15. Januar 2013 - Vortrag innerhalb der Vortragsreihe: „Religion in Bewegung, Bewegung durch Religion“
15. Januar 2013
„Mit Verstand Herzenssprache üben: Herausforderungen für das leitende geistliche Amt in der Gegenwart“
Vielen Dank, lieber Wolfgang Lück, für die freundliche Einführung und die herzliche Aufnahme hier in Darmstadt. Dass sich so alte Verbindungen, wie wir sie in der Akademie für Erwachsenenbildung geknüpft haben, durch so eine Begegnung noch einmal neu zeigen, dass auch deutlich wird, wie sich bei uns selbst über die Jahrzehnte hin so vieles bewegt hat, innerlich wie äußerlich, das ist schon ein erster Hinweis auf das übergeordnete Thema der Vortragsreihe. Und so stehe ich also hier, bewegt durch Religion – immer schon und, nun gut, irgendwie ja auch hin zu dem Amt als Bischöfin, vor allem aber bewegt hin zu den vielen unterschiedlichen Menschen meines Sprengels und der Nordkirche, denen existentielle Fragen auf den Nägeln brennen. Und ich stehe hier wie dort und erlebe hautnah, wie sehr Menschen innerlich durch Religion, genauer: durch eine religiös feinsinnige Sprache bewegt werden und wie dadurch auch die Religion selbst im Innersten in Bewegung gerät.
So freue ich mich, darüber heute Abend mit Ihnen ins Gespräch zu kommen und mit Ihnen in einen Prozess der Reflexion einzusteigen: Nämlich über die Beobachtungen der Relevanz religiöser Sprache heute und der daraus resultierenden Aufgabe des geistlich-leitenden Amtes in der evangelischen Kirche. Dies – ich denke, das ist uns allen klar – mit dem Mut zur Lücke auf einige Aspekte reduziert.
Doch zunächst, meine sehr geehrten Damen und Herren, ein segensreiches, friedvolles und frohsinniges neues Jahr. Das ist das Wichtigste vor allem anderen: Segen, den ich Ihnen von Herzen wünsche. Segen, der auch schon den ersten Akzent im Thema „Mit Verstand Herzenssprache üben“ setzt. Denn das ist meine erste Beobachtung: Ob in einem Silvestergottesdienst, in den 1000 Menschen mit Pauken und Trompeten diesen Segen in sich hineinlachen wollen, ob in einer Mitternachtsmette im Michel, die mit fast 4000 Menschen kaum noch Raum lässt, sich äußerlich zu bewegen, ob in einer kleinen Kapelle, in der in ehrfürchtiger Stille eine Gruppe von Reisenden Lichter anzünden für die, die sie lieben – es lässt sich in unserer Gesellschaft ein zunehmendes Sehnen beobachten nach Segen. Nach Bewahrung, einem heiligen Raum, der einen schützt. Nach einem Raum der Unantastbarkeit, der Freiheit atmet. Es gibt ein Sehnen nach Segen im Sinne von Klarheit, Wahrheit, Trost, Licht, Liebeswort. Und das ist wohlgemerkt etwas anderes als das, was man gemeinhin Werte nennt. Beispielsweise hören Sie in Hamburg allerorten von der Ethik des ehrbaren Kaufmanns, der von Werten redet, sich ihnen irgendwie auch verpflichtet weiß, aber interessanter weise nicht einordnen kann, was sie wirklich für das persönliche Leben und Handeln bedeuten. Die Wertedebatte hat eine eigentümliche Diffusion behalten. So ist es wohl kein Zufall, dass ich noch und noch als Repräsentantin der Werteinstanz Kirche eingeladen werde, um „Durchsagen zu machen“. Um beispielsweise im Landesverband der CDU einen Vortrag zu halten über das christliche Menschenbild. Weil man sich wohlweislich wieder neu oder überhaupt das erste Mal mit dem `C´ der Partei auseinander setzen will. Ähnlich die Anfrage – ich konkretisiere dies mit einer kleinen Zusammenstellung aus dem bischöflichen Terminkalender – von Frauen im Management von der Handelskammer, dem Wirtschaftrat, dem hoch renommierten Übersee-Club, von dem Freundeskreis der Psychiatrie Ochsenzoll zum Thema „Einsamkeit“, von Hospizen, konfessionellen Krankenhäusern, Johannitern, dem Runden Tisch zum Thema Rechtsextremismus, von Angehörigen von Suizidopfern sowie mit dem Weißen Ring das Gedenken für Kriminalitätsopfer.
