Bericht der Landesbischöfin
Seid jederzeit bereit, Rechenschaft abzulegen über die Hoffnung, von der ihr erfüllt seid.
1. Petrus 3,15
Zu einer kooperierenden Kirche angesichts der Gefährdung des Lebens
Bericht von Landesbischöfin Kristina Kühnbaum-Schmidt
vor der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland
am 17. September 2021 in Travemünde
Einleitung
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit:
Vom Leben im Übergang
„Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ - „À la recherche du temps perdu“1 – Dieser Klassiker der modernen französischen Literatur von Marcel Proust bringt für mich eine Erfahrung auf den Punkt, die mir in diesen Wochen immer wieder begegnet ist. Es geht dabei um eine Suchbewegung. Viele Menschen, mit denen ich im Gespräch war, haben Fragen formuliert, in denen das Wort „wieder“ eine zentrale Rolle spielte: Wann wird es wieder so sein, wie damals, wie vor der Pandemie, wie in der irgendwie verloren gegangenen Zeit? Wann wird es wieder ungezwungene Begegnungen geben, bei denen nicht mehr die mehr oder weniger offen ausgesprochene Frage nach dem Impfstatus mit im Raum steht? Wann gibt es wieder Gottesdienste, Synodentagungen, kulturelle und kirchliche Veranstaltungen, in deren Vorfeld nicht ausgiebig über 3G oder 2G diskutiert wird?
Wann …. wieder? Sehnsucht schwingt da mit, bisweilen bange Sehnsucht, und auch Unsicherheit, Angst und Zorn, verhaltener Optimismus ebenso wie ein norddeutsch-nüchternes „muss ja“ oder anpackendes „wird schon“. Denn vieles geht ja jetzt auch wieder: Eine Synodentagung wie diese, große und festliche Gottesdienste wie vor wenigen Tagen zum 850. Jubiläum der Weihe des Schweriner Domes mit Musik, Chor und Gemeindegesang, lange verschobene Taufen, Konfirmationen und Trauungen, Jubiläen und Festveranstaltungen, Kinder- und Jugendfreizeiten und präsente Arbeitssitzungen wie die beiden letzten Sitzungen der Kirchenleitung, unsere ersten analogen Begegnungen seit fast einem Jahr. Ja, all das gibt es wieder - und doch ist es kein wieder, weil es eben doch anders ist. Mit Abstand, Masken und Hygieneregeln, oft mit einer „angezogenen inneren Handbremse“. Aber in aller äußeren Betriebsamkeit, aller Freude über die zumindest teilweise zurückgewonnene Terminfülle analoger Begegnungen verbunden mit einem geradezu beschwörendem „es geht wieder los“ - unter der Oberfläche ist die Gefühls- und Stimmungslage fragil und zerbrechlich, suchend und tastend nach dem, wie es sein könnte und werden wird.
Denn die Erfahrungen der Pandemie und die nun auch bei uns katastrophalen Folgen des Klimawandels machen klar: Wir können die Augen nicht davor verschließen, dass wir nicht einfach nur zurück können. Ein weiter so wie vorher wird es nicht geben. Klimawandel und die Erfahrungen der Pandemie zeigen uns, wie sehr das, was in einem Teil der Welt geschieht, auch gravierende Auswirkungen auf alle anderen hat.
Die großen Herausforderungen vor denen wir stehen, sind globale Herausforderungen. Und: Sie sind zugleich auch Herausforderungen für unsere Nordkirche, für alle Sprengel, für alle Kirchenkreise, für jede Gemeinde. Sie erfordern, dass wir schnell und entschlossen handeln. Und dafür ist nicht Konkurrenz gegeneinander, sondern Kooperation miteinander nötig. In unserer Gesellschaft wie in unserer Kirche. In unmittelbarer Nachbarschaft ebenso wie weltweit. Diese Herausforderungen können wir nur gemeinsam und in globaler Verantwortungsgemeinschaft bewältigen. Wir brauchen deshalb eine Ethik der Kooperation und des Vertrauens, einen globalen Gemeinsinn.
Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war ein Fremdling und ihr habt mich beherbergt; ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht.
Wie verwundbar, verletzlich, gefährdet nicht nur unser eigenes Leben, sondern das aller Lebewesen, wie verwundbar, verletzlich, gefährdet alles Leben auf unserem Planeten ist, steht mit den Erfahrungen der Pandemie und den Prognosen des Weltklimarates unmittelbar vor Augen. Und Klimapilgernde, Fridays und Christians for Future lassen nicht nach, nach den Konsequenzen aus diesem Wissen zu fragen. Und wie unbestreitbar wichtig auch die Fragen nach der gegenwärtigen und zukünftigen Gestalt und Arbeit unserer Kirche sind - dazu hören wir noch im Bericht der Kirchenleitung und morgen zum Stand des Zukunftsprozesses - sie sind in Relation zu sehen zu den Fragen, die alle Menschen betreffen. Sie sind ins Verhältnis zu setzen zu den Themen unseres Lebens in der einen, gemeinsamen Welt. Ich sage mit Worten des lateinamerikanischen Theologen Leonardo Boff, dass das Zentrum des Interesses nicht die Kirche ist, „schon gar nicht der innerkirchliche Betrieb, sondern das Überleben der Menschheit, die Zukunft der Erde. Beides ist in Gefahr und man muss fragen, ob das Christentum einen Beitrag leisten kann, um diese Krise zu überwinden.“2 Auch damit ist angelegt, dass wir uns noch mehr als Kooperationspartnerin verstehen müssen, die sich mit anderen Akteur:innen dialogisch verständigt und gemeinsam handelt.
Das Zentrum des Interesses ist nicht die Kirche, „schon gar nicht der innerkirchliche Betrieb, sondern das Überleben der Menschheit, die Zukunft der Erde.
Beides ist in Gefahr und man muss fragen, ob das Christentum einen Beitrag leisten kann, um diese Krise zu überwinden.
Leonardo Boff
Mit Blick auf die Heilige Schrift kann man es auch so sagen: lange, sehr lange bevor in der Heiligen Schrift von der Kirche die Rede ist, wird der Auftrag Gottes für die Menschen formuliert, seine Schöpfung zu behüten und zu bewahren. Martin Luther beschrieb diese Rolle erstaunlich aktuell, als „cooperator Dei“ - ein mitwirkendes Wesen in der Schöpfung, nicht weniger, aber auch nicht mehr.
