12. Februar 2012 - Predigt zu 2. Kor. 12,1-10
12. Januar 2012
Liebe Gemeinde! I „Bescheidenheit ist eine Zier“, weiß der Volksmund. Und er ergänzt, scheinbar befreiend: „doch besser geht es ohne ihr...“ – Ja, wir mögen es, wenn man uns lobt und wenn man uns rühmt. Das motiviert. Das lässt uns über uns hinauswachsen, von Kindesbeinen an. „Gerühmt muss werden“, sagt Paulus in unserem Predigttext. Und weiß doch zugleich: es ist zu nichts nütze. Er weiß: alles, was ich geleistet habe, was ich vollbracht habe als Apostel, ist erkämpft. Alles aber, was ich bin, verdanke ich nicht mir selbst, sondern meinem Gott, der sich mir in Gnade zugewendet hat. Und doch: gerühmt muß werden!
Worum geht es? – Der Apostel Paulus hatte die christliche Gemeinde in Korinth ins Leben gerufen. Fast zwei Jahre Enttäuschungen, Mühsal und Arbeit hatte ihn das gekostet. Er hatte sie für stabil gehalten, er hatte das Gefühl, dass die Christen auch ohne seine ständige Anwesenheit ihren Glauben an Jesus Christus leben können. So war er weitergereist auf seiner Missionsreise rund um das östliche Mittelmeer. Aber dann gab es Ärger. Es gab Streit in der Gemeinde, Streit um einzelne Fragen, wie sich Christen verhalten sollen, was sie glauben sollen. Besonders schlimm wurde es, als Wanderprediger in die Gemeinde kamen, die ganz anders waren als Paulus, auch ganz anders und vor allem Anderes lehrten. Die geschickt auszunutzen verstanden seine Abwesenheit und die Unsicherheit der Menschen. Die ihnen Honig ums Maul schmierten und Heilsversprechungen machten: wenn ihr uns folgt, geht’s euch gut. – Kurzlebiges Heil!
Sie hatten bald ihre Anhänger, spalteten die Gemeinde. Und schnell galt Paulus nichts mehr. Die neuen waren bessere Prediger als Paulus, sie konnten die Leute begeistern und mitreißen. Sie vollbrachten besondere Taten. Sie redeten von ihren ganz besonderen Glaubenserfahrungen. Rühmenswerte Leute.
Was Paulus über sie und die Gemeinde zu hören bekam, hat ihn tief getroffen. Für ihn steht nun alles auf dem Spiel: nicht nur seine persönliche Ehre als Apostel, sondern die frohe Botschaft selbst, die er empfangen und weitergegeben hatte. Und die Gegner haben unter die Gürtellinie gezielt: schwach haben sie ihn genannt, eine jämmerliche Figur. Paulus setzt zum Gegenangriff an:
„Darum will ich mich am allerliebsten meiner Schwachheit rühmen, damit die Gnade Christi in mir wohne!“
II
Paulus rühmt sich. Aber merkwürdig: er zählt nicht auf, wie viele Reisen er gemacht hat, wie viele Kilometer er zurückgelegt hat, oft zu Fuß; wie viele Gemeinden er gegründet hat. Er zählt nur auf, was er auf diesen Reisen alles erlitten hat, welche Strafe er erleiden musste, wie oft er in Lebensgefahr war und was ihm sonst das Leben schwer gemacht hat. Er rühmt sich für alles, was er erlitten hat im Dienst für seinen Gott. Er hat sich aufgelehnt gegen Krankheit und Schmerz. Aber Gott hat ihm offenbart: Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig! Nimm an, was Gott dir gibt!
Und dann erzählt er diese merkwürdige Geschichte von dem Menschen, der in den dritten Himmel entrückt worden war, der im Paradies war und dort unaussprechliche Worte gehört hatte. Auch wenn er das scheinbar verdecken will: hier redet Paulus von sich selbst. Ja, auch er ist Gott begegnet. Aber schmerzhaft war das. Immer ein Kampf.
„Für denselben will ich mich rühmen; für mich selbst aber will ich mich nicht rühmen, außer meiner Schwachheit!“ Seltsamer Ruhm, das! Und er erzählt von einem Pfahl im Fleisch, den Gott ihm eingegeben hat – eine Krankheit vielleicht, ein Leiden, das ihn immer wieder an seine Grenze bringt. „Satans Engel“ nennt Paulus das, was ihm immer wieder Schmerzen zumutet. Wahrscheinlich hat ihn das oft genug behindert bei der Arbeit, in der Verkündigung, bei der Begegnung mit Menschen. Paulus erzählt, wie schwer er es hatte, prahlt nicht mit besonderen Gotteserfahrungen. Er hat nur diese besondere Geschichte zu bieten. Das ist nichts im Vergleich zu den anderen. So ist er nun einmal: kein besonderer Prediger, kein Wundertäter. Ganz anders als jene, denen die in Korinth jetzt nachlaufen.