Und wenn man dann (nach einem Vortrag wie diesem) ins Gespräch kommt darüber, was einem denn persönlich wert ist – oder theologisch ausgedrückt: was einem „heilig“ ist –, wenn man dann vom kranken Kind hört, von Geschäftssorgen oder von der dementen Mutter, dann wird mir deutlich: allerorten ist ein hohes Bedürfnis zu spüren nach einer feinsinnigen Sprache, die versteht. Eine Sprache, die seelsorgerliche Nähe schafft. Weil sie sich um Deutung all der existentiellen Fragen bemüht, die durch Unfall, Krankheit, Friedenssehnsucht, Liebesdurst hochgerissen sind und unverstanden auf der Seele liegen. Es gibt ein Bedürfnis nach einer Sprache, die von einer anderen Wirklichkeit weiß, die größer und weiter ist als die erlebte Realität. Nach einer Sprache auch, die größer ist als die Vernunft. Eine Sprache auch, die die wenigsten noch zur Verfügung haben. Sie ahnen: ihnen geht es ums Eigentliche. Doch man hat vergessen, was das genau war. Säkularisierung – durch Vergessen. Durch unklare Begriffe. Durch die Ratlosigkeit, was der Christenmensch heute eigentlich – noch – glaubt.
Ich leite daraus ein entscheidendes Prinzip geistlicher Leitung ab: Präsenz. Und das bedeutet eben, nicht nur anwesend zu sein, sondern da. Mit der Würde des Amtes, (ich habe mit einer gewissen Überraschung auch bei mir selbst festgestellt, wie wichtig das ist), vor allem aber mit des Geistes Gegenwart. Und das wiederum bedeutet: Zur Präsenz gehört Präzision. Beim Hinhören. Verstehen. Resonanz geben. Predigen. Verändern. Die Leitungsrolle fordert vor allem dies ab: klar zu sein. Sich theologisch, in pastoraler Existenz öffentlich zu erkennen zu geben. Präzise zu beschreiben, was man sieht. Was stört. Und sich anfragen zu lassen durch das, was die anderen sehen.
Und nun, was ist denn präzise zu beobachten, wahrzunehmen, und welche Herausforderungen an das leitende geistliche Amt resultieren daraus? Ich möchte dies nach der eben erfolgten Ouvertüre, die all die Themen schon hat anklingen lassen, in vier Kapiteln – Interventionen der Präsenz genannt – vertiefen. Dabei sind die ersten beiden Interventionen der Präsenz eher „nach außen“, die letzten beiden „nach innen“ gerichtet.
1. Intervention: Dem Volk aufs Maul schauen, heißt: Herzen hören
Dazu eine kleine Episode aus dem Alltag:
„Was mir heilig ist?“, philosophiert mein Tischnachbar muslimischen Glaubens. „Heilig ist die Liebe“. Liebe ist von Gott und also viel größer, als der Mensch denken kann. Deshalb liebt der Mensch, wenn er wirklich liebt, immer über sich selbst hinaus. Und so ereignet sich Allah in der Mitmenschlichkeit.“ Viele solcher wunderbaren Gedanken fliegen an diesem Mittag über den Tisch. An ihm sitzen Frauen und Männer muslimischen, syrisch-orthodoxen, alevitischen, katholischen, gar keines Glaubens. Geschäftsleute meistenteils, Imame darunter, viele aus der Türkei – und eine Evangelische, ich. Eingeladen vom Hamburger Senat waren wir auf den Weg geschickt, europäische Politik in direkter Anschauung kennen zu lernen. Heraus kam eine Weggemeinschaft, die viel mehr teilte als eine Strecke: wir erzählten von uns. Davon, was wir glauben. Was wir nicht glauben. Was uns trägt und was uns verzweifeln lässt. Was uns wert, heilig ist.
Mir ist damals bewusst geworden, wie selten solch (inter-)religiöse Gespräche gelingen. Denn unglücklicherweise fehlen nicht nur uns Christen zunächst die Worte. Wir wissen gar nicht mehr, was wir sagen können. Dennoch: Seit diesem Mittagslunch in Berlin habe ich Menschen begonnen zu fragen, was ihnen selbst denn wert, heilig ist. Und ich bin beeindruckt, was sie mir nach anfänglichem Zögern erzählen. Ich höre, dass wir wieder Mitgefühl einüben, mit Schuld offen umgehen sollten. Ich höre, dass Nächstenliebe das wichtigste ist und dass wir etwas tun sollten gegen Armut und Bildungsnot. Ich höre von der Suche nach Gemeinschaft und Wahrhaftigkeit. Ich höre die bange Frage danach, wie es denn ist beim und nach dem Sterben. Und ich höre ganz oft, gerade von manch erfolgreichem Manager und Geschäftsmann die pragmatische Ansage: Was brauchen Sie? Welche Arbeit in Ihrer Kirche kann ich unterstützen?