Dieses Bewusstsein vermisste Luther bereits in seiner Zeit. Er beklagt, dass der Mensch gegenüber allem Kreatürlichen mehr zerstört als bewahrt und keine theologisch angemessene Rolle dafür findet, im Weinberg Gottes lediglich mitzuwirken. Die Rolle der Kirche sieht Luther folgerichtig darin, genau dieses Bewusstsein wiederzuentdecken: mit Gott zu kooperieren, anstatt sich selbst zu glorifizieren. Wir arbeiten mit im Schöpfungsgarten Gottes. Bei der Einweihung des Gartens der Sinne in Breklum, in dem nachhaltig und ökologisch gegärtnert wird, stand dieses Rollenverständnis für uns Menschen deutlich vor Augen.
Wir alle wissen, oder ahnen es wenigstens: so wie es war, wird es nicht wieder werden. Aber wie es genau sein wird, zeichnet sich erst in Umrissen ab. Ein Leben im Übergang, in Transformation: Denn es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden. Und vielleicht ist es kein Zufall, dass wir in diesem Leben im Übergang, in Transformation, Abstand zueinander halten, dass wir zurückhaltend sind - und sein müssen - mit Berührungen, Umarmungen, körperlicher Nähe. Noli me tangere - berühr mich nicht, spricht der auferstandene Christus zu Maria Magdalena (Johannes 20,17). Das Neue entsteht, wächst, bildet sich ja gerade. Deshalb braucht es Respekt voreinander, Abstand, liebevollen Schutzraum, behütende Zärtlichkeit.
Was kann die Aufgabe und Rolle einer evangelischen Kirche, was kann Aufgabe und Rolle unserer Nordkirche inmitten dieses Transformationsprozesses und angesichts der Gefährdung des Lebens auf unserem Planeten sein? Was bedeuten eine Ethik der Kooperation und des Vertrauens, was und wie können wir als Kirche beitragen zur Entwicklung eines globalen Gemeinsinns? Und wie verändern wir uns als Kirche inmitten dieses Transformationsprozesses selbst, wie werden wir selbst zukünftig Kirche sein?
Diese Fragen mitzudenken, dazu lade ich Sie, liebe Synodale, mit meinem diesjährigen Bericht der Landesbischöfin ein. Auf einige Schwerpunkte meiner Arbeit im vergangenen Jahr werde ich dabei exemplarisch Bezug nehmen. Im Anhang zu diesem Bericht, der Ihnen jetzt auch online zugänglich ist, finden Sie zu Ihrer Information zusätzlich eine Übersicht zu weiteren Terminen seit letztem September mit öffentlichen Charakter, wo immer möglich auch verlinkt mit dazugehörenden Texten, Videos etc. Diesen Bericht hier und heute vor und mit Ihnen verstehe ich im Duktus einer einladenden Nachdenklichkeit. Wobei, so der hier ganz in der Nähe in Lübeck geborene Philosoph Hans Blumenberg, „Nachdenklichkeit heißt: es bleibt nicht alles so selbstverständlich wie es war. Das ist schon alles.“3
1. Kooperierende Nordkirche in globalen Herausforderungen –
Verbunden und solidarisch, barmherzig und voneinander lernend
Über diesem Jahr stehen die Worte der Jahreslosung: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ Barmherzigkeit - dieser Begriff erinnert uns an die Verbundenheit mit allen unseren Mitmenschen und allen Mitgeschöpfen. Barmherzigkeit erinnert uns daran, dass wir in Relation leben, mit anderen Menschen, mit der ganzen Schöpfung, mit Gott. Barmherzigkeit erinnert uns daran, dass wir gemeinsam und füreinander Verantwortung übernehmen und fürsorglich füreinander da sein können - auch über Grenzen hinweg. Als weltweit miteinander verbundene Kirchen können wir dazu mit unseren Netzwerken, unserer Kompetenz vor Ort und unserer geschwisterlichen Solidarität wichtige Beiträge leisten und Erfahrungen beisteuern.
Was das konkret in der Nordkirche bedeutet, stand im zurückliegenden Jahr im Mittelpunkt vieler ökumenischer Begegnungen in analoger wie digitaler Form. Zwei davon will ich exemplarisch nennen: Mich hat bewegt, im Gespräch Bischof Shoo aus Tansania vom damals noch so bedrückenden Umgang der Regierung seines Landes mit der Pandemie zu hören (Präsident war damals noch der Corona verschweigende und die Corona-Impfung strikt ablehnende und mittlerweile verstorbene Präsident John Magufuli), miteinander über die Folgen der Pandemie für unsere Länder und unsere Kirchen zu sprechen und dann seinen mutigen Hirtenbrief zu lesen, in dem er alle Kirchenleitenden der ELCT aufrief, die Kirchenmitglieder „zu ermutigen, nicht lediglich zu beten und sich auf Gott zu verlassen, sondern auch nicht damit aufzuhören, alle von Gesundheitsexperten verkündeten Vorsichtsmaßnahmen zu beachten.“ 4 Ebenso beeindruckt mich der unablässige Einsatz von Bischof Shoo für umfängliche Baumpflanzaktionen, um den Folgen der Abholzung des Kilimanjaro-Regenwaldes entgegenzuwirken - 1,5 Millionen Bäume sind das ehrgeizige Ziel, das symbolisch für seinen Einsatz für eine nachhaltige Umweltpolitik in Tansania steht. Dass wir über das ZMÖ als Nordkirche Klimaschutzprojekte in Tansania begleiten und fördern und dabei selbst von ihnen lernen können, ist ein wichtiger Teil unserer Partnerschaft.
Bewegend war das Zoom-Meeting mit den indischen Bischöfen Godwin Nag und Ashis Pal sowie weiteren Vertretern unserer indischen Partnerkirchen und Dr. John Oommen, Leiter des Hospitals, Anfang Mai diesen Jahres. Zu diesem Zeitpunkt war die Corona-Situation in Indien extrem dramatisch, vermutlich erinnern Sie sich alle an die alarmierenden Bilder und Berichte. Mir war es wichtig, dieses Gespräch zu initiieren, um von der Situation dort zu erfahren, die Ängste und Nöte aufzunehmen und anzuhören, mir Verzweiflung und spirituelle Sorgen zu Herzen zu nehmen. Einer der Bischöfe sagte damals, viele Menschen in Indien hätten das Gefühl, dass da niemand mehr ist, an den man sich wenden kann, der sich kümmert - da sei nur noch Gottes Gnade, zu der die Menschen fliehen. Ich bin sehr dankbar, dass wir Sorgen und Fürbitten teilen und auch ganz praktisch finanziell helfen konnten und das auch weiterhin tun.
