675 Jahre Kirche Ludorf
08. Mai 2022
Liebe Gemeinde,
ich freue mich sehr, an diesem besonderen Festtag bei Ihnen sein zu können. Exakt heute vor 676 Jahren wurde Ihre einmalige Kirche geweiht. Ihr rundes Jubiläum wollten wir eigentlich letztes Jahr schon feiern. Nun holen wir es umso freudiger nach; Sie tun dies schon eine ganze Woche lang. Heute wissen wir: Tatsächlich ist diese besondere Kirche schon weit älter als 676 Jahre, das konnten Wissenschaftler nachweisen.
Die Ludorfer Kirche hat ihr Alleinstellungsmerkmal in ihrer besonderen achteckigen Bauform, vor allem aber in ihrer Geschichte. Die Erzählung vom Kreuzritter Morin ist bewegend. Er gelangt zum heiligsten Ort der Christenheit, der Grabeskirche in Jerusalem. Hier, exakt an dieser Stelle, soll das Kreuz Jesu gestanden haben auf dem Golgathahügel. Und ebenso exakt hier soll sich die Grabkammer des Joseph von Arimathäa befunden haben, in der Jesus beerdigt wurde. Und die die Frauen am Ostermorgen leer vorfanden.
Bis heute pilgern Zehntausende Menschen jedes Jahr zu dieser Kirche, um dort sein zu können, wo Jesus gekreuzigt wurde und auferstand. Ich selbst hatte während meines Studiums in Israel die einmalige Gelegenheit, mich für eine Nacht in der Grabeskirche einschließen zu lassen. Ab Mitternacht beginnen dort Tag für Tag die verschiedenen Konfessionen ihre Liturgien.
Der Kreuzritter Morin muss von Jerusalem und seiner Grabeskirche so fasziniert gewesen sein, dass er ein Abbild dieser Kirche auch in seiner Heimat schaffen wollte. Es interessierte ihn dabei sichtlich nicht, dass all die gotischen Dorf- und Stadtkirchen der Umgebung völlig anders aussahen. Er schuf hier in Ludorf eine eigene kleine Grabeskirche. Damit sind Sie inniger als andere mit dem Ursprungsort des christlichen Glaubens verbunden.
Wenn dieses Kirchgebäude uns also an den Ursprungsort des Christentums erinnert, haben wir im Predigttext die Erinnerung an den Ursprung des Universums, den allerersten Anfang. Wir haben gerade Auszüge aus dem ersten Kapitel der Bibel gehört, dem ersten biblischen Bericht über die Schöpfung. Diese Erzählung ist Weltliteratur. Wir können uns ihre Wirkung kaum größer vorstellen.
Dass wir weltweit höchst selbstverständlich eine Siebentagewoche haben, liegt an diesem Text. Versuche, ein atheistisches Gegenmodell zu schaffen, eine Zehntagewoche, scheiterten in der Französischen und Russischen Revolution kläglich. Und dabei sind wir gleich beim Zielpunkt unseres ersten Schöpfungsberichts. Gern denken wir als Menschen, wir seien die Krone der Schöpfung, ihr Höhepunkt und Schlusspunkt. Diese Selbsteinschätzung kann man schon hinterfragen, wenn man nur ansieht, was Menschen in Kriegszeiten anderen Menschen anzutun in der Lage sind oder wie erbarmungslos sie die Grundlagen der guten Schöpfung Gottes zerstören.
Vor allem aber stimmt das mit der Krone nicht, wenn wir genau lesen. Denn der Höhepunkt und Schlusspunkt ist nun eindeutig nicht der Mensch, sondern der siebente Tag. An diesem Tag ist die Schöpfung vollendet. Gott ruht. Und nur diesen Tag heiligt und segnet er. Wenn es also eine Krone der Schöpfung gibt, dann ist es der Sabbat.
Und damit sind wir beim Geheimnis der genialen Struktur dieser Erzählung. Was wäre es für eine ärmliche Auslegung, wenn wir sagten, der Schöpfer habe eben sieben Tage lang gebraucht für seine Schöpfung, hier steht es doch, basta. Nein, bitte, die kunstvoll erzählte Schöpfung dauert sieben Tage, weil der Schöpfer damit seinem Geschöpf Mensch etwas höchst Wesentliches mitteilt: Sechs Tage sollst du arbeiten, dann ist ein Tag Ruhe.