Ich als Christin höre in all dem die Sprache des Evangeliums – und damit die Wertschätzung des Lebens schlechthin. Und ich höre Jesus, der die Menschen erreicht hat – nicht mit formelgetränkten Zeremonien, sondern mit der Sprache des Herzens, die berührt. Und ich glaube, hierin liegt ein Schlüssel für das, was vielerorts als wieder erwachte Suche nach Religion beschrieben wird. Es ist eine Ahnung der religiös scheinbar Unmusikalischen, wie sehr es zur Identität verhilft, wenn wir berührbar bleiben für das, was innerlich anklingt. Wenn die Seele schwingt. Sei es durch Glück oder Schmerz. Dass es dafür einer Sprache des Herzens bedarf, die nicht unter dem Verdacht steht, man habe zuvor seinen Verstand an der Garderobe abgegeben. Ich spüre deutlich die Suche nach einer Sprache, die deuten kann, was der Mensch erlebt, mitunter erleben muss, und allzu oft nicht versteht. Eine Sprache auch, die klar markiert, – und hier öffnet sich der politische Horizont – was nicht mit der christlichen Botschaft vereinbar ist. Etwa jene allerorten zu beobachtende Abwertung von Herzensnähe – ihrer ist zu wehren. Jene abschätzige Rede vom „Gutmenschen“ zum Beispiel, die meint: Einer, der`s gut meint und schlecht macht, sich aber trotzdem grandios fühlt. Weil er so naiv ist. Fromm, aber weltfremd. Dem Bösen, der Realität nicht gewachsen. Ehrlich, aber dumm. Barmherzig aber doof.
Mich amüsiert das nicht mehr. Wir müssen uns ernsthaft damit auseinander setzen, dass in unserer Gesellschaft christliche oder genauer: dass religiöse Inhalte immer skeptischer angesehen, ja aggressiv attackiert werden. In Internetforen, die vor Intoleranz nur so beben. Und die nehmen zu statt ab. Mit samt einer hohen – zumindest verbalen – Gewaltbereitschaft, die jegliche Grundlagen nicht nur unserer Religion(en), sondern auch unserer Demokratie entwertet. Demgegenüber, davon bin ich überzeugt, müssen alle miteinander, nicht allein Leitende und Bischöfinnen, sich ein Herz und in Sprache fassen, dass sie und wie teuer sie uns sind, die Religion ebenso wie die Demokratie. Alle sind herausgefordert in dieser Zeit zunehmender Radikalismen und fundamentalistischer Strömungen, vernehmbar davon zu reden, was wir glauben, was wir lieben und dass wir hoffen. In aller Differenz dennoch mit gemeinsamer Kraft. Dies zu fördern, in ganz unterschiedlicher Art, fühle ich mich in dem leitenden Amt verantwortlich. Damit den Spaltungen in unserer Gesellschaft bewusst entgegen getreten wird.
2. Intervention: Bildung als Ver-Bindung
Religionswissenschaftler bestätigen das Phänomen, dass der moderne Mensch nach Sinn, nach einer zielgewissen Lebensorientierung sucht, die das Ganze der Wirklichkeit in sich aufnimmt. Dies aber stößt sich an der gesellschaftlichen Realität der Moderne, die aus zig unverbundenen Teilsystemen besteht. Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur folgen jeweils ihrer eigenen Logik und funktionieren für und in sich. Ein umfassendes Sinnsystem jedoch oder gar eine ganzheitliche religiöse Sinndeutung wird immer weniger erkennbar und damit immer weniger plausibel. Zumal – es gilt immer noch, was einst Jürgen Habermas 1973 schrieb – es eben keine „administrative Erzeugung von Sinn“ gibt. (in: Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, 1973, S. 99). Was bleibt, ist die Frage. Die Sprachlosigkeit. Die Leere. Der Flachbildschirm.
Und irgendwann – nach innerer Leere der Burnout. Als Ralf Rangnick vom Fußball-Bundesligisten Schalke 04 aufgrund eines Erschöpfungssyndroms zurücktritt, wird dies mit Respekt und Mitgefühl begleitet. Es sei eine persönliche Tragik, hieß es. Ich horche auf. Denn nur persönlich ist die Tragik nicht. Vielmehr gehört er zu denen, die die Kehrseite unserer Leistungsgesellschaft erleben, deren Volkskrankheit Nr. 1 Depression heißt.