Die Situation unserer beiden genannten Partnerkirchen in Tansania und Indien macht exemplarisch deutlich, was uns im Blick auf die Corona-Pandemie klar vor Augen stehen sollte: „No-one is safe until everyone is safe“5 - in unserer eng miteinander verflochtenen Welt ist niemand sicher, wenn nicht alle sicher sind. Mit diesen Worten ist ein Appell überschrieben, den der Lutherische Weltbund, und damit auch wir als eine seiner Mitgliedskirchen, zusammen mit anderen Religionsgemeinschaften und humanitären Organisationen im Mai an die Staats- und Regierungsverantwortlichen weltweit gerichtet hat: Die am stärksten gefährdeten Menschen in den Ländern mit den niedrigsten Einkommen müssen zeitnah und umfassend mit Corona-Impfstoffen versorgt werden und Zugang dazu bekommen.
No-one is safe until everyone is safe!
Mit vielen Menschen im globalen Süden verstehe ich nicht, dass die in unserem Land mittlerweile umfänglich, kostenlos, frei und unkompliziert zur Verfügung stehenden Impfstoffe und Impfmöglichkeiten nicht von allen, die sie nutzen könnten, auch genutzt werden. Ich selbst habe sehr auf die Impfung gewartet und sie genutzt, sobald ich an der Reihe war. Weil ich überzeugt bin: Impfen hilft, selbst gesund zu bleiben, es hilft, das Leben anderer zu schützen, auch derer, die sich nicht impfen lassen können, es hilft unseren Kindern und Enkelkindern, so gut wie möglich vor Ansteckung und Erkrankung geschützt zu sein und unbesorgt in Kindergarten und Schule spielen und lernen zu können.
Lasst uns als Nordkirche dazu beitragen und dabei helfen, dass Menschen sich impfen lassen - mit Gesprächen und Informationen, mit mobilen Impfteams bei Tafeln und Gemeindeveranstaltungen, mit Impfaktionen in kirchlichen Räumen und Einrichtungen. Allen in Kirche und Diakonie, die hier bereits aktiv sind, danke ich dafür ausdrücklich und von Herzen.
Und ich bitte Sie alle, als Synodale, als Zuschauende, sehr herzlich: Lassen Sie sich impfen und helfen Sie mit, damit auch andere sich impfen lassen!
Wenn wir über globale Verantwortung und ökumenische Partnerschaften nachdenken, über unsere weltweite Verflochtenheit, über Klima-Gerechtigkeit und die Notwendigkeit, voneinander zu lernen, müssen wir uns dabei auch bewusst machen, dass mehr als 85% des Globus eine koloniale Vergangenheit haben.6
Durch die Auseinandersetzung mit dem Genozid an den Herero und Nama im damaligen sog. Deutsch-Südwestafrika, die Diskussion um die Rückgabe der Benim-Bronzen und die vom Historiker Götz Aly angestoßene Raubkunst-Debatte um das Luf-Boot aus Papua-Neuguinea, das prominent im neuen Humboldt-Forum in Berlin präsentiert werden soll, haben die Themen von Kolonialismus und Postkolonialismus auch bei uns mittlerweile Aufmerksamkeit gefunden. Aber noch immer bedürfen die Kolonialgeschichte unseres Landes und der Zusammenhang von Missions- und Kolonialgeschichte einer intensiven Aufarbeitung.
Die ambivalente Rolle deutscher Missionsgesellschaften, die einerseits die europäische Zivilisierungsidee und damit emanzipatorische Gedanken in die Kolonien brachten, andererseits aber auch zur gewaltsamen Durchsetzung kolonialer Interessen beitrugen, erfordert eine genaue historische Bearbeitung7. Damit geht es aber nicht nur um vergangene koloniale Taten und Strukturen, sondern darum, so der katholische Theologe Sebastian Pittl, „dass die Tätigkeit der Missionare nicht nur die Gesellschaften außerhalb Europas massiv prägte, sondern auch wesentlich zur Formierung des Selbst- und Weltbildes in Europa beitrug.“8 Damit stehen auch die grundlegende Bedingungen, unter denen sich bis heute Begegnungen zwischen Menschen unterschiedlicher Kulturen und Religionen vollziehen, auf den Prüfstand.
Mir liegt deshalb sehr daran und ich bin dafür dankbar, dass sich das ZMÖ insbesondere in Breklum zukünftig verstärkt den Themen Postkolonialismus und — verbunden damit — Antirassismus widmen und dafür in unserer Kirche ein entsprechendes Kompetenzzentrum sein wird. Das Archiv in Breklum, die dort lagernden Unterlagen und Berichte der Missionarinnen und Missionare sind dafür wichtige historische Quellen. Gemeinsam mit dem ZMÖ sehe ich darüber hinaus folgende leitende Fragen und Themen:
- die Entwicklung eines Missionsverständnisses, das Erkenntnisse der postkolonialen Debatte reflektiert und einbezieht,
- die Reflexion und Erhebung der Zusammenhänge von evangelischem Glauben, Mission und Kolonialgeschichte sowie deren Auswirkungen bis in die Gegenwart, z.B. auf unsere heutigen Partnerschaftsbeziehungen und die kirchliche Entwicklungs-zusammenarbeit
- die Mitarbeit an einer Theologie, die die kolonialen und postkolonialen Erfahrungen in ihre Gedanken mit einbezieht, z.B. im Blick auf die Rede von Gott, auf wirtschaftsethische Fragen oder das Verständnis der Schöpfung.
Die Themen und Stimmen unserer Partner:innen aus der ganzen Welt helfen uns zu verstehen, wie andere mit der Welt umgehen, sie erweitern unseren Horizont und mit Sicherheit auch unsere „Horizonte“. Dazu tragen insbesondere die jungen Leute bei, die als Süd/Nord- und Nord-Süd-Freiwillige über das ZMÖ in Kirchengemeinden und Projekten arbeiten. Die Andacht von Neema aus Tansania, die als Süd/Nord- Freiwillige derzeit in einem Kindergarten in unserer Nordkirche arbeitet, war bei der Generalversammlung des ZMÖ in Breklum dafür ein sehr eindrückliches Beispiel. Wie gut, dass dieser Austausch auch in Zeiten der Pandemie stattfinden konnte bzw. nach einer Pause jetzt neu beginnen kann!
