

Leben die Fülle -
zu schön, um wahr zu sein,
werden viele Menschen auf unserer gemeinsamen Erde denken.
Denn von der Fülle des Lebens für alle
sind wir weit entfernt, weltweit,
aber auch hier bei uns,
in unserer unmittelbaren Nachbarschaft.
„Ab der Monatsmitte“,
erzählt mir eine alleinerziehende Mutter mit drei Kindern,
„muss ich sehen, wie wir zurecht kommen.
Da wird es eng.
Jeden Tag hoffe ich, dass die Kinder aus der Schule
keine Sonderwünsche mitbringen.
Im letzten Jahr haben wir monatelang gespart
auf einen Taschenrechner für den Großen.
Da war dann nichts anderes möglich -
kein Kino, kein Süßigkeitenextra beim Einkaufen.
Am Monatsende bin ich jedes Mal froh,
wenn wir es geschafft haben.“
Leben in Fülle?

„Wir haben das Wasser gesammelt,
in großen Tanks“,
erzählt die junge Frau aus Afrika.
„Und damit unsere Felder bewässert,
ganz sparsam, nur das nötigste.
Damit es auch für uns zum Trinken reicht.
Das ging einige Jahre ganz gut.
Aber jetzt sind die Tanks leer.
Es regnet seit Wochen nicht,
obwohl es schon lange wieder Regen geben müsste.
Die Felder sind verdorrt, unser Vieh stirbt.
Wir wissen nicht, wie es weitergehen soll.“
Leben in Fülle?

Ein Leben in Fülle ist beileibe nicht die Regel.
Vielmehr hören und wissen wir täglich von Mangel:
Mangel an Lebensmitteln und Wasser,
Mangel an Freiheit, Mangel an Zukunftsperspektiven,
Mangel an Frieden, Mangel an Klimaschutz -
alles Mangel, der das Leben bedroht.
Und all das hängt miteinander zusammen.
Wo der Klimawandel schon jetzt gravierende Folgen hat
wie Dürre und Hungersnot,
haben Menschen keine Perspektiven mehr zum Leben
für sich und ihre Kinder.
Sie gehen fort oder werden Teil von Konflikte
und kriegerischen Auseinandersetzungen
um kostbare Ressourcen wie Wasser und fruchtbares Land.
Die Folgen des Klimawandels wirken sich aus in Fluchtbewegungen.
Und wer unter lebendsbedrohlichem Mangel leidet,
sieht fassungslos auf die sorglose Verschwendung
der reichen Länder im globalen Norden.
Ein Drittel der Lebensmittel werfen wir in den Müll.
Flugreisen sind wieder beliebt und begehrt -
und das, obwohl doch wohl alle wissen können,
wie gravierend deren CO2-Ausstoß die Klimaerwärmung weiter befördert.
Was soll da die Rede von einem Leben in Fülle,
das Christus allen, wirklich allen, verspricht?
Das Versprechen, das Christus gibt,
steht in engem Zusammenhang mit einer Haltung,
einer Grundeinstellung zum Zusammenleben von Menschen.
Christus spricht von seiner Gemeinde
wie von einer Herde Schafe –
Tiere, die angewiesen sind auf Fürsorge und Schutz.
So, sagt er, so ist auch bei uns Menschen.
Wir können uns wie „gute Hirten“ verhalten –
oder wie Diebe und Räuber.
Wir können schützen:
achtsam sein im Umgang mit Erde, Natur, Ressourcen,
Lebewesen und Mitmenschen.
Nicht mehr nehmen, als wir wirklich brauchen.
Es einfach einmal genug sein lassen.
Der Wegwerfmentalität ein Ende bereiten -

und damit anderen neue Anfänge ermöglichen.
Mehr teilen und gemeinsam nutzen,
anstatt alles nur für sich allein zu besitzen.
Überlegen, was wir wirklich brauchen
und was unser Verbrauch für andere bedeutet.
Oder - das ist die Alternative, die Christus beschreibt -
wir leben wie Diebe und Räuber.
Nehmen mehr, als wir jemals bauchen können.
Beuten Natur und Mitgeschöpfe
aus.
Vergessen die Hilfe, die andere in unserer Nähe
und in der Ferne von uns brauchen.