Es wäre ein erster heilsamer Schritt, sich laut dafür zu interessieren, was denn in diesen Leistungssystemen etwa des Sportes, der Medien, der Politik krank macht. Doch das Problem reicht meiner Überzeugung nach tiefer: Ich beobachte, dass die meisten Menschen auch nicht mehr in Sprache fassen können, was sie gesund macht – theologisch: was sie heil sein lässt. Sie haben buchstäblich keine Worte – und damit auch keine Vorstellung – für das, was ihnen Lebenslust ist und Qualität von Leben. Etwas, das sie verheißungsvoll erwarten wie ein Kind, das geboren wird. Vielen fehlt, so meine These, der Kontakt zu einer Vision, die einem Kraft gibt und Inspiration. Etwas, das über einen selbst hinaus weist und einem Halt gibt, weil es gerade nicht aus einem selbst heraus kommt. Unsere Gesellschaft leidet zunehmend unter dem Verlust dieser Dimension. Es fehlen Momente und Orte der Be-Sinnung und des Erkennens, an denen man nach Sinn fragt und Liebe, danach, wie man mit Scheitern umgeht und der inneren Grenze, mit Schuld und Verletzung – all dies kommt kaum irgendwo unter. Und so sind wir metaphysisch obdachlos geworden.
Unsere jüdisch christliche Tradition nun hat über Jahrtausende hinweg dem heimatlos gewordenen Gottesvolk mit einer weisen Methode aufgeholfen. Sie hat unbeirrbar das Gegenprogramm in Sprache gefasst, das man so pointieren kann: wer Visionen hat, ist gesund. Noch und noch erinnert unsere Religion an sie. Sie erinnert an die alten Verheißungen und die Sprache Gottes und gibt der Gegenwart eine Deutung auf. Das Problem heute: So viele sind in diesen alten Worten nicht mehr zu Hause! Das Haus der Tradition beheimatet nicht mehr oder ist allenfalls eine zugige Baustelle. Und so wird geredet von Glück, das man selbst schmiedet, nicht von Gnade. Davon, dass ich an dich denke, anstatt dass ich für dich bete. So ist mancherorts Gott selbst verloren gegangen. Tatsächlich nicht nur unbekannt verzogen, sondern auch noch unbemerkt. Ohne Glauben, ohne Gott, Gebote, vertraute Gebete, ohne religiöses Kulturwissen ist der moderne Mensch fast alles los geworden, nur nicht seine Verlorenheit.
Deshalb Bildung, meine sehr geehrten Damen und Herren. Es ist nicht nur eines der zentralen Anliegen evangelischer Kirche, für die ich als geistliche Leitende klar einstehe. Es ist die Sache aller Religionen und aller Konfessionen in einem multireligiösen Staat, der faktisch längst besteht, gemeinsam gegen diese Gottvergessenheit oder anders formuliert: Areligiosität anzugehen. Bildung als Bindung – genauer: als Rückbindung, re-ligio an das, was trägt. Den Menschen von klein auf religiös wieder Obdach zu geben, ist deshalb so dringlich, weil sonst Grundüberzeugungen wie Nächstenliebe und Toleranz in unserer Gesellschaft verloren gehen. Und geistliche Leitung heißt hier: klar und öffentlich für den Diskurs zu stehen. Und mehr noch: den Diskurs in einer Gesellschaft aktiv zu eröffnen, die angesichts der Kulturen- und Religionsvielfalt um Identität ringt. Zur Identität einer Gesellschaft gehört es, dass sie ein Verhältnis zu ihrer Religion, zu den vorhandenen Religionen gewinnt. Demgegenüber erlebe ich unsere Gesellschaft als eine, in der viele Kulturen und Religionen und Konfessionen faktisch nebeneinander leben, aber viel zu wenig voneinander wissen, um friedlich zu bleiben. Die affektgeladene Stimmung, sobald es insbesondere um den Islam geht, ist ein alarmierendes Zeichen, das mich bestärkt in meiner These. Es muss dringend etwas getan werden, dass wir wieder mehr verstehen von uns selbst, der Friedensliebe unserer eigenen Religion, damit wir der Friedensliebe der anderen Religionen mehr zutrauen.
Deshalb stehe ich als evangelische Bischöfin u.a. in der Stadt Hamburg, die jüngst Verträge mit den muslimischen und alevitischen Gemeinschaften geschlossen hat, eindeutig für den interreligiösen Dialog. Und – gut evangelisch – auch für einen gemeinsamen Religionsunterricht – besonders nach dem Hamburger Modell. Das gemeinsame Signal der Religionsführenden ist wichtig für die Stadt, sagt der Senat. Der ist nicht nur dankbar, er ist angewiesen auf die Dialogfähigkeit der Religionen und insbesondere auf die Initiativkraft der evangelischen Kirche. Denn es braucht in einer Stadt, in deren Kitas in einer Gruppe von 20 Kindern manchmal 11 (auch religiöse) Sprachen gesprochen werden, eine alltagstaugliche Interkulturalität. Und eine Interreligiosität, die über wohlgesetzte Grußworte hinaus geht. Zum Beispiel so: Kürzlich sah ich, wie eine dritte Schulklasse eine evangelische Kirche besuchte. In der Klasse waren etwa die Hälfte muslimische Kinder – und was taten sie? Sie zogen wie selbstverständlich ihre Schuhe aus. Vor der Tür zum Kirchenschiff 20 Paar kleine Schuhe. Ausgezogen aus Respekt vor dem heiligen Raum. Was für ein Bild! Herzenssprache mit Verstand.
