19. Mai 2013 - Predigt über 4. Mose 11 i.A. von Bischöfin Kirsten Fehrs
19. Mai 2013
Predigttext Numeri 4: 11 Und Mose sprach zu dem Herrn: Warum bekümmerst du deinen Knecht? Und warum finde ich keine Gnade vor deinen Augen, dass du die Last dieses ganzen Volkes auf mich legst? 12 Hab ich denn all das Volk empfangen oder geboren, dass du zu mir sagen könn-test: Trag es in deinen Armen, wie eine Amme ein Kind trägt, in das Land, das du ihren Vätern zugeschworen hast? 14 Ich vermag all das Volk nicht allein zu tragen, denn es ist mir zu schwer. 15 Willst du aber doch so mit mir tun, so töte mich lieber, wenn anders ich Gnade vor deinen Augen gefunden habe, damit ich nicht mein Unglück sehen muss. 16 Und der Herr sprach zu Mose: Sammle mir siebzig Männer unter den Ältesten Israels, von denen du weißt, dass sie Älteste im Volk und seine Amtleute sind, und bringe sie vor die Stiftshütte und stelle sie dort vor dich, so will ich herniederkommen und dort mit dir re-den und von deinem Geist, der auf dir ist, nehmen und auf sie legen, damit sie mit dir die Last des Volks tragen und du nicht allein tragen musst. 24 Und Mose ging heraus und sagte dem Volk die Worte des Herrn und versammelte siebzig Männer aus den Ältesten des Volks und stellte sie rings um die Stiftshütte. 25 Da kam der Herr hernieder in der Wolke und redete mit ihm und nahm von dem Geist, der auf ihm war, und legte ihn auf die siebzig Ältesten. Und als der Geist auf ihnen ruhte, gerieten sie in Verzückung wie Propheten und hörten nicht auf.
Liebe Gemeinde!
Allerorten werde ich angesprochen: Was war das für ein wunderbarer Kirchentag! Friedlich, vielfarbig und gastfreundlich haben wir diese Stadt erlebt. Eröffnungsgottesdienst mit Tausenden in der Hafencity, singende U-Bahnen, neu komponierte Musik zum Lobe Gottes (danke an Manuel Gera heute!), nachdenkliche Managerinnen aus der Wirtschaft hier im Michel. Kinder, die ihre ganz eigene Kirche in die Welt bauen und sich Sorgen machen um die kranke Schöpfung, die kranke Großmutter - und den HSV. Auf dem Rathausmarkt ein Lichtermeer zum Abendsegen und etliche Tränen, als Zehntausende singen: „Der Mond ist aufgegangen“. Die Sonne tat es dem Mond nach, jeden Morgen neu und strahlend. Petrus hat sich eindeutig von seiner protestantischen Seite gezeigt. Kurzum: kaum jemand war zu sehen, den die Begeisterung nicht angesteckt hätte. Fröhlich, ambitioniert, überbordend, Alt und Jung, Muslim, Bischof, Bundeskanzlerin; man sprach viele, auch leichte Sprachen und verstand sich auch noch! Und mir wurde bei all den unterschiedlichen Begegnungen bewusst, wie sehr die Menschen heutzutage das ersehnen: Momente, in denen sie wirklich und wahrhaftig im Herzen und in der Seele berührt sind. Berührt von der Gegenwart einer ganz anderen Wirklichkeit. Von Segen. Von Gottes Musik. Von einer Friedensleichtigkeit, die einem wieder Hoffnung gibt in einer irrsinnigen Welt.
Und so empfand ich nach fünf geistdurchwehten Tagen eine große Dankbarkeit. Auch darüber, dass keiner ernsthaft zu Schaden kam. Dies ist mir heute besonders wichtig, wurde doch vor drei Tagen bekannt, dass am späteren Abend des 1. Mai ein gefährlicher Brand im Hafen mit großem Einsatz gelöscht wurde. Welch‘ Schutz und Segen ist uns zuteil geworden! Nicht auszudenken, denke ich… – und es ergreift mich in solchen Momenten des Schrecks immer wieder die Einsicht, wie begrenzt wir in Wahrheit sind. Wie wenig wir trotz aller Faktenkenntnis vom Leben wissen. Davon, was manchmal am seidenen Faden hängt. Und davon, was wir wirklich brauchen – nicht um zu existieren. Sondern um zu leben.
