1. Juni 2014 - „Umsturz. Martin Luther ausgelegt“
11. Juni 2014
Predigt in der Reihe „Umsturz. Martin Luther ausgelegt“
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus.
Liebe Gemeinde,
Postausgabe: Wir waren angetreten auf dem Flur der NVA-Baracke. Gespannte Erwartung, ob endlich der ersehnte Brief dabei sein würde. Gerade in dem halben Jahr nach der Volkskammerwahl 1981, bei der wir Bausoldaten das Regimentsergebnis ‚verdorben‘ hatten und zur Strafe nicht nach draußen kamen, waren Briefe lebenswichtig – Briefe von nachdenklichen, empfindsamen Menschen, Briefe, in denen es um Erkenntnis Gottes und der eigenen Existenz ging, Stimmen des Geistes und der Lebendigkeit in unserer Welt des Kommisstons und der sinnlosen Beschäftigung. Drei Monate lang Schrauben zählen . . . Da konnte ein guter Brief die ganze Woche retten.
Ich weiß nicht, wie der Augustinermönch Georg Spenlein seine Briefe erwartet hat. Auch liegt es mir fern, das Kloster Memmingen im Jahre 1516 in die Nähe einer NVA-Kaserne zu rücken. Und doch wird Luthers Brief Georg Spenlein gutgetan haben. In seinem Brief heißt es:
„Im Uebrigen möchte ich gerne wissen, wie es um deine Seele steht, ob sie einmal ihrer eigenen Gerechtigkeit satt habe, und in der Gerechtigkeit Christi fröhlich und getrost zu sein lerne. Denn heutzutage geht die Versuchung der Vermessenheit … stark um …, in sich selbst so lange Gutes zu thun suchen, bis sie Zuversicht gewinnen, vor Gott zu bestehen, … was doch unmöglich geschehen kann. …
Darum, mein lieber Bruder, lerne Christum und zwar den Gekreuzigten; lerne ihm lobsingen und an dir ganz verzweifeln, zu ihm aber sagen: Du, mein Herr Jesu, bist meine Gerechtigkeit … Solcher seiner Liebe denke nach, so wirst du seinen süßesten Trost sehen. Denn wenn wir durch eigene Mühen und Plagen zur Ruhe des Gewissens gelangen müssen, wozu ist er dann gestorben?Du wirst also nur in ihm durch getroste Verzweiflung an dir selbst und deinen Werken Frieden finden.… So nimm auch die unordentlichen und noch irrenden Brüder auf und trage sie mit Geduld, und mache aus ihren Sünden die deinen, und wenn du etwas Gutes hast, so laß es ihrer sein. …
Denn das ist eine unglückselige Gerechtigkeit, wenn man Andere mit sich vergleicht, … da man doch mit Geduld, Gebet und Beispiel ihnen gegenwärtig nützen sollte: das heißt das Pfund des Herrn vergraben, und den Mitknechten nicht ihren Theil geben. Wenn du nun eine Lilie und Rose Christi bist, so wisse, daß dein Wandel unter Dornen sein muß: siehe aber nur zu, daß nicht du durch Ungeduld und unbesonnenes Urtheil oder heimlichen Stolz ein Dorn werdest. Das Reich Christi ist mitten unter seinen Feinden, wie der Psalm sagt.“
Ein Brief, der fragt: ‚Wie steht es um Deine Seele?‘ Ein Brief, der Frieden verheißt durch ‚getroste Verzweiflung an sich selbst und den eigenen Werken‘. Ein frühreformatorisches Zeugnis, das schon viel weiß vom ‚fröhlichen Wechsel‘ zwischen Herr und Knecht, zwischen Christus und mir. Aber auch ein Beitrag zum Themenjahr ‚Reformation und Politik‘?
Auf den ersten Blick könnte man meinen: Christlicher Glaube, wie er uns hier begegnet, erschöpfe sich in Innerlichkeit; er habe keine Relevanz für das Politische. Auch der heutige Predigttext, wir haben ihn als Epistel gehört, wirkt ja zunächst einmal ganz nach innen gerichtet:
„Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich's gebührt; sondern der Geist selbst vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen. Der aber die Herzen erforscht, der weiß, worauf der Sinn des Geistes gerichtet ist; denn er vertritt die Heiligen, wie es Gott gefällt . . .“ (Röm 8,26f)
Schwestern und Brüder, wollten wir die Schrift, wollten wir Luther beschränkt auf Innerlichkeit lesen – unser Glaube wäre ein Pappschwert im Regen der Wirklichkeit. Oder, um es mit Max Scheler zu sagen:
„In den unsagbaren Tiefen der reinen Innerlichkeit wird der Geist, werden die Ideen, werden Taten und Gesinnung, werden Schönheitssinn und Religion – wird selbst Christus schlechthin harmlos, verantwortungslos, bedeutungslos; und je mehr sie dieses werden, desto hemmungsloser können Herrschsucht, Klassenegoismus, ideenlose Beamtenroutine, Militärdressur usw. sich auswirken.“
Doch so zeigt sich nur missbrauchter, entstellter Glaube. Ich bin überzeugt: Der christliche Glaube im Sinne der Schrift hat auf Grund seiner befreienden, emanzipatorischen Kraft politische Bedeutung, gelegentlich sogar politische Brisanz. Zugleich weiß er, dass christlicher Glaube sich nicht im Politischen erschöpft.