Das geschwisterliche Gespräch und die geteilte Spiritualität können uns - hoffentlich - dabei helfen, eigene Ansprüche auf Diskurshoheit und Deutungsmacht aufzugeben und sie auch dort, wo sie sich in unseren nordkirchlichen Zusammenhängen zeigen, in Frage zu stellen. Unsere weltweiten Partnerschaften tragen so dazu bei, dass wir wirkliche Weltbürger:innen werden, sie sind Motor für die so dringend nötige globale Verantwortungsgemeinschaft weit über den Raum der Kirchen und des christlichen Glaubens hinaus in Kooperation mit anderen Religionsgemeinschaften, humanitären Organisationen, zivilgesellschaftlichen Akteur:innen und Regierungen. Unsere Partnerschaften lehren uns, wie wir thematisch kooperieren, auch dann, wenn wir nicht in allen Themen Einigkeit haben. Sie vertiefen und schärfen damit auch unser Verständnis von Gemeinschaft - darauf komme ich gleich noch einmal zurück. Auch deshalb freue ich mich sehr, im kommenden Jahr 2022 als Delegierte der EKD an der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Karlsruhe teilzunehmen zu können. Besonders freue ich mich auf die Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes (LWB) ein Jahr später in Krakau, die unter dem Motto „Ein Leib. Ein Geist. Eine Hoffnung“ stehen wird. Ich möchte bei dieser Gelegenheit daran erinnern, dass die konkrete Hilfe angesichts weltweiter Flüchtlings- und Migrationsbewegungen ein zentraler Beweggrund zur Gründung des LWB im Jahr 1947 war. Auch heute ist das Kernaufgabe des LWB - und über unsere Mitgliedschaft dort sind auch wir mit ihm insbesondere in der Not- und Katastrophenhilfe und im internationalen Einsatz für Menschenrechte engagiert. Der LWB-Weltdienst ist einer der zehn größten Implementierungspartner des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, derzeit ist er in 27 Ländern auf drei Kontinenten tätig. Im Zugehen auf die Vollversammlung in Krakau 2023 bereiten wir im Deutschen Nationalkomitee in einer Arbeitsgruppe eine Positionierung zum Themenschwerpunkt „Gender Justice - Geschlechtergerechtigkeit“ vor. Sicher werden wir bei der bevorstehenden Kirchenleitungsbegegnung mit unseren polnischen Partnern im November/Oktober in Güstrow viel Anregendes zum Stand der Vorbereitungen auf die LWB-Vollversammlung hören.
Mit unseren Partner:innen sehen wir die Welt nicht nur mit unseren Augen. Durch sie hören wir neu auf die vielstimmige Welt und unsere Mitgeschöpfe. Ich bin mir sicher, dass ein solches Hören uns hilft, ein neues Verständnis für Gottes Schöpfung zu entwickeln und unserem Auftrag, sie zu behüten und zu bewahren, besser und entschiedener als bisher nachzukommen. Ein solches Hören, so sagt es der Theologe Willie James Jennings, führt aber auch zu der schmerzhaften Erkenntnis, „dass die Geschichte des Christentums eine Geschichte des Nicht-Hörens auf die Erde ist, weil wir nicht genügend Mitbewohnern der Erde zugehört haben.“9
Nicht ohne Grund plädiert der französische Philosoph Bruno Latour in seinem „terrestrischen Manifest“ 10 dafür, ein neues Verständnis des Zusammenhangs von Natur, Wissenschaft und Ökologie zu entwickeln. Es geht ihm um eine neue Perspektive, in der wir die Erde nicht aus der Ferne betrachten, sie benutzen und verwerten, sondern aus einer teilnehmenden Nähe heraus. Wir Menschen stehen dann nicht mehr im Zentrum und wir sind auch nicht die einzigen, die handeln. In der Theologie ist dazu derzeit von nicht auf den Menschen zentrierten Schöpfungstheologien 11 die Rede. Erst mit einer ihnen entsprechenden Haltung werden wir sozusagen wirklich auf der Erde landen und uns hier beheimaten. Heimat ist dann keine Herkunftsbezeichnung mehr, sondern der Ort, wo wir gebraucht werden, das Netzwerk unserer Abhängigkeiten und Zugehörigkeiten.
Ich bin gespannt, wie sich diese Themen zu einer neuen Theologie der Schöpfung und einer sich im Zusammenhang damit ändernden Anthropologie in unseren nordkirchlichen Debatten zu Klimaschutzmaßnahmen niederschlagen. Die Zeit, in der wir konkret und entschieden unsere nordkirchlichen Klimaziele umsetzen müssen, ist jetzt – auch deshalb sehe ich mit großem Interesse auf die Landessynode im kommenden Februar, die sich dieser Thematik widmen soll.
2. Kooperierende Nordkirche in gesellschaftlicher Verantwortung –
in Kommunikation und Interaktion
Gemeinschaft, Verbundenheit und Kooperation, Heimat als Ort unser Beziehungen, unserer Abhängigkeiten und Zugehörigkeiten - in und durch die Pandemie haben diese Themen eine neue Relevanz gewonnen. Sicher auch deshalb, weil Immunitätsdebatten neben dem medizinischen immer auch einen die Gemeinschaft, das Miteinander betreffenden Aspekt haben. Dann geht es darum, wer von Gemeinschaft ausgeschlossen und in Gemeinschaft eingeschlossen wird, und auch darum, welche Gegengabe die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft erfordert.12 Immunitätsdebatten sind deshalb immer auch Gemeinschaftsdebatten.13 Gegenwärtig werden sie häufig verbunden mit der Forderung nach „gesellschaftlichem Zusammenhalt“. Wie aber soll der entstehen? Was tragen wir als Kirche dazu bei? Wir öffnen Räume für Debatten zu Themen des gesellschaftlichen Lebens. Wir beziehen Positionen, wie zB. vor einigen Tagen mit der Stellungnahme der Kirchenleitung an die Landesregierungen im Norden zur Aufnahme von Geflüchteten aus Afghanistan. Wir gestalten Debatten mit als eine gesellschaftliche Akteurin unter anderen. Wir suchen nach möglichen Kooperationen für Positionen und Interessen. Damit handeln wir so wie andere zivilgesellschaftliche Akteur.innen auch.