Christus spricht uns auf unsere Grundhaltung an –
unsere Haltung zur Welt,
zu den Menschengeschwistern, zu denen in Not,
zu unseren Mitgeschöpfen,
zur geschaffenen Erde.
Welche Haltung haben wir?
Wie stellen wir uns zur Welt?

Und Christus selbst zeigt mit seinen Worten
wie mit seinem Leben,
woran wir uns orientieren können.
Er verbindet das Verletzte, speist
Hungrige,
schützt
Hilflose, stärkt und tröstet Verzweifelte und Traurige.
Christus zeigt, was auch in einer gefährdeten Welt
zu einem Leben in Fülle für alle beitragen kann:
dass wir in Beziehung leben.
In Beziehung zu ihm, seiner Liebe und Barmherzigkeit,
in Beziehung zu anderen Menschen,
in Beziehung zu Gottes Schöpfung.

Das ist Fülle, die aus dem Glauben erwächst:
Menschen Geschwister nennen auf der ganzen Welt.
Nicht allein sein, Not und Reichtum teilen.
Beziehung, Verbundenheit und Gemeinschaft
macht unser Leben lebenswert.
Wer geliebt ist, wer verbunden ist mit anderen,
wer schenkt und wer sich beschenken lässt,
der erlebt Lebensfü
lle!
In unserer Kirche gibt es viele Beispiele dafür.
Eines hat mich in den letzten Wochen besonders bewegt -
die Klimapartnerschaften, die Gemeinden hier bei uns im Norden
mit Gemeinden in unserer Partnerkirche in Tansania geschlossen haben.
Gemeinsam tauschen sie sich darüber aus,
was sie in ihrem jeweiligen Kontext
zur Bewahrung der Schöpfung und zur Begrenzung der Erderwärmung tun können.
Sie sprechen über die Auswirkungen des Klimawandels in ihrer Region.
Sie verstehen, wie die Entwicklungen bei uns und in Tansania
miteinander in Zusammenhang stehen.
Ganz konkret wird dabei,
was die Wissenschaft unter das Stichwort: „interconnectedness“ fasst:
Alles Leben auf unserem Planeten ist miteinander verbunden,
ist voneinander abhängig.
Und ebenso konkret suchen sie nach Wegen,
ihr und unser Leben so zu verändern,
dass Gottes Erde geschützt wird
und die Gaben seiner Schöpfung für alle reichen.

Christus spricht:
„Ich bin gekommen, damit sie das Leben in Fülle haben und volle Genüge."
Mo Menschen auf diese Worte vertrauen,
wo sie auf Gott als Schöpfer und Erhalter allen Lebens vertrauen,
und auf Christus, der mitten in Tod und Verzweiflung in ein neues Leben ruft,
setzen sie sich ein für gute Lebensbedingungen
für Tiere, Pflanzen und Menschen.
Sie wenden sich gegen Umweltzerstörung.
Sie suchen Wege,
um die Folgen der globalen Klimakatastrophe
so klein wie möglich zu halten.
Ich bin dankbar, dass es insbesondere junge Leute sind,
die sich hier engagieren.
Denn sie erinnern uns und sich selbst:
wir alle haben eine Verantwortung
für das Leben auf diesem Planeten, für Frieden und Gerechtigkeit.
Das Leben in Fülle, das Christus verspricht,
kann nur er schenken.
Aus der Hoffnung auf dieses Leben in Fülle
aber leben Christenmenschen.
Aus radikaler Hoffnung -
aus einer das Leben aus Gottes Hand von Grund auf bejahenden Hoffnung.


Wer so lebt,
wird frei zur Verantwortung an Gottes Seite -
für Andere, für die Nächsten, für die Mitgeschöpfe,
für unser Zusammenleben, für diese Welt.
Freiheit und Verantwortung,
die dem Leben mit anderen und der gesamten Schöpfung dienen.
Mögen wir dabei erfahren,
was der Dichter Uwe Kolbe in einem seiner Psalmen so beschreibt:

„Den Hoffenden führst du unter den offenen Himmel,
den Sehnenden stellst du vor die Weite der See,
und dem, der verloren war, gibst du dein Wort.“
[1]

Amen.

 

 


[1] Uwe Kolbe, Die Gnaden, in: ders., Psalmen, Frankfurt/M 2017.

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