Paulus hat Gott so vernommen, überraschend, befreiend wohl auch: „Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ Deshalb rühmt er sich seiner Schwächen: „Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, damit die Kraft Christi in mir wohne.“
Ein Spitzensatz des Glaubens ist dies, liebe Gemeinde. Was wir sind, was wir haben, das sind und haben wir, weil Gott es in uns legt. Das ist ein anderes „Ranking“ oder „Rating“, als die Welt es kennt: nicht sind wir etwas, wenn wir es uns erarbeiten oder erkaufen oder erdienen. Wir sind schon wertvoll, bevor dies alles geschieht und auch, wenn es gar nicht geschieht. Weil Gott will, dass wir leben – mit unseren Stärken, mit unseren Schwächen. Paulus dreht die Werte der Welt um: was stark ist in der Welt, ist nicht schon stark vor Gott; was schwach ist, bleibt nicht schwach in Gottes Augen.
Bei aller Ermutigung: macht Paulus sich und uns nicht etwas vor? Ist das schon die Lösung, das Schwache einfach zur eigentlichen Stärke zu erheben?
III
Wir erleben: die Genügsamen ziehen oft den Kürzeren. Gnade für das Schwache gibt es kaum. Wer stark ist, erreicht etwas, zählt etwas. Überall erleben Menschen das: in Schule, Familie, Beruf. Die eigene Schwachheit anzusehen, zu ihr zu stehen – das gelingt nur schwer. Wer will schon als „looser“ dastehen?
Aber wer immer stark sein muss, gut, der Beste, der Mächtigste: dem geht leicht verloren das Wissen um die eigene Grenze. Und dann ist die Begegnung mit der eigenen Schwachheit umso schmerzhafter.
Man kann den Paulus–Satz vielleicht einfach umdrehen: wenn ich immer stark sein muss, werde ich schwach! Ich werde schwach: anfällig für die Mächte und Versuchungen. Im Bauen auf die eigene Macht liegt eine hohe Verführung. Wer sich für stark hält, dem gehen leicht die Relationen verloren. Der weiß nicht mehr zu unterscheiden Recht und Unrecht, Gut und Böse...Ich denke, das ist auch ein Hintergrund für die vielfältigen Affären, die dieses Land seit Wochen beschäftigen: wer sich immer für stark hält und wer immer seiner Stärke gerühmt worden ist, dem verwischen die Grenzen etwa von Amt und Person, von Politischem und Privatem... Und als Kehrseite derselben Medaille erleben jene, die bei Schwächen ertappt worden sind, eine gnadenlose Abrechnung in der Öffentlichkeit!
Wer aber immer stark sein muss, niemanden enttäuschen darf, der ist nicht nur den eigenen Schwächen fern, sondern auch den Schwachen!
„Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig“ – das hatte Paulus erfahren. Bei allem Ärger: das hat ihn froh und lebensgewiss gemacht. Paulus spielt nicht den Starken: er steht zu seiner Schwäche, nimmt sie an, als Teil von sich, seinem Leben. Ringt mit ihr. Und mit Gott. Er bittet, er betet, er fleht. Und er erfährt: in allem Leid und in aller Schwachheit hat Gott etwas vor mit ihm. Da ist Gott nicht fern, sondern mitten drin. Gott will ihn brauchen. Durch ihn, den schwachen Menschen hindurch wirkt der große, starke, mächtige Gott. Was er redet, kommt an, bewegt die Menschen. Nicht wegen seiner Redekunst, sondern weil es Gottes Wort ist, das aus ihm redet. Diesen Gott rühmt Paulus, wenn er von seiner Schwachheit redet. Paulus setzt sich auseinander, verdrängt nicht. Er ergibt sich nicht. Er ringt, kämpft. Und wächst daran, gewinnt an Überzeugungskraft! So erlebt Paulus an sich, wie Gott ihm nahe kommt, gerade, wenn er schwach ist. Gott, der von Anfang allen Lebens an sagt: siehe, es ist sehr gut! – Das gilt für dich, für mich. Nein, sagt Paulus, das ist keine Torheit. Das ist vielleicht fremd in der Welt. Aber nicht töricht. Ist das nicht auch die Botschaft, die über dem Kreuz steht? In den Augen der Menschen war Jesus ein Verlierer. Nichts war zu sehen von seiner Stärke. Nicht war zu merken, dass Gott hinter ihm steht. Schwach und hilflos starb er am Kreuz. Und doch hat er gerade mit seinem Tod und seiner Auferstehung die Welt gründlich verändert.
