29. Mai 2016 | Hauptkirche St. Michaelis Hamburg

Alles, was du brauchst, ist Liebe

29. Mai 2016 von Kirsten Fehrs

Evangelische Messe am 1. Sonntag nach Trinitatis, Predigt zu 1. Johannes 4, 16b ff

Liebe Gemeinde, ach nein, noch einmal:

Liebe Gemeinde. Denn die Liebe hat heut das erste Wort. Und das letzte. Und dazwischen redet sie sowieso immer – dazwischen. „Kein Mann kann zu einer Frau das Wort Liebe sagen, ohne dass darauf nicht der Ballast von 5.000 Gedichten und 20.000 Schlagern lastet“, seufzte einmal der Filmemacher Edgar Reitz. Und nun auch noch unser Predigttext  - vierzehnmal das Wort Liebe in sechs Versen.

Auf sie kommt es also an. Sie ist der Lebenspuls. All you need is love, um nur einen der Schlager zu zitieren. Alles, was du brauchst, ist Liebe. Sie ist es, die uns menschlich macht. Die uns befreit zu Sinn und Sinnlichkeit, die den Widersinn aushält und umarmt, was in uns zittert. Sie trägt und erträgt uns. Der Mensch vergeht ohne dieses zärtliche Gefühl. Ohne die Berührung von Fingerspitzen. Den  Blick der Anerkennung. Ohne diese Momente von Leichtigkeit und das Glück, auf der Welt zu sein. Der Mensch vergeht, wenn er nicht lieben darf.

Und Gott verstummt, wenn der Mensch in Lieblosigkeit vergeht. Denn wo soll er da bleiben? Ist er doch selbst „die Liebe und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ Das ist dermaßen innig. Zugehörig. Gott, die große Liebe, liebt die Welt. Und uns darin, das geht gar nicht anders. Und diese Liebe bleibt, unerschütterlich. Höher als alle Vernunft. Nicht wegzudenken, nur hinein zu fühlen. Doch – vierzehnmal gesagt, tausendmal gehört, immer wieder in Chorälen besungen – erleben wir wirklich diese Liebe Gottes? Und wie erfahren wir sie? –Allemal,  wenn man sich ziemlich allein fühlt und die Sehnsucht nach Zuwendung kein Ziel hat, wenn das Herz durch lauter Alltäglichkeit verzagt und die Hoffnung so furchtbar leise geworden ist?

Tja, wie geht das eigentlich mit dem Liebhaben, frage ich mich. Und ein wenig genannt ist einem zumute, weil‘s so persönlich ist, gute Güte, was für ein Predigttext! Da schaut man nämlich Gott in einem Menschen an, schaut etwa einem kleinen Menschen zu, und da geht‘s in einem hin und her. Denn Liebe rührt buchstäblich ans Innerste, deshalb manchmal auch zu Tränen. Nicht weil sie sentimental wäre. Sondern weil sie ein tiefes, echtes Gefühl ist, das man nicht erzwingen kann. Liebe ist da oder nicht da. Sie ist wahr. Oder sie ist keine Liebe.

Und deshalb kann wahrer Glaube auch nicht auskommen ohne sie.

Das Alte Testament sagte es vorhin so: Liebhaben von ganzem Herzen, ganzer Seele, ganzer Kraft. Mit deinem ganzen Vermögen also, in jeder Hinsicht. Liebe verträgt nicht gut die Halbherzigkeit. Sie kann scheitern, sich verlieren, zu viel wollen und eifersüchtig machen. Sie kann auch sagen: „Ich mag dich so sehr leiden!“ - und dann am Leiden zerbrechen. Das alles passiert. Aber wenn sie da ist oder wieder da ist, ist sie, was sie ist. Nicht Vernunft. Nicht Angst. Nicht halb. Sondern Liebe, die etwas trägt. Ob alt zu jung, schräg zu gerade, gleich zu gleich: Liebe  ist eine Macht, die macht, dass du lebst – lustvoll und energisch anderen zugewandt.

In einem der schönsten Liebesfilme, der Englische Patient, wird das in Szene gesetzt. Da sieht man im Kriegsjahr 1943 eine Krankenschwester gemeinsam mit einem Soldaten, der sie heimlich liebt, in einer verfallenen, dunklen Kirche stehen. Das Licht der Fackel lässt erahnen, dass die Wände von oben bis unten voller wunderschöner Freskenmalerei sind. Liebesbilder von Gott inmitten des verstörenden Krieges. So gern möchte sie all diese Bilder sehen, endlich wieder Farben in dieser Tristesse!! Er sieht ihre Sehnsucht, und kurzerhand knüpft er eine Schlinge in ein Seil, das wie eine Art Flaschenzug mitten im Raum hängt. So entsteht eine Schaukel, in die er sie behutsam setzt – und dann beginnt er, das Seil hochzuziehen, mit ganzer Kraft. Langsam beginnt sie durch den Raum zu schwingen, immer nah heran an die gemalten Wände. Bei jedem Schwingen erscheint im Licht der Fackel ein neues Bild vom Erbarmen Gottes. Sie schaut es an, schwingt zurück, entdeckt ein neues. Sie fängt an sich zu freuen, wird immer ausgelassener. Und plötzlich ist der dunkle Raum gefüllt mit bunten Bildern von Gott und den Menschen, mit Lachen, mit Liebe, mit Begehren.