Gibt es darüber hinaus aber etwas, was insbesondere wir als evangelische Kirche dazu beitragen können? Ich denke: ja. Nämlich: Ein Verständnis von Gemeinschaft, das für das Zusammenleben in einer pluralen Gesellschaft hilfreich ist. Dieses Verständnis von Gemeinschaft hat seine Wurzeln in unserer reformatorischen Tradition. Es hilft dabei, Beschwörungen einer vermeintlichen Identität, die zu Abgrenzungen gegen jeweils „Andere“ und zu immer neuen Spaltungen führen, und so Gemeinschaft nicht stärken, sondern schwächen, in ihre Schranken zu weisen. Wenn eine Gemeinschaft durch Ausschluss des ihr angeblich Fremden gefestigt werden soll, z.B. mit Hass und Hetze gegen Flüchtlinge und Migrant:innen, verkörpern wir als Kirche demgegenüber eine Gemeinschaft, zu der alle eingeladen sind. Und zwar nicht von uns Menschen, sondern von dem, der in unserem Gemeinschaftsverständnis der allein Einladende ist: Christus.
Darüber hinaus entsteht Gemeinschaft, so das reformatorische Kirchenverständnis, nicht dadurch, dass ihre Mitglieder bestimmte Eigenschaften aufweisen und eine vorbestimmte Identität haben müssen. Sondern: sie entsteht durch Kommunikation und Interaktion. In den Bekenntnisschriften ist das ganz klassisch formuliert: durch Wort und Sakrament. Gemeinschaft ist damit keine feste, unveränderliche Größe mit starren Abgrenzungen, sondern ein performativer Akt: indem sie zugesagt wird, ereignet sie sich sich. Und das eben immer wieder anders und immer wieder neu.
Zu gesellschaftlichen Debatten von Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit haben wir als evangelische Kirche also grundsätzlich beizutragen, dass Gemeinschaft „ein sich immer wieder erneuernder und zukunftsorientierter Kommunikationsort“14 ist. Ein Ort, an dem „Auseinandersetzungen und Konflikte nicht von vornherein zu verdrängen wären, sondern ausdrücklich als grundlegende Aspekte anerkannt und als solche zur Sprache gebracht werden müssten.“15 Aus unserem evangelischen Glauben heraus vertreten wir als Kirche also ein Verständnis von Gemeinschaft, das alles andere als identitär ist. Es wird nämlich nicht „durch das Freund-Feind-Schema stabilisiert“, durch Ausschluss von angeblich „Anderen“, sondernist gerade durch eine „Durchlässigkeit und damit Offenheit für die Freiheit des Fremden bzw. Anderen gekennzeichnet.“16
Als Kirche eröffnen wir Möglichkeiten, damit Gemeinschaft sich ereignen kann. Durch Kommunikation und Interaktion, in analogen Begegnungen und Veranstaltungen ebenso wie mit Hilfe digitaler Medien. Dialogisch. Partizipativ. Gemeinschaft, die immer wieder neu antwortet auf die menschliche Sehnsucht danach, gesehen und anerkannt zu werden: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Es ist dieSehnsucht nach einem Gegenüber, das Ja zu uns sagt, uns Geborgenheit und Schutz gewährt: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“
Diese Sehnsucht will immer wieder neu beantwortet werden - und sie wird es auch. Denn, so hat Martin Luther es formuliert, als Menschen sind wir das Geschöpf, mit dem Gott ewig im Gespräch sein will 17 – eben in Kommunikation und Interaktion. Und so entstehen Trost und Hoffnung.
Für eine solche Gemeinschaftsbildung will ich exemplarisch die „Stille Nacht“-Sing-Aktion zu Heilig Abend nennen. Im Vorfeld von Weihnachten - Sie erinnern sich - gab es ob der gestiegenen Inzidenzzahlen in unserer Kirche sehr konträre Ansichten zu der Frage, ob und in welcher Form an Heilig Abend und den Weihnachtstagen Gottesdienste gefeiert werden. Viele Kirchenälteste, Pastorinnen und Pastoren und Musizierende in den Gemeinden dazu intensiv miteinander um Antwort gerungen. Im Krisenstab, in Bischofsrat und in Kirchenleitung war das nicht anders. Gemeinsam haben wir, und dafür bin ich allen Beteiligten dankbar, eine gemeinsame Haltung unserer Kirche erarbeitet. Für deren Kommunikation insbesondere in die Gemeinden habe ich vor Weihnachten das Medium der Videoansprache genutzt. Es hat mich gefreut, dass sie 3500 mal gesehen und geteilt wurde.
Mir war aber auch deutlich, dass es aufgrund der großen Differenzen und z.T. auch Konflikte bis in die Gemeindekirchenräte hinein etwas braucht, was uns an diesem Abend über alle Unterschiede in dieser Frage hinweg zusammenbringt und eint. Ewas, dass trotz individueller Entscheidungen Gemeinschaft unter uns herstellt. Im genannten Video habe ich am Ende vorgeschlagen, am Heiligen Abend um 20 Uhr im Freien, im Garten, vor der Tür, auf dem Balkon das Weihnachtslied „Stille Nacht - Heilige Nacht“ zu singen und zu musizieren. Diese Idee wurde auch öffentlich gemacht - und sie hat verfangen. Der Wunsch und die Sehnsucht, an diesem Abend nicht allein zu sein, die Verbundenheit mit anderen zu spüren, auch ohne in der Kirche nebeneinander zu sitzen, haben sich mit Hilfe dieser Idee erfüllt. Rasch wurde die Idee sowohl innerhalb wie außerhalb unserer Kirche verbreitet, und es entstand eine Aktion. Ein kleiner Clip für die sozialen Medien wurde gedreht und von den unterschiedlichsten Akteur:innen verbreitet, was Medienberichterstattung nach sich zog - ein Schneeballeffekt. Die Idee hat Resonanz gefunden, weil sie einen Wunsch, sowohl den nach ein religiöser Gemeinschaft wie den nach nach Nähe und Verbundenheit an einem stillen Abend entsprochen und ihm Ausdrucksmöglichkeit gegeben hat. Zeitungen und verschiedenen Akteur:innen in den sozialen Medien haben erneut die mittlerweile zur Aktion gewordene Idee verbreitet, das ZDF-heute-journal berichtete, und über die Radiosender NDR und RSH wurde sie aufgegriffen und noch breiter gestreut. Der NDR schlug von sich aus vor, um 20 Uhr die Musik zu diesem Lied im Radio zum Mitsingen zu spielen. So konnte man auch allein im Wohnzimmer einstimmen und sich verbunden fühlen in der Gemeinschaft derer, die an diesem Abend Weihnachten feierten. Und das durch das Singen eines Kirchenliedes, dessen Text in dieser Heiligen Nacht besonders gut in Worte fasste, was viele empfunden haben.