Für Menschen, die wie ich einen Teil ihres Lebens in der DDR verbracht haben, ist das Teil unserer Lebenserfahrung: Damals versuchte das Regime, Kirche und Glaube in den Raum des Privaten abzudrängen, auf den Bereich der Innerlichkeit einzugrenzen – teilweise mit Erfolg. Doch an vielen Stellen war es erstaunlich, wie unmittelbar politisch es war, nach Gott zu suchen, die Wahrheit zu sagen, Bäume zu pflanzen, für den Frieden zu beten.
Was alles politisch verstanden wurde, ist mir auch deutlich geworden, als ich später meine Stasiakte las. Da gab es neben den Berichten und operativen Maßnahmen viele Briefe aus meiner Bausoldatenzeit, die die Mitarbeiter der Stasi kopiert und archiviert hatten. In einem Brief einer Freundin findet sich u. a. diese, von der Stasi angestrichene Passage:
„Lieber Andreas, Du schreibst genau über das, was mich gerade bewegt. Komisch, auch wenn Du durch andere Ereignisse zu diesen Erkenntnissen gestoßen bist. Am schönsten war der Satz: ‚Man ist frei, wirklich frei, wenn man die vielen Abhängigkeiten, die einem auf mancherlei Weise eingeredet werden, zu durchbrechen wagt, auch auf die Gefahr hin, allein damit zu stehen. ‘ “
Nun ja, nach meinem Empfinden gibt es durchaus Sätze, die revolutionärer sind. Doch die Stasimitarbeiterin notiert zur Auswertung: „Brief der Freundin des v. M. … vom 19.07.81 ist zur ‚Freiheits-Problematik‘ gesellschaftlich bedeutsam. Aus dem Text können Schlussfolgerungen auf die politische Einstellung beider gezogen werden.“ Ein Satz zur Freiheit des Einzelnen – „gesellschaftlich bedeutsam“! Kein Wunder, dass die Stasi an ihrer Sammelwut erstickt ist!
Und doch: Die befreiende Kraft des Glaubens hat etwas eminent Politisches. Wo Menschen ausziehen aus der Angst, wo sie das klebrige Spinnennetz aus Halbwahrheit und Lüge abzustreifen beginnen, wo sie ein Leben in Freiheit einüben, da kommt das verändernde Potential des Vertrauens auf Gott zum Tragen – menschlich wie gesellschaftlich.
Dieses Potential begegnet mir auch im heutigen Predigttext. Da heißt es: „Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen . . .“. Ich kann diesen Gedanken des Paulus nicht mehr lesen, ohne dass zugleich Bonhoeffers ‚Glaubenssätze über das Walten Gottes in der Geschichte‘ mitschwingen:
„Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht es Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen. Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein. …“
Wie befreiend ist solches Denken unter den Verhältnissen von Diktaturen! Wie befreiend genauso aber auch in einer Demokratie, die immer marktförmiger zu werden droht! Nein, das kritische Potential des Glaubens war nicht die exotische Sondererfahrung von Christen zu DDR-Zeiten – und nun, in der freien Welt des Kapitalismus konzentriere sich Kirche mal schön wieder auf ihre ‚Kernaufgaben‘. Das könnte manchen so passen . . .
Auszug aus der Angst! Wie schön und wie schwer ist das! Es kann gelingen, wenn Menschen im Glauben lernen, sich zu verlassen – sich zu verlassen auf den Christus hin. ‚Darum, lieber Bruder, (liebe Schwester), lerne Christum und zwar den Gekreuzigten; … (lerne), in der Gerechtigkeit Christi fröhlich und getrost zu sein . . . Deine Beziehung zu Christus ist alles andere als harmlos oder bedeutungslos. Sie begabt dich mit Freiheit und Verantwortung. Wenn die Angst in dir nicht mehr das letzte Wort behalten kann, gebrauche deine Freiheit! Die Verhältnisse müssen nicht bleiben, wie sie sind. Ja, sie dürfen nicht bleiben, wie sie sind!