Diese Szene erzählt unseren Predigttext. Denn es sind Menschen, die uns etwas gelehrt haben von der Liebe. Eltern, Großeltern, die beste Freundin. Der Partner. Das Enkelkind. Der verliebte Soldat. Sie haben uns etwas gelehrt von der Kostbarkeit tiefer Verbundenheit und deshalb auch etwas von der Liebe  Gottes. Sie haben uns Vertrauen vorgelebt und vorgeliebt, indem sie uns sanft in eine Schaukel gesetzt haben, die uns durch die Dunkelheit trägt. Damit in uns die Vielfalt aufscheint, mit der Gott uns geschaffen hat. Sie haben in uns zum Schwingen gebracht, dass es eine Kraft gibt, die bleibt, auch wenn wir sie nicht sehen können. Es sind Menschen, die uns lehren, liebesfähig zu sein. Zu streicheln, statt um uns zu schlagen. Zu ermutigen statt zu ängstigen. Gott und Liebe, menschliche Liebe -  also erotische Liebe, Geschwisterliebe, Gemeindeliebe, liebe Gemeinde, -  unsere Liebe und Gott gehören untrennbar zusammen, sagt der Johannesbrief dazu. Mit einer aufregenden Konsequenz, die sich gleich anschließt: „Wenn jemand spricht: Ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann er Gott lieben, den er nicht sieht?“

Hass – Liebe, Lüge – Wahrheit. Der ganze erste Johannesbrief strotzt vor Gegensatzpaaren, ja argumentiert mit dem Gegensatz. Das liegt daran, dass die johanneische Gemeinde im 1. Jahrhundert nach Christus schwer zu kämpfen hatte mit Einseitigkeit. Mit Menschen, die verbohrt waren und rigoros. Die ganz bewusst im Dunkeln gelassen haben, was es in Wahrheit noch gibt außer der eigenen verengten Sicht auf Kirche und Glauben. Sie haben sie einfach nicht zugelassen, diese Vielfalt von Dasein, Möglichkeiten, Farben im Glaubensleben. Da war nur Schwarz oder Weiß und so viel Furcht vor dem Leben! Und die Liebe, sie, die das Widersprüchliche zusammenhält, hatte es schwer zu bleiben.

Wie Gott auch.

Und? Was tun mit dieser Lebensfeindlichkeit, dem Hass in der Welt? Diese Frage stellt der Text uns ja. Was tun mit den Aufmärschen der Gewalt, angefeuert von religiösen oder ideologischen Fanatikern, damals wie heute? Unser Predigttext antwortet, finde ich, eindrücklich. Furcht ist nicht in der Liebe! Zeige dich, heißt das. Zeige, dass du das Leben liebst! Gerade das der anderen! Unerschrocken. Nicht einschüchtern lassen von Engstirnigkeit und Hassrednern! Sondern bei der Liebe bleiben und deshalb bei der Wahrheit: Wer Gott wirklich liebt, kann den Bruder oder die Schwester nicht hassen. Sogar wenn sie einem Schmerz zufügen.

Mir geht in diesen Tagen sehr die bedrückende Geschichte des siebzehnjährigen Florent aus Hamburg nach. Sie haben vielleicht davon gehört, dass vorgestern gar nicht weit von hier in der St.Pauli-Kirche ein interreligiöses Trauergedenken für ihn stattgefunden hat. Florent war einst der Sohn christlicher Eltern – ein fröhlicher Knirps in der kirchlichen Kita, dunkelhäutig, mit einem gewitzten Lachen mit lauter Grübchen. Als er 14 Jahre ist, gerät er in die Fänge von Salafisten - warum bloß?! Irgendwann schließt er sich den Mörderbanden des IS an und geht dorthin. In einer Audio-Botschaft vor einigen Monaten dann das bittere Erkennen: Sie seien bloßes Kanonenfutter, sagt er verzweifelt, und wie furchtbar diese Gewalt sei, dieser Terror. Er wird vermutlich genau wegen dieser Botschaft Opfer der Terroristen. – Für die Mutter nun ist es eine tiefe Not, den Sohn an den Hass verloren zu haben. Sie liebt ihn doch wie eh! Was liegt näher, für uns Christen ebenso wie für den Muslim hier, als dieser Liebe Respekt zu erweisen?! In Gottes Namen – der Liebe Raum zu geben, wenn ihn schon der Hass getötet hat. Weil sie, die Liebe, doch bleiben will und bleiben muss! 