Soviel du zum Leben brauchst, sagt Gott in der Kirchentagslosung, gebe ich dir. Er sagt das zu denen, die gerade eine große Wüstenzeit durchmachen. Denen überhaupt nicht danach ist, zu danken und von irgendetwas begeistert zu sein. Und fast ist der heutige Predigttext ein Dejà-vu zu dieser Kirchentags-Geschichte - setzt er doch wenige Kapitel später ein und beginnt wieder einmal damit, dass die Israeliten murren und knurren. Von wegen gelobtes Land! Restlos ernüchtert machen sie, die wohl nicht umsonst Kinder Israels heißen, ihrer Ungeduld und Enttäuschung Luft: Wie war es doch in Ägypten damals gold! Da hatten sie Fisch und Fleisch, Melonen, Gurken, Zwiebeln und Knoblauch. Und hier, in dieser Einöde: Manna. Tag für Tag. Einen einzigen Gott anbeten – in Ordnung. Doch ein einziges Essen? Das hängt ihnen so zum Hals heraus! Und so quengeln und heulen sie vor ihren Zelten. Und sorgen dafür, dass ihr Führer Mose es auch wirklich hört.
Der hört´s. Und nicht nur das. Er hört es mit Verzweiflung. Es ist ja eben nicht das erste Mal, dass er sein Volk, zugleich aber auch Gott besänftigen muss. Denn der ist seinerseits zornig über dieses Jammern auf hohem Niveau. Mose hat endgültig genug. Und Mose sprach zu dem Herrn: Ich vermag all das Volk nicht allein zu tragen, denn es ist mir zu schwer.
Es ist mir zu schwer. So alt ist diese Geschichte. Und dennoch würde es mich nicht wundern, fühlten die verantwortlichen Männer und Frauen in unseren Führungsetagen, in den Parteien, Verbänden, Gemeinden nicht manchmal genau wie Mose. Ich meine wohlgemerkt die, die wie Mose nicht immer zuerst an Erfolg und Profit, sondern an eine Idee glauben. Eine Idee, die über sie selbst hinaus weist wie ein gelobtes Land. Eine Vision von einer besseren Welt, die aus den Wüsten unserer Zeit herausführt. Eine Idee, die Vokabeln kennt wie Wachstumsgrenze und Schöpfungsliebe, Demut, Nächstenliebe und eine „Ethik des Genug“. So denke ich ungeachtet aller Skrupellosen, über die wir ja ständig auf dem Laufenden gehalten werden, heute einmal ganz bewusst an die Integren. An sie, die 16-Stunden-Tage kennen und 7-Tage-Wochen. Stundenlange Sitzungen, damit Arbeitsplätze gesichert, Sozialsysteme erhalten, Konzerne durch Engpässe manövriert, unvereinbare Interessen miteinander verständigt werden. Die am nächsten Morgen dennoch spöttische Kommentare auszuhalten haben und medialen Verriss. Mitgehangen, mitgefangen mit denen, die in Misskredit bringen und am liebsten singen: Seid verschlungen, Millionen! Vielleicht seufzt da so manch eine/r von ihnen, die von einer anderen Wirklichkeit träumen: Gott, es ist mir zu schwer. Im Stillen, versteht sich. Denn da gehört es hin, denken sie. Und riskieren damit ihr Leben. Brennen aus, wo einst Feuer war.
Mose aber macht das nicht still mit sich ab. Es ist dies die besondere Pointe des Predigttextes, die übrigens auch im damaligen Orient einzigartig ist. Er spricht ehrlich aus, dass er nicht mehr kann. Dass er sogar Todessehnsüchte hat. Er ahnt, dass er nur aus seiner Wüste heraus kommt, wenn er seine Grenzen zu erkennen gibt. Seine Bedürftigkeit zugesteht. Und gerade darin wird er der Krisenmanager, der „Erfolg“ hat. Was für eine Zeitansage in einer Gesellschaft, liebe Gemeinde, die so auf Perfektion setzt! Reich, aber unglücklich…Der Text bringt es auf den Punkt: Wer in der Krise ist, braucht umso mehr den Geist der Wahrheit. Auch andersherum vertragen wir doch in Krisen nichts weniger als Lüge und falsche Versprechungen von denen, die Verantwortung für uns tragen?!
Der Realität ins Auge zu schauen, auch der eigenen, bringt die Wende, sagt unser Text. Doch Vorsicht: Die Wahrheit anderen zuzumuten, hat auch Risiken und Nebenwirkungen. Nun müssen nämlich die Kinder Israels erwachsen werden. Schließlich tragen sie, tragen wir alle Verantwortung für die Verheißung. Dafür, dass die Vision eines Landes, in dem jedes Geschöpf so viel hat, wie es braucht, wahr wird. Und so lässt Gott universal, aus allen Stämmen Israels siebzig Älteste sich versammeln. Und er kam hernieder in der Wolke und nahm von dem Geist, der auf ihm, Mose, war, und legte ihn auf die siebzig Ältesten. Gibt es ein eindrücklicheres Bild, wie nicht nur die Last, sondern auch der Traum verteilt wird?