Mich hat sehr bewegt, dass die Idee auch in unseren Nachbarkirchen Hannover und Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz sowie in der weltweiten Ökumene aufgegriffen wurde. Der Ökumenische Rat der Kirchen hat sie über die sozialen Medien verbreitet und es gab weltweit eine überaus positive Resonanz. Ein besonders berührendes Beispiel dafür ist das Video des Personals einer schwedischen Covid19-Intensivstation, die sich ebenfalls beteiligt und ein entsprechendes Video verbreitet hat. Mit der Aktion sind auch neue Verbindungen und Kontakte zur Nordkirche, zu mir als Landesbischöfin, und – noch viel wichtiger - von Menschen, die sich beteiligt haben, untereinander entstanden. Das ist eine weitere, nachhaltige Auswirkung.
Ich erläutere dieses Beispiel für Gemeinschaftsbildung durch Kommunikation und Interaktion auch deshalb so ausführlich, weil es verdeutlicht, was ich in meinem letzten Bericht als Landesbischöfin als Zusammenspiel von analoger und digitaler Kommunikation, als Interaktion über einzelne Medienformate und über Grenzen hinweg beschrieben habe. Nebenbei bemerkt: Diese Aktion hat bei maximaler Reichweite ein Minimum an personellen und finanziellen Ressourcen benötigt. Denn: Sie hat Resonanz erfahren, sie hatte für Menschen eine Bedeutung, wurde deshalb von ihnen selbst verbreitet, populär und publik gemacht. Sie war dialogisch und partizipativ. Sie war auf Kooperation hin angelegt und hat darauf vertraut, dass diese stattfindet und trägt. Bereits im Vollzug hat sich dabei das ereignet, was auch das Ziel war: Verbundenheit und Gemeinschaft zu erleben.
Exemplarisch für einladende, aber nicht vereinnahmende Gemeinschaftsbildung und Kooperation mit anderen über den kirchlichen Binnenraum hinaus will ich aus dem letzten Jahr zwei weitere Ereignisse nennen: den digitalen Gottesdienst zum Heiligen Abend, in dem die Ministerpräsident:innen aller drei Bundesländer im Norden die Weihnachtsgeschichte gelesen haben. Ich freue mich noch immer, dass Manuela Schwesig, Daniel Günther und Peter Tschentscher unmittelbar und mit Freude zugesagt hatten, an diesem Gottesdienst aus dem Schweriner Dom mitzuwirken. Ebenso war diese Kooperation, in jeweils etwas unterschiedlicher Form, möglich bei den drei ökumenischen Gottesdiensten mit interreligiöser Beteiligung, die wir anlässlich der einjährigen Dauer der Corona-Pandemie in Schwerin, Kiel und Hamburg gefeiert haben. Wir haben der Gestorbenen gedacht, aber auch derer, die in der Pandemie besondere Belastungen erlebt haben und für sie Kerzen entzündet. Entstanden ist die Idee dazu übrigens bei einem Gespräch mit der Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern am Rande meiner Adventsandacht und meines Landtagsbesuches dort.
In diesen Gottesdiensten haben neben den Ministerpräsident:innen auch Menschen mitgewirkt, die in der Pandemie besonders belastet waren, wie z.B. aus dem Pflegebereich, den Schulen, der Beratungsarbeit. Insbesondere bei diesen Gottesdiensten wurde deutlich, dass wir als Kirche und als Religionen nicht nur, aber sicher besonders in Zeiten der Pandemie und anderer gravierender Verlusterfahrungen, deutlich gesucht und wahrgenommen werden „als kulturelle Instrumente existentieller Verlustbewältigung“. Ich gehe davon aus, dass diese Aufgabe angesichts der zunehmenden Bedeutung, die kollektive Verlusterfahrungen in den sich abzeichnenden Veränderungen unserer Gesellschaft haben werden, auch zukünftig zentral für uns sein wird.
Ein weiteres Kooperationsprojekt, dieses Mal eher mit dem Akzent darauf, über die Bedeutung des christlichen Glaubens für existentielle menschliche Fragen nachzudenken, war der gemeinsam mit dem Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlag und der Schweriner Volkszeitung herausgebrachte Podcast in der Karwoche und zu Ostern. Dabei haben wir u.a. über Einsamkeit, Leiden, Schuld und Vergebung, Tod und Sterben gesprochen - existentielle Fragen menschlichen Lebens, die eng mit der Karwoche und Ostern verknüpft sind. Auch hier - wie in den anderen genannten Beispielen - war das Schlüsselwort: Kooperation. Und auch hier fand durch das Medium Podcast Ausdruck, was es heißt, dialogisch Kirche zu sein: Im Gespräch. Nahbar. Ohne doppelten Boden und große Inszenierung.
Als kooperierende Kirche in gesellschaftlicher Verantwortung schaffen wir immer wieder neue analoge wie digitale Begegnungs- und Erfahrungsorte, in denen Menschen erleben: Hier kann ich gemeinsam mit anderen bedenken und jeweils neu verstehen, was evangelischer, lutherischer Glaube und Frömmigkeit für mein Leben und unser Zusammenleben bedeuten. Hier kann ich gemeinsam mit anderen das mir und uns von Gott geschenkte Leben feiern und seine Verluste betrauern. Hier finde ich Trost und Hilfe - und kann selbst Trost und Hilfe geben. All das vor dem Angesicht Gottes, geborgen in der Liebe Christi, ermutigt durch Gottes Geistkraft.
3. Kooperation innerhalb der Nordkirche –
Diakonie und verfasste Kirche im Miteinander, Gemeinschaft im Verkündigungsdienst
Kooperierende Kirche sein in globalen Herausforderungen, kooperierende Kirche in gesellschaftlicher Verantwortung – zum Schluss noch ein paar Worte zu Kooperation innerhalb unserer Kirche. Wie wichtig ein gutes Zusammenspiel und eine gute Abstimmung zwischen den verschiedenen Bereichen und Ebenen unserer Nordkirche ist, wurde durch viele Stellungnahmen zum Zukunftsprozess deutlich. Auch, dass dabei durchaus noch Luft nach oben ist. Wie sollte es in einer föderalen Struktur wie der unsrigen auch anders sein da gibt es immer was zu tun. Doch dazu morgen mehr beim Bericht zum Zukunftsprozess. Digitalisierung ist ein weiteres zentrales Thema, bei dem bessere Kooperation sowohl erreicht werden soll als auch benötigt wird, um deutliche Schritte voran zu gehen. Dazu werde ich mehr im Bericht der Kirchenleitung sagen. Für diesen Bericht beschränke ich mich auf zwei, wiederum exemplarische Themen: Zum einen das Miteinander – oder die Kooperation – von Diakonie und verfasster Kirche, zum anderen das Miteinander – oder die Kooperation – im Verkündigungsdienst.
