28. August 2012 - Ansprache in der Andacht zum 1. Forum Spiritualität-Nordkirche
28. August 2012
Liebe Schwestern und Brüder,
am Pfingstsonntagmorgen, dem Morgen der Gründung unserer neuen Kirche, äußerte Fulbert Steffensky in der Radiosendung „Glaubenssachen“ Pfingstwünsche für unsere Nordkirche. In dieser Sendung sagte er:
„An Christus glauben heißt nicht, einen Satz für wahr halten. Es heißt, seinen Blick auf die Welt lernen.“
Den Blick Jesu auf die Welt lernen – „Geht hin und seht“(Mk 6,38). Dieses Thema unseres Forums Spiritualität ist der Geschichte von der Speisung der Fünftausend entlehnt. Aber seltsam: Diese Geschichte beginnt mit einem Rückzug. Ringsherum ist ein Kommen und Gehen, ein zielloses Hierhin und Dorthin – und in der Luft liegt noch, was vom Ende Johannis des Täufers bekannt geworden war (6,14-29). Da mitten hinein sagt Jesu seinen Jüngerinnen und Jüngern: „Geht ihr an eine einsame Stelle und ruht ein wenig.“
Sich herauslösen, einen Moment zur Ruhe kommen, zu sich selbst und zu Gott finden. Aber die Leute bemerken den Versuch der Einkehr, sich für eine Weile dem Getriebe zu entziehen. Und – die Menschen strömen nur desto zahlreicher herbei! Seltsam, wir Menschen! Oder sollte das uns womöglich ein wichtiger Hinweis für unsere spirituelle Praxis sein? Dass wir uns nicht davor fürchten sollen, die Menschen würden uns aus dem Auge verlieren, wenn wir uns nicht ständig ihnen ‚präsentieren’? Die Jesus-Leute damals machen sich rar, suchen die Stille – und das zieht an, mehr als jede missionarische Strategie!
Als Jesus zu ihnen stößt, jammert ihn die Bedürftigkeit der Menge – „und er fing eine lange Predigt an“. Er begann, „sie vieles zu lehren“, übersetzt die Bibel in gerechter Sprache. In spiritueller Praxis geht es also nicht nur um Methode und Form, sondern auch um Hören und Lernen.
Der Tag neigt sich, als die Jünger an Jesus herantreten und ihn daran erinnern, dass es – bei aller Erbauung – Zeit zu essen ist. Ihre Idee: Sie wollen das Problem delegieren – sollen doch die Leute in die umliegenden Dörfer gehen und sich Brot kaufen. Aber Jesus sagt: „Gebt ihr ihnen zu essen!“ Selbst sollen sie tätig werden. Und als sie darauf verweisen, dass sie dazu nicht Geld genug haben – wie schade!, wie gut! – lässt er nicht locker: „Wie viele Brote habt ihr? Geht hin und seht!“
Ein sehr konkreter, elementarer Impuls: Schaut, wie viele Brote wir haben. Es geht schlicht um den wachen Blick für das, womit sie nicht gerechnet haben, um das unvermutete Brot. „Geht hin und seht!“ Nicht nur bei sich selbst bleiben, nicht allein die eigenen Ressourcen sehen, sondern sich unters Volk mischen und wahrnehmen, was diese Leute mit einbringen können, hingehen, sich nicht darauf beschränken „einladend“ zu sein – darauf kommt es jetzt an. Und das Verrückte ist: Was auf den ersten Blick lächerlich wenig ist, lässt alle ihren Hunger stillen. In Gottes Namen.
„Geht hin und seht!“ Was sehen wir?
Ich bin überzeugt, es geht nicht ohne den großen Hunger. Sehnsucht nach Gott, Schmerz über sein Schweigen, das Fragwürdig-Werden unserer Antworten in Glaubensdingen – all das ist Voraussetzung, dass wir Jesus als den Christus in seinem Wirken neu wahrnehmen. Gott radikal vermissen in dieser Welt – es ist eine geistliche Übung, die wir alle Tage neu zu lernen haben. Wie Martin Walsers Rechtfertigungs-Essay zeigt, gibt es Verbündete auf diesem Weg, die wir so vielleicht nicht vermutet haben.
„Geht hin und seht!“ In der Tradition der mecklenburgischen Kirche, die sich als „Kirche für Andere“ zu verstehen suchte, heißt das, die „Anderen“, und ihre Charismen in den Blick zu nehmen. Gerade auch zum Verstehen des Evangeliums brauchen wir den Dialog mit den Anderen, den Suchenden unserer Tage.
„Nur im Hingehen zu den anderen . . . erhält die Gemeinde sich selbst das Evangelium. Nur im Anreden der anderen begreift die Gemeinde das Evangelium.“, so Heinrich Rathke, einer meiner Vorgänger in einem programmatischen Vortrag.