Und ich schaue mir diese unmittelbare, geistesgegenwärtige Liebenswürdigkeit an und komme auf einen dritten Aspekt bzw. Intervention, die nun von der öffentlichen und „nach außen“ gerichteten Seite hin zu der nach innen gerichteten, zur institutionellen Seite übergeht. Und beschreibe diese Intervention als
3. Intervention: Aushalten der Spannung von Charisma und Institution
„Mit Verstand Herzenssprache üben“: diese Beschreibung für die Aufgabe des leitenden geistlichen Amtes enthält schon eine Grundspannung, die bereits Max Weber beschrieben hat: die zwischen Charisma und Institution. Gerade in der sich jetzt bildenden jungen Nordkirche begleitet mich diese Grundfrage der religiösen Institution als ein Dilemma, das sich naturgemäß leichten Lösungen entzieht: wie lässt sich das Unmittelbare organisieren? Wie kann das, was seinem Wesen nach nur Augenblick ist, verklingender Moment, flüchtige Liebesbegegnung, zwanzig paar Kinderschuhe, wie kann das auf Dauer gestellt und in Inszenierungen wiederholbar werden?
Dazu erhellend wieder einmal Fulbert Steffensky: „Der Geist kommt nicht mit sich selber aus, und er lässt sich nicht in die Innerlichkeit verbannen. Was nicht nach außen dringt; was nicht Form, Aufführung, Geste, Inszenierung, Haus und Figur wird, bleibt blass und ist vom Untergang bedroht. Der Geist, der seinen Ort nicht findet, ist wie eine Musik, die Partitur bleibt und nicht aufgeführt wird.“ (Schwarzbrotspiritualität, Stuttgart 2006, S. 28) Heißt also: Religion muss den Schritt von der inneren zur äußeren Religiosität tun. Das bedeutet für jede Art von Leitung in der Kirche: sie muss die Herzenssprache in der Grammatik des Verstandes aussprechen. Deshalb definiert der praktische Theologe Hans-Martin Gutmann die Aufgabe der Kirchenleitung so: „Kirchenleitung in evangelischer Perspektive ist die Aufgabe, die Faszination des Anfangs mit der Alltäglichkeit in der Zeit zu vermitteln“ („sich einsetzen, sich hingeben, sich nicht hergeben. Protestantische Entwürfe zu umstrittenen Lebenshaltungen“, Berlin 2011, S. 162)
Wenn es weiter nichts ist, denke ich und finde, dass dieses Schwarzbrot manchen Knust zum Herumkauen enthält. Ich erlebe es jedenfalls so, dass die öffentliche Repräsentanz der Kirche beispielsweise durch mich als Bischöfin immer eine Gratwanderung ist zwischen Verflüchtigung und Verflachung auf der einen und Erstarrung auf der anderen Seite. Lebendig im Glauben, lebendig also in religiöser Bewegung zu bleiben und zugleich für beständige Verlässlichkeit und Transparenz in unserer Organisation zu stehen, ist eine echte Spannung im Leitungsamt. Und dennoch: Es ist schon auch eine faszinierende Herausforderung, im leitenden geistlichen Amt die Verantwortung dafür zu haben, dass die Freiheit frei bleiben kann, und zugleich dafür, dass auch die äußere und sichtbare Kirche Repräsentanz braucht und Form.
Dazu nun möchte ich auf drei kleinere Spezifizierungen eingehen, die sich aus unserem reformatorischen Grundverständnis ergeben.
a)
Simul iustus, aber eben auch peccator. Oder: Demut schadet nicht... Als ich meinen Dienst als Bischöfin antrat, bekam ich von einer guten Freundin einen Cartoon von den Peanuts geschenkt. Getitelt: Für die Chefin. Da sieht man Linus mit seiner Schmusedecke, neben ihm sitzt in bekannt strenger Chefinnen-Manier Lucy. Sagt Linus: „Es gibt da etwas, was du wissen solltest!“ „Was denn?“ fragt Lucy zurück. „Die Welt dreht sich nicht um dich.“ Pause. Ein Bild nur Lucy, die Lippen sind ein schmaler Strich. Dreht sie sich zu Linus und sagt: „Du machst Witze.“
Ich weiß ehrlich gar nicht, warum man mir so einen Cartoon schenkt J, aber was ich weiß, ist: Lucy hätte sich ein Leitungscoaching gönnen sollen. Heißt: eine Beratung – gern auch durch KollegInnen – die einen in der manchmal schwierigen Einsamkeit des Amtes wieder orientiert. Einen zurecht bringt und in eine gesunde Selbstdistanz. Damit man wieder sortiert, worum sich die Welt wirklich drehen sollte.