Wie wichtig eine gute Abstimmung und Kooperation zwischen verfasster Kirche und Diakonie ist, wurde Anfang des Jahres besonders deutlich: Im Januar veröffentlichten die Theologieprofessor:innen Reiner Anselm und Isolde Karle gemeinsam mit Ulrich Lilie, Präsident der Diakonie Deutschland, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen Text. Er trug die Überschrift „Den assistierten professionellen Suizid ermöglichen“ und plädierte für dessen Ermöglichung auch in kirchlichen und diakonischen Einrichtungen.18 Widerspruch von Seiten anderer Theolog:innen und auch aus der verfassten Kirche sowie der Diakonie erfolgte umgehend.
Ich will auf die Einzelheiten dieser Debatte nicht näher eingehen. Wichtig ist mir an dieser Stelle: wir benötigen ein Miteinander von Diakonie und verfasster Kirche, in dem wir Themen wie dieses zusammen besprechen und bearbeiten. Und dann im Idealfall mit einer Stimme sprechen. Auch dafür war die online-Veranstaltungsreihe zum assistierten Suizid (in kirchlichen und diakonischen Einrichtungen) gedacht, zu der ich im Februar und März eingeladen hatte.
Ich habe mich gefreut, dass wir dabei jeweils rund 70 Teilnehmende begrüßen konnten (mehr wollten wir nicht zulassen, um neben fundierten Vorträgen auch noch Raum für das Gespräch zu lassen), zu denen regelmäßig auch die Landespastoren der Diakonie gehörten. Am Ende dieser Veranstaltungsreihe stand die Verabredung, in der Nordkirche eine gemeinsame Positionierung von verfasster Kirche und Diakonie zum assistierten Suizid zu erarbeiten. Wir werden bald ein Ergebnis vorlegen.
Ebenso haben wir als Kirche und Diakonie in der Diakonischen Konferenz ein gemeinsames Votum zum Verhältnis von Kirche und Diakonie für den Zukunftsprozess beraten. Dabei steht das „Handlungsfeld Sozialraum“ besonders im Fokus. Ich erlaube mir, einen Satz dazu aus diesem Votum zu zitieren, den ich für grundlegend und wegweisend halte. Er lautet: „Parochiale und diakonische Angebote werden im Sozialraum gleichermaßen als kirchliche Orte wahrgenommen.“
Wenn ich diesen Grundsatz in die Zukunft hinein weiter ausziehe, sehe ichMitarbeitende aus Kirche und Diakonie, die ihre Arbeit in einem Sozialraum durchgängig gemeinsam planen und gestalten. Nicht die jeweiligen Zuständigkeiten von Kirche und Diakonie strukturieren dann die evangelische Präsenz im Sozialraum, sondern Themen und Projekte, die gemeinsam verantwortet und gestaltet werden – in gegenseitiger Wertschätzung für die je eigenen Kompetenzen, als öffentlich sichtbaren und erfahrbaren christlichen Glauben, engagiert für die Gesellschaft und mit ihr interagierend. Gemeinde ist dann nicht mehr gleichbedeutend allein mit „Parochie“. Sondern Gemeinde ist da, wo das Evangelium vom menschenliebenden und versöhnenden Gott gelebt, weitergesagt und weitergegeben wird. In kirchlichen Räumen wie in diakonischen Einrichtungen, im Gottesdienst wie in der Kita, in Pflegeheimen wie in evangelischen Schulen. Und die Arbeit von verfasster Kirche und Diakonie geschieht kooperativ und multiprofessionell, primär orientiert nicht an wirtschaftlichen Gütern, sondern an Gottes Güte.
Kooperierend und multiprofessionell – mit diesen Worten beschreiben auch junge Menschen, die sich auf eine spätere Berufstätigkeit im Verkündigungsdienst vorbereiten, ihre Vorstellung des Miteinanders der unterschiedlichen Berufsgruppen im Verkündigungsdienst. Und sie beziehen in ihre Überlegungen auch selbstverständlich ehrenamtlich Mitarbeitende mit ein. Bei meinem Treffen mit Studierenden aus Religions- und Gemeindepädagogik, Kirchenmusik und Theologie – dem ersten seiner Art - kam genau das zum Ausdruck.
„Multiprofessionell im Weinberg des Herrn“ - so heißt ein Handlungsfeld im Zukunftsprozess. Auch dazu werden wir morgen Näheres hören. Fest aber steht schon jetzt - und ich finde das überaus ermutigend und inspirierend -: Kommende Generationen wollen und werden genau so arbeiten. Sie tun es schon jetzt. An uns ist es, jetzt weiter dafür die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen zu schaffen, damit ein solches Miteinander im Verkündigungsdienst gelingt. Damit der allen gemeinsame Auftrag, der von unterschiedlichen Professionen mit verschiedenen Zugängen und Kompetenzen erfüllt wird, im Mittelpunkt steht. Schon jetzt freue ich mich auf die weiteren Treffen mit dem sog. „Nachwuchs“ im Verkündigungsdienst - analog wie digital - und auch darauf, die berufsgruppenübergreifenden Treffen fortzusetzen.
Schluss
Die wiedergefundene Zeit oder: Die Neuentdeckung der Berufung
Am Ende der „Suche nach der verlorenen Zeit“ entdeckt der Protagonist, der schon immer Schriftsteller werden wollte, es aber nie vermochte, was für ihn nötig ist, um seiner Berufung folgen zu können. Er gibt sich seinen Erinnerungen hin, fasst sie in Worte, er bearbeitet schreibend Verluste und Erlebnisse. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit findet er sich selbst und entdeckt seine Berufung neu. Dieser letzte Teil trägt die Überschrift: „Die wiedergefundende Zeit“.
Seid jederzeit bereit, Rechenschaft abzulegen über die Hoffnung, von der ihr erfüllt seid.
1. Petrus 3,15
Inmitten von Verlusterfahrungen, Transformations- und Veränderungsprozessen erfahren wir, wie verwundbar, verletzlich, gefährdet unser eigenes Leben inmitten allen Lebens auf dieser Erde ist. Die Suche nach dem, was sein wird, hat begonnen. Die Kirche, die wir sein werden, zeichnet sich erst in Umrissen ab. Ich sehe sie als eine kooperierende Kirche. Dialogisch und partizipativ – in ihrer Verkündigung, ihrer Haltung, ihren Strukturen, ihrer Kommunikation.