Und wohlgemerkt: nicht Gottes, Mose Geist wird verteilt. Der Geist eines Menschen also, der die Stärke hat, etwas aus der Hand zu geben. Der nicht an der Macht und seiner Anerkennung festhält. Und die siebzig Ältesten sind entzückt! Endlich können sie etwas bewirken, werden zum Teil des Geschehens. Sie kommen heraus aus der Rolle des Publikums, das applaudiert oder verwirft. Und genau hier, liebe Gemeinde, ereignet sich Pfingsten. Hier, bereits im Alten Testament, finden wir die Idee unserer Kirche. Weltzugewandt. Vielseitig. Gerade nicht mit dem einen charismatischen Führer, auf den alle schauen. Nein: Siebzig sind im Licht. Siebzig hoch siebzig Mal plural. Und dennoch eine Gemeinschaft. Beseelt von der Vision, die immer jung bleibt, weil sie schon die Alten in sich trugen: „Meinen Frieden gebe ich euch“, so übersetzt Jesus sie im Evangelium der vielen Sprachen. „Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht.“
Euer Herz erschrecke nicht. Es braucht in dieser Welt so viel mehr Unerschrockenheit, liebe Gemeinde. Und zwar eine, die nicht allein konfrontiert, sondern die auch etwas Nachgiebiges und Herzensnahes hat. Pfingsten singt und summt und sucht die Sprache der Wahrheit - jedoch Wahrheit, die die Liebe kennt! Die Liebe zum Versehrten, dem, was man nicht so gern anschaut. Den eigenen Grenzen, der Scham. Denn einzig die Liebe macht unerschrocken. Lässt einen aus sich heraus kommen. So wie Gott den Mose hat sein lassen, der er war. Und so wie damals in Jerusalem alle so außer sich waren, dass man dachte, sie wären betrunken vom Federweißen. Irrtum. Sie waren trunken vor Gottesnähe. Fühlten Wärme. Verständnis. Freundschaft. Liebe. Ungestüm und unverhofft. Sie haben bis an die Herzhaut gespürt, was das Evangelium sagt: Wo Menschen lieben, nimmt Gottes Geist Wohnung. Wo Menschen sich Sorgen machen umeinander, wo ein Wimpernschlag den anderen heiß rührt, wo sich ein Kind in den Schlaf trösten lässt, wo zwei reden, um wieder zueinander zu finden, wo gekämpft wird für die Würde eines anderen, wo dem Flüchtling Obdach gewährt, dort, wo Menschen im Schweigen miteinander tragen, was keine Wort mehr findet – wo die Liebe wohnt, wohnt auch Gott. Da ist er gegenwärtig. Vater. Sohn und heiliger Geist.
Können wir nicht einstimmen, dass sie lauter singt und summt und sucht – die Sprache der Wahrheit, die die Liebe kennt? Damit wir des Geistes gegenwärtig sind in dieser so fatal geistesabwesenden Gesellschaft. Mit einer Menschheit, die unentwegt aufs Smart-Phone starrt. Im Bann medialer Wertung. Und Abwertung. Des Geistes Gegenwart dagegen, das geht gar nicht anders, bricht auf, was uns zwingt. Was unwahr ist. Korrupt. So tödlich. Quälend gemein. Was Menschen jammern lässt und traurig sein.
Gottes Geist will, dass wir dies für wahr nehmen. All den Terror, in Syrien. Jeden Tag. All die Zerstrittenheit unter den Völkern. In Korea. In Israel-Palästina, so lange schon! Deshalb kehrt der ungestüme Geist des Friedens zuerst vor der eigenen Tür und wirbelt kräftig Staub auf. Sagt: Euer Herz erschrecke nicht! Und so macht er unserem Kleinglauben Dampf. Setzt uns ein Licht auf, denn wir können doch nur Frieden weiter tragen, wenn wir unsere eigene Zerstrittenheit erkennen, unsere eigene Angst, unsere eigene Engherzigkeit. Also auch mit unserer kirchlichen Geistesabwesenheit, liebe Gemeinde, räumt der heilige Geist auf. Doch erschreckt nicht: er kommt als Freund, um mit uns zusammen ganz da, ganz präsent zu sein in dieser Welt. Er kommt, damit wir uns riskieren und lieben. Die Sprache der Wahrheit lernen, die die Murrenden ebenso sieht wie die Begeisterten. Gottes Geist stellt sich der Wirklichkeit und flieht nicht. So also auch wir. Er nimmt es mit den Gegensätzen in der Welt und mit den Widersprüchen in uns selbst auf. So also auch wir. Denn das ist sein Werk: Zusammen zu halten, was auseinander brechen will. Uns zu halten, wenn es uns innerlich zerreißt. Uns Kraft zu geben, wenn wir erschöpft und krank sind und schwach. Das ist sein Werk: Uns zu trösten, wenn wir die Wirklichkeit nicht aushalten, wie sie in Wahrheit ist. Uns die Sehnsucht ins Herz zu senken, dass wir endlich, endlich eine gemeinsame Sprache finden. Groß und Klein und ambitioniert, überbordend, Muslim, Bischof, Bundespräsident…wir. Damit die Visionen jung bleiben und unsere Träume niemals alt werden.
Denn der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahrt doch längst unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.