Solche Art von Selbstreflexion finde ich befreiend. Ich erlebe sie gerade nicht als Begrenzung, indem einem etwa stetig vor Augen geführt würde, wie fehlerhaft, ja eingeschränkt man sei – eben dauernd, simul peccator. Ich erlebe es in der Durchdringung viel mehr auch als simul iusta – heißt: klärend und verändernd und darin ermutigend und hoffnungsdurchdrungen. Und das wiederum fördert positiven Gestaltungswillen. Aus dem theologischen Topos, dass die Organisation Kirche „Geschöpf des Wortes Gottes ist“ folgt für mich, dass dieser Gestaltungswille Leitungsaufgabe ist. Also eine positiv verstandene Beschreibung von Macht, zu der es elementar dazu gehört, zu reflektieren, dass und wie Menschenwerk durch Gottes Werk ermöglicht wird.
b)
Und das schließt ein: die eigene Endlichkeit und Geschichtlichkeit als Geschöpf anzuerkennen. Und für das Leitungsamt heißt das: Konzentration. Nicht gleich 137 Mails checken und dann mal eben die Welt retten. Diese Einsicht tatsächlich umzusetzen fällt mir am schwersten. Weil sich mit dem Leitungsamt auch die Verantwortung so eminent erweitert: Der Fokus ist eben nicht allein Ortsgemeinde oder Diakonieeinrichtung oder Seelsorgebereich oder weltweite Ökumene. Ekklesia ist alles. Die Konkretion und die gedachte Weite. Die Nähe und die Welt. In sichtbarer und unsichtbarer Gestalt.
c)
Schließlich, so in der Nordkirche live und in Farbe zu beobachten, führt im Blick auf kirchliche Strukturen das reformatorische Erbe auf vielerlei Weise zu Wiederentdeckungen: „Dass es immer um Funktionen, nicht um Ämter geht, dass alle Christen durch ihre Taufe zu Königen, Priestern und Propheten gesalbt sind, dass Leitung immer Dienstleistung bedeutet, dass die Leitung der Gemeinde letztlich von dieser selbst wahrgenommen wird, dass die Gestaltung von Kirche nicht von außen vorgegeben wird, sondern selbst Ausdruck des Glaubenszeugnisses ist“ (Thorsten Latzel: »Geistlich Leiten« – Versuch einer Begriffsschärfung, in: Geistlich Leiten – Ein Impuls, epd-Dokumentation 6/2012, hrsg. vom Kirchenamt der EKG, S. 6-11, hier S. 10). Soweit die Theorie. Die Praxis im Leitungsamt zeigt, wie sehr es hier „menschelt“. Von allen Seiten. Weil es um mehr geht als um ein Produkt. Oder um alte Bekenntnisse. Es geht um Herzensdinge. Kulturen. Um einen selbst. Um Gott. Um die richtige Sprache für all das. Damit sich hier im guten Sinne Ekklesia semper verändert, bedarf es ehrlicher Verständigungsprozesse, die ein gutes Maß an Stringenz besitzen, so transparent wie möglich sind und eine echte Beteiligung ermöglichen. Prozesse, die irgendwann auch ein Ende finden – weil einzelne oder ein Gremium die Verantwortung zu leiten, wirklich übernehmen. Und hier ist neben klarer Krisenintervention für mich wirklich elementar, was Hans-Martin Gutmann an anderer Stelle für kirchenleitendes Handeln formuliert: Dass sie Charme haben darf. Witz. Spielraum. Erbarmen. „Die Aufgabe, die Faszination des Anfangs im Alltag der andauernden Zeit zu bewahren, wird nur unter einer Bedingung nicht zur heillosen Überforderung: Wenn die Menschen, die in der Kirchenleitung mitarbeiten, sich von dieser Faszination auf den Arm nehmen und tragen lassen. Wenn sie das, was sie in Gottesdiensten und Andachten hören, beten und singen, nicht als notwendige Pflichtübungen und als Ausflüge in eine uneigentliche Sprache ansehen, die mit den alltäglichen Geschäften nichts zu tun hat, sondern als das, was das Leben eigentlich trägt… Es geht um eine Haltung, die alles einzelne umgreift, nicht zuerst um einzelne Fähigkeiten oder Verhaltensweisen. Der Charme der Kirchenleitung lebt und wächst, glaube ich, immer dort und immer dann, wenn Menschen die alltäglichen Aufgaben und Schwierigkeiten wahrnehmen und nicht verleugnen, … ..wo Menschen mit ihrer kleinen Kraft das Nötige tun, auch das Konfliktbelastete und Problematische anpacken, ohne von der Phantasie besessen zu sein, alles richtig machen zu müssen. Der Charme der Kirchenleitung wächst, mit einem Wort, da, wo wir unser Leben von der grundlosen Güte Gottes tragen und bestimmen lassen.“ (Gutmann, S. 165f)
Und so bin ich bei meiner letzten Intervention
4. Intervention: Würdigung als Leitungsprinzip
„Ich danke Gott allzeit, dass es euch gibt“: so beginnt der erste Brief vom Apostel Paulus an die Gemeinde in Thessaloniki, der wohl das früheste schriftliche Zeugnis des Christentums darstellt. Am Anfang dieses und fast aller seiner Briefe steht der Dank. Am Anfang, nicht am Ende, wie sonst immer. Das ist kein Zufall, sondern Prinzip. Die Leitung der Gemeinde Jesu Christi erfolgt zuallererst über die Würdigung der einzelnen. Wertschätzung ist das Erste. Personalentwicklung at it´s best, 60 nach Christus.