Diese Trauerfeier, liebe Gemeinde, bewegt die Gemüter. Ruft auch Unverständnis hervor und die auf den Plan, die den Religionen eine Mitschuld zuweisen an den Konflikten in dieser Welt. Und – ohne Zweifel - daran ist ja auch etwas Wahres. Die Religion kann vorhandenen Streit enorm aufheizen, sie kann wirken wie ein Brandbeschleuniger. Aber zugleich gilt auch das andere: Sie ist auch Teil der Lösung. Denn alle Religionen tragen in ihren Traditionen und Schriften einen Kern, der da heißt: Gutes tun und Frieden stiften: Es ist uns ans Herz gelegt, Gott zu lieben und deshalb den Nachbarn auch. Das ist nicht Larifari, das ist klar und echt und anspruchsvoll. Und so wunderbar möglich….

So merken wir in diesen Monaten, wie Flüchtlinge befreit aufatmen, wenn sie in unser Land kommen. Denn in ihrer Heimat haben sie gerade auch die Religion als drückenden Zwang oder sogar als Ideologie des Terrors erlebt. Hier nun hören sie „Gott ist Liebe“ und entdecken plötzlich: Glaube kann befreien. Zu neuem Leben führen. Männer und Frauen aus Afghanistan, aus Syrien oder aus dem Iran interessieren sich nicht allein  für unsere Deutschkurse oder unsere Flüchtlingscafés. Sie schauen auch neugierig in unsere Gottesdienste hinein. Einige kommen öfter, und manche lassen sich nach monatelangen Glaubenskursen sogar taufen. Weil sie merken, dass Religion eben nicht mit Gesetzlichkeit, Strafe, dunkler Drohung verbunden, sondern  etwas Helles ist. Und Menschenfreundlichkeit ausstrahlt. Angenommensein. „Ich wurde in die Liebe geholt“, sagte ein Iraner aus Lübeck jüngst zu mir. „Am Ostersonntag wurde ich im Fluss getauft. Und auf einmal war die Angst vorbei!“

Furcht ist nicht in der Liebe. Deshalb hat die Liebe das erste und das letzte Wort. Nicht nur heute, aber heute besonders. Möge sie  in uns bleiben als weiter Raum und großes Herz. Und Gottes Friede dazu, höher als alle Vernunft, er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, menschgewordene Liebe Gottes.
Amen.

Veranstaltungen
Orte
  • Orte
  • Flensburg
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde Flensburg-St. Johannis
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde St. Gertrud zu Flensburg
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde St. Marien zu Flensburg
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde St. Michael in Flensburg
    • Ev.-Luth. St. Nikolai-Kirchengemeinde Flensburg
    • Ev.-Luth. St. Petrigemeinde in Flensburg
  • Hamburg
    • Ev.-Luth. Hauptkirche St. Katharinen
    • Hauptkirche St. Jacobi
    • Hauptkirche St. Michaelis
    • Hauptkirche St. Nikolai
    • Hauptkirche St. Petri
  • Greifswald
    • Ev. Bugenhagengemeinde Greifswald Wieck-Eldena
    • Ev. Christus-Kirchengemeinde Greifswald
    • Ev. Johannes-Kirchengemeinde Greifswald
    • Ev. Kirchengemeinde St. Jacobi Greifswald
    • Ev. Kirchengemeinde St. Marien Greifswald
    • Ev. Kirchengemeinde St. Nikolai Greifswald
  • Kiel
  • Lübeck
    • Dom zu Lübeck
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde St. Aegidien zu Lübeck
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde St. Jakobi Lübeck
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde St. Marien zu Lübeck
    • St. Petri zu Lübeck
  • Rostock
    • Ev.-Luth. Innenstadtgemeinde Rostock
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde Rostock Heiligen Geist
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde Rostock-Evershagen
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde Rostock-Lütten Klein
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde St. Johannis Rostock
    • Ev.-Luth. Luther-St.-Andreas-Gemeinde Rostock
    • Kirche Warnemünde
  • Schleswig
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde Schleswig
  • Schwerin
    • Ev.-Luth. Domgemeinde Schwerin
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde St. Nikolai Schwerin
    • Ev.-Luth. Petrusgemeinde Schwerin
    • Ev.-Luth. Schloßkirchengemeinde Schwerin

Personen und Institutionen finden

EKD Info-Service

0800 5040 602

Montag bis Freitag von 9-18 Uhr kostenlos erreichbar - außer an bundesweiten Feiertagen

Sexualisierte Gewalt

0800 0220099

Unabhängige Ansprechstelle für Betroffene von sexualisierter Gewalt in der Nordkirche.
Montags 9-11 Uhr und mittwochs 15-17 Uhr. Mehr unter kirche-gegen-sexualisierte-gewalt.de

Telefonseelsorge

0800 1110 111

0800 1110 222

Kostenfrei, bundesweit, täglich, rund um die Uhr. Online telefonseelsorge.de

Zum Anfang der Seite