Wenn unser Bildungssystem frühe Verlierer hervorbringt und bildungsferne Milieus verstetigt, dann gut so, wenn du eine Schule gründest, die anders ist! Gut so, wenn du dich für eine veränderte Bildungslandschaft einsetzt! Dein Glaube treibt dich dazu an.
Wenn Lobbyisten die Energiewende aufweichen und entschärfen wollen – gut so, wenn du auf die Straße gehst oder in einer Partei dagegen angehst. Dein Glaube stärkt dir dabei den Rücken.
Wenn ungerechte Handelsstrukturen weltweit verheerende Armut, Hunger und Tod zur Folge haben – gut so, wenn du fair einkaufst oder dich entwicklungspolitisch engagierst. Dein Glaube gibt dir die Freiheit und den langen Atem dazu.
Wenn Flüchtlingsfamilien seit Jahren bei uns leben, ihre Kinder hier geboren sind und zur Schule gehen, aber nun sollen sie abgeschoben werden – gut so, wenn du ihnen hilfst, notfalls auch mit Kirchenasyl! Gott hat dir geboten, die ‚Fremden‘ zu lieben.
Ich weiß, es ist manchmal überaus mühsam, Veränderungen zu bewirken. Gelegentlich möchte man den Weg zu besseren Verhältnissen abkürzen – egal mit welchen Mitteln. Und doch hat Luther Recht, wenn er ‚blumig‘, aber dennoch treffend seinem Bruder Spenlein schreibt:
„Wenn du nun eine Lilie und Rose Christi bist, so wisse, daß dein Wandel unter Dornen sein muß: siehe aber nur zu, daß nicht du . . . ein Dorn werdest. Das Reich Christi ist mitten unter seinen Feinden . . .“
„Sieh zu, dass du kein Dorn werdest“ – für mich klingt hier die alte Thematik des Zusammenhangs von Ziel und Mitteln an, die uns in der Friedensdiskussion so intensiv beschäftigt hat: Kann man mit zweifelhaften Mitteln Gutes erreichen? Oder bestimmt der Einsatz problematischer Mittel nicht das Resultat entscheidend mit? Können wir bspw. verantworten, dass die Bundeswehr auch im Ausland eingesetzt werden kann, um wirtschaftliche Interessen zu sichern? So ist es in ihrer sicherheitspolitischen Doktrin verankert. Können wir es verantworten, waffenfähige Drohnen zu kaufen bzw. zu produzieren?
„Wenn du nun eine Lilie und Rose Christi bist, … sieh zu, dass du kein Dorn werdest‘: Es ist doch grotesk, dass der NATO-Generalsekretär Rasmussen die Mitgliedsländer angesichts der Ukraine-Krise zu stärkeren Rüstungsanstrengungen auffordert – als würden wir im Ernst militärische Maßnahmen gegen Russland ergreifen, wenn wir bessere Jets und Panzer hätten! Eines der Haupt-Probleme in der Ukraine ist doch die Schwäche der Zivilgesellschaft – nicht aber der Mangel an militärischer Wehrhaftigkeit! Soziale Verteidigung wäre angesagt.
„Sieh zu, dass du kein Dorn werdest . . . Das Reich Gottes ist mitten unter seinen Feinden“. Vermutlich gingen Luther meine Konkretionen zu weit. Und doch: Er selbst hat die emanzipatorische Dimension des christlichen Glaubens wiederentdeckt. Im Priestertum aller Glaubenden ist sie angelegt und ist in unserer Zeit auch auf die politische Verantwortung jedes Christenmenschen zu beziehen. Es ist möglich, seine Lebensangst durch das Vertrauen auf den Christus in die Schranken zu weisen. Uns vertritt der Geist! Uns vertritt der Christus! Wir sind so frei. Die Verhältnisse müssen nicht bleiben, wie sie sind. Im Vertrauen auf den Christus liegt verändernde Kraft, die sich nicht abfindet mit dem, was ist. Oder wie Luther selbst es in einer Auslegung zur Geschichte von der Sturmstillung gesagt hat:
„Nicht obwohl Jesus im Schiff ist, geht es dennoch in den Sturm . . . es gilt sogar: weil Christus im Schiff ist, geht es in den Sturm! Diese Historie lasst uns ja wohl merken und ein Sprichwort daraus machen, dass wir sagen: So geht’s, kommt Christus in das Schiff, so wird’s nicht lange still bleiben. Es wird ein Wetter und Ungestüm kommen.“
Amen.
Und der Friede Gottes . . .