Der Schöpfer kreiert mehrere Rhythmen, die das Leben ermöglichen und sortieren. Da ist Tag und Nacht, Sonnenaufgang- und Sonnenuntergang. Da ist der Mondrhythmus, der so viel mehr Auswirkungen auf unser Leben hat als wir denken, Ebbe und Flut, die weibliche Menstruation. Und da ist der Lauf des Jahrs mit seinen Jahreszeiten. All diese Rhythmen sind planetarisch, geprägt durch Sonne und Mond, die Gott den Lebewesen schenkt, damit ihre Zeit geordnet ist.
Ein weiterer Rhythmus ist ohne planetarischen Hintergrund, er ist gewissermaßen unmittelbare göttliche Zeiteinteilung: Sechs Tage Arbeit, ein Tag Ruhe. Die Arbeit ist gut und wichtig, die Ruhe aber ist heilig und gesegnet. Der Mensch, am sechsten Tag geschaffen, beginnt seine Existenz mit diesem Ruhetag. Und soll erkennen: Das Wesentliche in meinem Leben kann ich mir nicht erarbeiten, das Wesentliche ist mir vom Schöpfer geschenkt. Dass ich atme, dass mein Herz klopft, meine Gaben und Stärken, vor allem aber, dass ich geliebt bin, all das kann ich nicht erarbeiten, kaufen oder verdienen. Es ist Gottesgabe. Nur wenn ich selbst ruhe, kann ich mir dieser Gottesgaben bewusst werden.
Darum ist jeder Sabbat im Judentum eine Erinnerung an Gottes große Wundertat der Schöpfung. Wenigstens haben wir als Christen den Sonntag Jubilate, wo auch wir dankbar, staunend feiern, welche Pracht Gott mit seinen Händen gemacht hat. Und damit, liebe Gemeinde, ist heute unbedingt Pflichtprogramm: Gehen Sie in Gottes Schöpfung; seien Sie still; lauschen Sie dem himmlischen Gesang der Amsel; schmecken Sie den Duft des Raps; schauen Sie dem übermütigen Flug der Schwalben zu. All diese Herrlichkeiten hat der Schöpfer sich erdacht.
Und nun doch noch einmal zurück zu uns Menschen. Wenn wir auch nicht die Krone sind, dann doch ebenso wahre Wunderwerke Gottes. Gott hat uns geschaffen zu seinem Bild, zum Bild Gottes. Welch eine göttliche Hoheit haben wir damit! Wir sind von Gott geschaffen als Mann und Frau- darin steckt das ganze göttliche Geheimnis der Fortpflanzung, des neuen Lebens. Aber darin steckt auch die Fähigkeit des Menschen, in Beziehung zu gehen. In Beziehung zu seinem Schöpfer, zu anderen Menschen, zu anderen Geschöpfen und zu sich selbst. Wie ein Bild spiegeln wir den Schöpfer.
Und haben in dieser Hoheit auch eine hohe Verantwortung von Gott übertragen bekommen. Die Fische im Meer, die Vögel unter dem Himmel, das Vieh, ja die gesamte Erde hat Gott in unsere Hände übergeben, dass wir mit seinen reichen Gaben vernünftig umgehen, dass alle satt werden, dass alle in Frieden und Gerechtigkeit leben können.
Wie sehr haben wir diesen Schöpfungsauftrag vergessen! Die Kreatur stöhnt unter der rücksichtslosen Ausbeutung ihrer Ressourcen durch uns Menschen, unter dem gnadenlosen Machtstreben, dem Raubbau, den Brudermorden.
Wir haben missverstanden, was es bedeutet, uns Tier und Natur untertan zu machen. Das bedeutet Verantwortung und nicht Unterwerfung. So dringend brauchen wir ein neues Hören auf die geplagte Schöpfung. Ein Bewusstsein, dass wir ohne saubere Luft und sauberes Wasser nicht leben können, aber auch nicht ohne Frieden mit unserem Nachbarn.
Der siebente Tag ist ein wöchentliches Stoppzeichen. Jetzt komm zur Ruhe, Mensch, besinne dich voller Lob darauf, wo du herkommst, aus Gottes liebevollen Händen. Und besinne dich darauf, was du in den kommenden sechs Tagen tun kannst, damit diese Erde bewohnbar bleibt.
Für Sie als Ludorfer ist der 8. Mai der Tag der Weihe Ihrer Kirche, der kleinen Schwester der Grabeskirche, vor 676 Jahren. Europaweit ist es heute der Tag, an dem wir daran denken, dass Krieg um Gottes Willen nicht sein darf. Als Muttertag ist es der Tag, der uns bewusst macht, wie viel warme Liebe uns ins Leben gebracht hat. Und als Sonntag Jubilate ist es der Tag, der uns auffordert, für die Wunder seiner Schöpfung Loblieder anzustimmen.
Amen.