An ihm erleben die Menschen heilsam: wir haben einen Gott, der nicht fern ist den Schwachen, der selbst herunter gekommen ist zu denen, die am Ende waren: sie hat er aufgerichtet mit seiner Kraft, mit seiner Zuwendung, seiner Nähe. Selbst dann noch, wenn der Tod zugemutet war und nichts in Sicht, was das Leben wieder hell machen könnte. Er hat nicht geleugnet die Realität von Tod und Ende. Aber ist Wege gegangen durch Zweifel und Leid hindurch. Jesus weiß: Leben kann aus der Bahn geworfen werden durch Leid und Tod, Krankheit, Trennung und Verlassenheit, durch Schuld; Leben kann in den Grundfesten erschüttert werden. Dann fragen wir nach Halt und Orientierung, nach Kraft, die mehr ist als unsere: „Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt!“ – so verheißt Jesus den Seinen! Und die Schwächsten hat er gerufen, mit ihm zu gehen, ihm nahe zu sein. Die Unaussprechlichen hat er besucht, mit ihnen zu speisen. Und hat sie so zurück geholt in die Mitte. Wo er die Kinder hingestellt hatte. Die also, die noch nichts geleistet, gezeigt oder vollbracht haben. Und die doch ganz und gar vollständige Geschöpfe, geliebte Wesen sind.
IV
„Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“ – kein leerer Satz ist das. Er will ermutigen, aufrichten, ausrichten auf die einzige Kraftquelle, die wirklich zählt: „Lass dir an meiner Gnade genügen!“
Wie gut tut das, wenn einer mit uns geht in der Trauer, im Leid, im Schmerz. Mit uns aushält das Leiden und die Ratlosigkeit und die Schwachheit. Uns annimmt mit unserer Schwäche! Mit uns geht durch Anfechtung und Zweifel. Dann werden oft neue, ungeahnte Kräfte entdeckt. Das meint das alte Wort „Gnade“. Das ist alles das, was wir selbst uns nicht herstellen, garantieren können. Was wir aber auch nicht selbst machen müssen. Niemand muss mehr können, als er kann. Fang an mit dem, was dir gegeben ist! Und dazu gehört vor allem Gottes Wort, das er uns gibt als Leuchte für unsere Füße, als Licht auf unseren Wegen, wie der heutige Psalm es ausdrückt. Sein Wort ist Gnade und Geschenk: sein Gesetz, das orientiert, sein Evangelium, das Vergebung verheißt und Fülle; das quer steht zu den Botschaften dieser Welt, das frei macht und das Quelle aller Kraft sein will: seid getrost und fürchtet euch nicht!
Wir sind groß und geübt darin, die Leistungen anderer und auch die eigene zu beurteilen nach dem, was alles noch fehlt, nicht gelingt, besser sein könnte. Wir können uns wunderbar empören über Dinge, die wir über andere hören und den Kopf schütteln über das Versagen der Starken. Drehen wir das mal um: setzen wir mal auf Anerkennung dessen, was da ist. Und staunen wir zuerst über die Fülle der Möglichkeiten und der Taten, die gelingen. Ist es nicht so: ein Lob baut auf, verleiht Kräfte, macht Mut – auch an dem zu arbeiten, was nicht ansehnlich ist.
Wie wäre es, wenn man das Prinzip im Wahlkampf z. B. mal anwenden würde: nicht reflexartig den Gegner verteufeln, niedermachen, bloßstellen. Sondern würdigen, was er zu sagen hat und was er einzubringen bereit ist?! Nicht also danach zu suchen, wo der andere seine Schwächen hat, sondern wo er stark ist – womöglich stärker als ich? Wie wäre es, wenn man den Gegner nicht schmäht, sondern rühmt? Wären dann nicht viel mehr Türen offen, zu wirklich neuen Ideen zu kommen?
„Gerühmt muss werden!“
Das Schwache, liebe Gemeinde: es gehört nicht an den Rand. Es gehört in die Mitte. So ist es bei Jesus. Und so soll es sein bei uns. Die Stärke einer Gesellschaft entscheidet sich nicht an der Zahl der Starken, sondern an ihrer Schwäche für die Schwachen.
„Wenn ich schwach bin, bin ich stark“ – ein Satz, der den Glauben braucht, das Vertrauen, dass Gott es ist, der in uns seine Kraft der Liebe entfalten will. Wir dürfen der Verheißung glauben und trauen, dass da einer ist, der noch Kraft hat, wenn unsere am Ende ist; der Atem hat, wenn uns die Luft wegbleibt; der Wege weiß, wenn wir am Ende sind.
Ich wünsche uns, dass wir nicht aufgeben die Torheit, uns unserer Schwachheit zu rühmen – ganz unbescheiden. „...meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Darum will ich mich am liebsten meiner Schwachheit rühmen, damit die Kraft Christi bei mir wohne“!
Amen.