Also Kirche mit anderen zu sein, sind wir gerufen, sie als Gesprächspartner ernst zu nehmen, gemeinsam mit ihnen zu lernen, was das Evangelium ist – nicht, weil wir vergessen hätten, dass Christus Weg und Wahrheit und Leben ist, sondern um mit den anderen diesen Christus für unsere Zeit verstehen zu lernen.
Aber wer sind sie denn, die berühmten Anderen? Eine erstaunlich bunte Truppe ist da unterwegs:
Angefangen bei denen, die dann mal weg sind, die das Pilgern für sich entdeckt haben und auf eigene Weise betreiben. Es sind Menschen, die sich Rituale leihen, weil sie spüren, dass Rituale Medium sein können für den Grenzverkehr zwischen Immanenz und Transzendenz (Hans-Joachim Höhn).
a) Gehören nicht auch die Fußballfans dazu? Welche Liturgien sind da in den Stadien zu erleben! Welche Sehnsucht nach Zugehörigkeit zu einem größeren Ganzen! Welche Leidensbereitschaft – als Mitglied des FC Hansa Rostock weiß ich, wovon ich rede. Welche Hingabe ist unter Fans zu erleben! All das hat – trotz aller Entgleisungen – quasireligiöse Bedeutung: Es lässt nach Wegen zueinander fragen.
b) Da gibt es eine hochspannende, neue Auseinandersetzung mit dem Thema „Tod“ in unserer Gesellschaft. In Sterbehilfedebatten und Internetforen, im Suchen nach neuen Bestattungskulturen und Todesanzeigen stellen sich Menschen ihrer Sterblichkeit, suchen nach einem ihnen entsprechenden Verhältnis dazu – ein Transzendenzprojekt, das von uns Kirchen kaum schon positiv genug aufgenommen worden ist.
c) Da sind Frauengruppen und Männergruppen, die in Workshops zu Quellen der Identität ihres Geschlechts vorzudringen suchen und dazu gelegentlich Wege gehen, die in mancherlei religiösen Kulturen ihren Ursprung haben.
d) Da sind jene, die allen Ernstes Lebensberatung bei Wahrsagerinnen und Bildschirm-Astrologen suchen, denn auch sie spüren: Ich kann mein Leben nicht allein aus mir heraus gewinnen und gestalten.
e) Oder noch anders: Da sind die jungen Leute, die ohne alle religiösen Anleihen im Tanzen und Feiern das Leben und ihr Glück zu finden hoffen.
Eine kunterbunte Gesellschaft ist da unterwegs: Menschen, die das Leben nicht verfehlen wollen, die auf der Suche sind, Menschen, mit denen es das Evangelium neu zu entdecken gilt.
„Geht hin und seht!“ Das heißt aber auch, sich Unerhörtes sagen zu lassen: „Ihr seid das Salz der Erde. Ihr seid das Licht der Welt!“ Wohlgemerkt kein Imperativ, kein Aufruf, sondern Zusage: Ihr seid es.
Ich kann das nur mit ungläubigem Staunen aussprechen. Salz der Erde, Licht der Welt? Ich kenne doch meine Kraftlosigkeiten. Ich weiß doch um das Dunkel in mir. Und doch soll da etwas sein in mir, in uns allen, was diese großen Worte verdient – Salz der Erde, Licht der Welt. Etwas von Gott in mir, in uns; Christus in uns und wir in ihm – und ich spüre: Wo es uns gelingt, zu dieser Dimension unseres Seins vorzudringen, sie zu berühren und zu erschließen, da wird unser Leben neu, verwandelt es sich, wird stark und lebendig. Da ist eine Kraft in uns – nicht aus eigener Stärke – eine Kraft, die wichtig sein kann auch für die Menschen, die mit uns leben, für die wir mit verantwortlich sind. Da ist ein Leuchten, unscheinbar zwar, aber intensiv, und es vertreibt die Schatten des Todes.
In unseren Häusern der Stille, in Exerzitien im Alltag, auf Pilgerwegen können wir wieder lernen, Zugang zu gewinnen zu dieser Tiefenschicht unseres Seins. Verortet in Gott, herausgenommen aus der Betriebsamkeit unserer Tage und der Rastlosigkeit unserer Gedanken werden wir neu dessen inne, was unseres Lebens Quelle ist. Darum braucht unsere Kirche die spirituellen Zellen, Initiativen und Gruppen wie die Luft zum Atmen. Weil sie signalisieren, was uns in der Breite vielfach an Tiefgang verloren gegangen ist. Aber weil diese Gruppen zugleich auch deutlich machen, welche Schätze wir heben können – jede und jeder für sich in der Beziehung zu Gott, in der Gemeinschaft der Sehnsüchtigen, im Dialog mit den Anderen – mit dem Blick Jesu auf die Welt. Darum: „Geht hin und seht!“.
Zwei Dinge sollen unserer Kirche wichtig sein, ist Fulbert Steffensky überzeugt: „Gott und das Brot der Armen.“ Das ist genug. Amen.