„Ich danke Gott allzeit, dass es euch gibt“: Paulus sagt das nicht trotz, sondern angesichts etlicher Diversitäten der Menschen, die er vor sich sieht. Und er sagt dies damit zunächst auch angesichts jeder Menge Konflikte, Konkurrenzen, Dysfunktionalitäten und Diffusionen. Er sagt dies eben in und zu Gemeinden, in denen Hafenarbeiter neben feiner Dame, die Prostituierte neben dem Bankier, die Riechenden neben den Parfümierten sitzen, in denen es also Unterschiede gibt ohne Ende, was den sozialen Status angeht, das Geschlecht, die Herkunft, die sexuelle Ausrichtung, das Leistungs- und anderes Vermögen – und natürlich die religiöse Prägung.
Die Würdigung des Unterschiedlichen hat besondere Kraft. Auch das ist biblisch angelegt. Denn, so heißt es: Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde und siehe er schuf sie als Mann und Frau. Von Anfang an also: es lebe der Unterschied! Denn letztlich ist er es, der Identität fördert. Im Gegenüber zum DU kann ich überhaupt erst ICH sagen. Im Gegenüber entsteht das Selbst. Im Dialog die Sicherheit. Denn die Frage an das eigene Tun, Denken und Handeln bekommt doch nur durch ein Du Resonanz und Antwort. Nichts ist doch furchtbarer, als da zu sein – und keiner bemerkt es! Nein: von Anfang an im jüdisch-christlichen Menschenbild war da die Würde des einzelnen. Die Würde wohlgemerkt des Nicht-Gleichen. Und also auch die aktive Würdigung für das Andere in der anderen. Oder in dem Anderen. Daraus leite ich für mein Leitungsmodell ab: Keine Gemeinde, keine Organisation, keine Unternehmenskultur kommt an den Kern ihrer Identität, wenn sie so tut, als sei sie in sich NUR homogen. Wie selbstverständlich einem Ziel verpflichtet. Christ gleich Christ. Mann gleich Mann. Frau in der Leitung gleich Frau in der Leitung. Im Gegenteil. Unsere Gemeinschaften, ja unsere Gesellschaft kann heterogener gar nicht sein. Diversity Management – das umfasst für mich auch einen gesellschaftlichen Auftrag: den Unterschied als Chance zu würdigen und nicht als abzustellendes Übel abzuwerten.
Nein: ich danke Gott dafür, dass es euch gibt. Wertschätzung ist das Erste.
Für mich war das immer schon ein überzeugender Leitungsansatz. Und ein aufregender. Weil er wohlmeinend diskursiv ansetzt und den in unserer Gesellschaft so unbarmherzigen, perfektionierten Blick auf den Mangel durchbricht. Es gibt so dermaßen viel Abwertung – Abschätzigkeit. In den Medien, in den Talkshows, in den Kantinen, in den Wohnzimmern. Doch – so die Personalentwicklung des alten Apostels Paulus: Kein Mensch entwickelt sich allein durch Kritik oder Mahnung. Sondern durch eine ehrliche Sicht auf das Ganze, die im wahrsten Sinne Zu-neigung, Zuneigung der Chefin oder der Kollegin oder auch der Bischöfin braucht.
Ich danke, dass es euch gibt.