Eine kooperierende Kirche, die ihre weltweiten, ökumenischen, interreligiösen und zivilgesellschaftlichen Beziehungen nutzt. Die selbst entschieden beiträgt zu einem weltweiten Netzwerk von Barmherzigkeit, Nächstenliebe, Geschwisterlichkeit. Die mitarbeitet an einem globalen Gemeinsinn. Ich sehe sie als eine Kirche, die die Angst vor Veränderung, vor Verlust und Verzicht hinter sich lässt, weil die Liebe Gottes, die Schöpfung und Geschöpfe erhält, vor ihr liegt und ihr freundlich entgegenkommt. Weil diese Liebe immer mehr Möglichkeiten eröffnet, als wir ahnen und uns je träumen lassen. Ich sehe sie als eine Kirche, die von ihrem Auftrag her denkt, die konsequent mit anderen kooperiert, um alles zu fördern, was der Bewahrung der Schöpfung und dem Leben der Menschen dient. Eine Kirche, die selbst einfacher und bescheidener wird - in ihren Strukturen wie ihren eigenen Ansprüchen. Aber grenzenlos ist in ihrer Liebe, leidenschaftlich in ihrem Engagement für Gerechtigkeit und Frieden, überfließend von Güte. Eine Kirche, die sich nicht in der Suche nach einer verlorenen Zeit verliert, sondern sich findet, in dem sie ihre Berufung neu entdeckt. Und so den Worten des 1. Petrusbriefes folgt: „Seid jederzeit bereit, Rechenschaft abzulegen über die Hoffnung, von der ihr erfüllt seid.“ (1. Petrus 3,15)
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Landesbischöfin Kristina Kühnbaum-Schmidt
Download
Zu einer kooperierenden Kirche angesichts der Gefährdung des Lebens (Druckfassung, pdf)
Bericht vonLandesbischöfin Kristina Kühnbaum-Schmidt vor der Landessynode der Nordkirche.
September 2021
Endnoten
1 Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Frankfurter Ausgabe in drei Bänden, Frankfurt/M 2017.
2 zit. nach Michael Schüßler, Entzogenes Ereignis? Zur positiven Aktualität von Certeaus theologischer ‚Arbeit am Negativen‘, in: Christian Bauer/ Marco A. Horace (Hrsg.), Gott, anderswo? Theologie im Gespräch mit Michel de Certeau, Ostfildern 2019, 147-176, 163.
3Vgl. Jörg Hübner, Nachhaltigkeit. Reformation heute, herausgegeben vom sozialwissenschaftlichen Institut der Reformation, Hannover 2016, 9.
4 Hans Blumenberg, Nachdenklichkeit. Dankesrede zur Verleihung des Sigmund-Freud-Preises für wissenschaftliche Prosa 1980, in: Jahrbuch der deutschen Akademie für Sprache und Dichtung II/1980, 57-61, 61.
5 Vgl. Bischof Frederic Shoo, Hirtenbrief zur Corona-Lage in Tansania vom 21.1.2021.
6 Appell für eine globale „Gesundheit für alle“-Strategie vom 24.5.2021,Text: https://www.lutheranworld.org/sites/default/files/2021/documents/global_statement_on_vaccine_equity_240521_0.pdf (letzter Zugriff 5.9.2021)
7 Vgl. Sebastian Pittl, Für eine „Globalisierung der Hoffnung“. Zur Relevanz postkolonialen Denkens für Theologie und Missionswissenschaft, in: ders. (Hrsg.), Theologie und Postkolonialismus. Ansätze - Herausforderungen - Perspektiven, (Weltkirche und Mission 10), Regensburg 2018, 9-23, 9.
8 Vgl. z.B. Rebekka Habermas/ Richard Hölzl (Hrsg.), Mission global. Eine Verflechtungsgeschichte seit dem 19. Jahrhundert, Köln/ Weimar/ Wien 2014. Sebastian Pittl, Für eine „Globalisierung der Hoffnung“. Zur Relevanz postkolonialen Denkens für Theologie und Missionswissenschaft, in: ders. (Hrsg.), Theologie und Postkolonialismus. Ansätze - Herausforderungen - Perspektiven, (Weltkirche und Mission 10), Regensburg 2018, 9-23, 11.
9 Willie James Jennings, Neuformulierung der Welt: Auf dem Weg zu einer wirklichen christlichen Schöpfungslehre, in: Ökumenische Rundschau 67, 3/2018, 357-381,379.
10 Bruno Latour, Das terrestrische Manifest, Frankfurt/M 2018.
11 Vgl. dazu die Themen der Ringvorlesung zum WS 2021/22 „Animate Theologies“ an der TU Dresden, u.a. Gregor Taxacher, „Er war mit den Tieren“ (Mk 1,13) – Hermeneutische und geschichtstheologische Überlegungen zur Anthropo-De-Zentrierung biblischen Glaubens, https://tu-dresden.de/gsw/der-bereich/news/ringvorlesung-animate-theologies-im-wise-2021-22 (letzter Zugriff 6.9.2021)
12 Vgl. Roberto Esposito, Immunitas. Schutz und Negation des Lebens, Berlin 2004 und ders., Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft, Berlin 2004.
13 Elisabeth Gräb-Schmidt/ Fernando G. Menga, Gemeinschaft an der Schnittstelle des sozialphilosophischen und theologischen Diskurses, in: dies. (Hrsg.), Grenzgänge der Gemeinschaft. Eine interdisziplinäre Begegnung zwischen sozial-politischer und theologisch-religiöser Perspektive, Tübingen 2016, 1-13, 6.
14 Ebd.
15 Gräb-Schmidt/ Menga, Gemeinschaft, aaO., 7.
16 Vgl. Martin Luther, Genesisvorlesung, WA 43 (1912), Kapitel 17-30; hier: Kapitel 26, 481, z. 34-35: „Persona Dei loquentis et verbum significant nos tales creaturas esse, cum quibus velit loqui Deus usque in aeternum et immortaliter.“
17 Andreas Reckwitz, Auf dem Weg zu einer Soziologie des Verlusts, Essay vom 6.5.2021, veröffentlicht auf Soziopolis (https://www.soziopolis.de/auf-dem-weg-zu-einer-soziologie-des-verlusts.html, letzter Zugriff 7.9.2021)
18 Reiner Anselm/Isolde Karle/Ulrich Lilie, Den assistierten professionellen Suizid ermöglichen, in: FAZ vom 11.1.2021, 6.