Paulus spricht im Indikativ. Das ist interessant. Denn er sagt, was ist – und nicht, was sein soll. Er schreibt von seiner Dankbarkeit, die eine Durchlässigkeit hat für die gelebten Halbheiten: er lässt sich von den Schwierigkeiten und Bedrängnissen der Gemeinde nicht lähmen. Und davon gab´s weiß Gott genug. Und was passiert? Sein Dank nimmt den Druck heraus. Druck, der uns ja in unseren Arbeitswelten – in Ihren, glaube ich, ebenso wie in meiner – manchmal die Luft abschnürt. Einfach, weil es soviel zu schaffen, erledigen, klären, so viel zu regeln gibt. Sein Dank schafft Raum zum Durchatmen. Für gegenseitige Wahrnehmung. In der Würdigung liegt Kraft. Ich bin überzeugt: Denn nicht nur in der Kirche entfaltet sich Ausstrahlung vor allem durch die Menschen. Durch ihre Beziehungsfähigkeit. Bei uns in der Kirche eben besonders durch die Fähigkeit, in Sprache zu fassen, was Menschen bewegt. Durch unsere Sensibilität, Seelen zu trösten und echte, innerlich bewegende Hoffnungen zu wecken. Durch unsere Fähigkeit, Zweifel zu sehen und Diskurse anzustoßen. Und durch unsere Liebe zum Unterschied, seit Adam und Eva.
Diesem theologischen Grundansatz tragen wir Rechnung auch durch moderne Instrumente der Personalentwicklung. In fast jedem Kirchenkreis der Nordkirche etwa führen Pröpstinnen Jahresgespräche mit ihren PastorInnen durch. Ich – ganz kaskadisch korrekt – eben mit den PröpstInnen. Diese Erfahrungen sind deshalb so wertvoll, weil Würdigung hier konkret werden kann. Und das heißt: Wahrnehmung. Nicht Belobhudeln. Sondern präzise erfassen – auch gegenseitig und aneinander – was einen Menschen besonders macht, was ihn in seiner Arbeitssituation ängstigt, was ihn treibt, welche Bedingungen ihn krank machen, warum er zufrieden oder unzufrieden ist. Würdigung ist ein Prozess. Kein Fragebogen mit Abhaknummer. Es ist das Gespräch, in dem sich zwei Menschen um Klarheit bemühen und Geradheit und Genauigkeit.
Mit vor allem einem Ziel: Eine präsente Kirche zu sein im Hier und Jetzt. Kirche zu sein als wache Zeitgenossin!
Wahrgenommen nun habe ich – wohlgemerkt nicht nur bei PastorInnen – oft eine tiefgreifende Müdigkeit. Reformmüde. Fusionsmüde. Müde durch den Bedeutungsverlust. Die Konvente geben da viele Hinweise. Ich frage mich allerdings zunehmend, ob strukturelle Veränderungen bei Erschöpfung oder gar Burnout ausreichen. Ob die immer wieder aufkeimende Müdigkeit nicht einen tieferen Gegenimpuls braucht. Einen neuen Kontakt zu dem, was Glaube auch bei denen heißt, die dauernd von ihm reden. Vielleicht sind wir manchmal zu ausgewogen. Liturgisch korrekt. Pflegen mehr das Wächteramt als die Improvisation. „Der Kirche fehlt Unruhe“, hieß es jüngst in der Süddeutschen Zeitung (Matthias Drobinski: Der Kirche fehlt Unruhe, SZ vom 8. November 2010, S. 4). Da beschäftigen sich die Menschen zu sehr mit sich selbst, anstatt mit gut protestantischer Unruhe auf die Zerbrechlichkeit der Menschenwürde zu reagieren. Mag sein, auch unserem Berufsstand würde eine leidenschaftliche Beunruhigung deutlich zur Stärkung gereichen?
Ich bin so froh, dass ich nicht evangelisch bin – so sang einer jüngst im Kabarett. Das Klischee der Kost verächtenden Protestanten, die vor lauter Bescheidenheit nicht froh sein mögen, ist wahrlich nicht neu. Ich fände es eine im feinsten Sinne beunruhigende Perspektive, auch für uns selbst den Blick wieder mehr auf die Fülle unseres Glaubens zu richten. Vom Mangel kennen wir wahrlich genug. Was aber heißt Lebensmut heute? Was können wir genießen, macht uns auch im Angesicht der tobenden Welt zu Hoffenden? Wo liegt die Freude eines Christenmenschen? Froh-Sinn halte ich für eine große visionäre Kraft, wie sie wunderbar ermutigend in zwei Versen des 126. Psalms zum Ausdruck kommen:
„Und wir sahen diese neue welt
die so anders war
wie ein traum
und doch war sie wirklichkeit
und wir lachten und weinten vor freude
waren ausser uns über diese veränderung
denn nie hatten wir so viel schönheit geahnt.“
(Aus: Wege entdecken: Biblische Texte, Gebete und Betrachtungen, hrsg. von Joachim Feige / Renate Spennhoff, Gladbeck 1980, Übersetzung nach Ulrich Schaffer, S. 55)
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.