2. März 2019 | Rostock-Warnemünde

Auf dem Weg zu einer erprobungsfreundlichen Kirche

02. März 2019 von Andreas von Maltzahn

„Seid mutig und bringt mit von den Früchten“ (4.Mose 13,20)

Als das Volk Israel an der Grenze des Gelobten Landes angekommen war, sandte Mose Vertreter der zwölf Stämme aus, die das Land erkunden sollten. Josua und Kaleb waren unter ihnen. Ihr Auftrag:

„Seht euch das Land an, wie es ist, und das Volk, das darin wohnt, ob's stark oder schwach, wenig oder viel ist; und was es für ein Land ist, darin sie wohnen, ob's gut oder schlecht ist; … und wie der Boden ist, ob fett oder mager, und ob Bäume da sind oder nicht. Seid mutig und bringt mit von den Früchten des Landes. Es war aber eben um die Zeit der ersten Weintrauben.“(Num 13, 18.20)

Situationsanalyse ist angesagt. Vierzig Tage sind die Kundschafter unterwegs. Was sie zurückbringen, ist riesig – eine riesige Traube, nur von zwei Männern zu tragen, aber auch Riesenängste. Manchen erschienen die Einheimischen in ihrer Kraft wie Riesen.

Mich spricht diese Geschichte an, denn wir sind im Begriff ‚Neuland‘ zu entdecken: das Neuland einer Gesellschaft, die immer weniger selbstverständlich mit ‚Religion‘ umgeht – wie auch das Neuland einer Kirche, die nach neuen Formen der Kommunikation des Evangeliums sucht und sich darum tiefgreifender wandeln muss, als sie weithin glaubt.

„Seid mutig und bringt mit von den Früchten“ – Erkundungen in einem teilweise immer noch unbekannten Land

Gehen wir also auf die Suche – zunächst unter den Menschen, die die große Mehrheit in Mecklenburg-Vorpommern ausmachen. In sechs Schlaglichtern will ich andeuten, was mir in den letzten Jahren – gerade auch durch die Arbeit unseres Werkes „Kirche im Dialog“ – wichtig geworden ist:

  1. Was tritt für die Ostdeutschen an die Stelle einer religiösen Weltanschauung? Zugespitzt könnte man formulieren: Die neue ‚Religion‘ der Ostdeutschen ist das zum Ideal erhobene Leben fürs Private, für das nachbarschaftliche Umfeld. „Sie glauben häufig an eine immanente Sinnordnung, explizit ohne Gott, an die Konzentration auf die eigenen Kräfte und halten … Werte wie Gemeinschaft, Ehrlichkeit und Arbeit hoch“.[1]  Ihre Weltanschauung ist die des ‚Szientismus‘, der sich „auf Wissenschaft beruft, aber weit über deren Deutungsanspruch hinausgeht. Im Szientismus werden mit dem Verweis auf wissenschaftliche Fakten … Sinnstiftungen, Weltdeutungen, soziale Normen und Handlungsanweisungen formuliert, die eine absolute Geltung beanspruchen“[2].
  2. Nach wie vor gibt es eine Menge Vorurteile – auf beiden Seiten: Binnenkirchlich werden Menschen, die keiner Religionsgemeinschaft angehören, vielfach als defizitär wahrgenommen: ‚Sie mögen es nicht wissen, aber zu einem gelingenden Leben fehlt ihnen der Glaube.‘  Konfessionslose wiederum sehen Christinnen und Christen oft mit einem gewissen Gefühl der Überlegenheit: „Ich kenne die wissenschaftlichen Erkenntnisse, bin von immanenten Weltdeutungsmodellen überzeugt und übernehme die Verantwortung für mein Leben selbst.“[3]

So bleibt es Aufgabe der Kirche, Vorurteile abzubauen. Weder eine entsprechende Öffentlichkeitsarbeit noch bloße Begegnungen miteinander sind da genug. Ein „forciertes Miteinander“ im Einsatz für gemeinsame Interessen ist am ehesten geeignet, gegenseitige Vorbehalte zu minimieren –  am besten auf einem dritten Feld, wie es bspw. in Initiativen gegen Rechtsextremismus, in der Tafel- oder Flüchtlings-Arbeit an vielen Orten längst Praxis ist.

  1. Menschen unserer Tage sind selbstbewusst religionslos.Die Spielarten dieses Selbstbewusstseins reichen von einem ‚Ich brauche die Krücke der Religion nicht‘ bis zum philosophischen Ansatz eines André Comte-Sponville, der nicht weniger als  eine „Spiritualität ohne Gott“ zu entwickeln sucht.[4]Dabei gelangt er zu solch bemerkenswerten Thesen wie z.B.: „Keine Gesellschaft kann auf Kommunion verzichten . . .[5] noch auf ein Bekenntnis.“[6]

Spannend, an ‚Kommunion und Bekenntnis‘ einer sich wandelnden Gesellschaft mitzuarbeiten! Was warten da für überraschende Entdeckungen, Unterschiede, Konvergenzen?

  1. Menschen unserer Tage begreifen sich reflektiert als religiös ‚unmusikalisch‘. Müssen sie erst religiös (empfänglich) werden, um Christus folgen zu können? Oder kann es gelingen, andere Wege zu Christus mit ihnen und für sie zu finden, so dass sie Vertrauen, Lieben und Hoffen als Wesen und Inhalt der Gottesbeziehung entdecken, ohne zuvor religiös ‚musikalisch‘ werden zu müssen?

Hans-Martin Barth vermutet: „Vielleicht ist der gegenwärtige mitteleuropäische Protestantismus sowohl in religiöser als auch in areligiöser Hinsicht defizitär: Er führt in die Religion weder genügend hinein noch zureichend über sie hinaus.“[7]  So bitter das klingen mag – nach Sprache, Ritualen und Gestalten für ein religionstranszendentes Christentum zu suchen, wird eine der spannenden Zukunftsaufgaben für Theologie und Kirche sein. Das scheint abstrakter, als es ist: In unseren Kirchbau-Fördervereinen erleben wir, dass Menschen ohne konfessionelle Bindung ein erhebliches Interesse an der ‚unbekannten, inneren Mitte‘ zeigen.

  1. Die Arbeitsstelle „Kirche im Dialog“ hat herausgefunden, dass knapp die Hälfte aller befragten Menschen mit säkularer Weltanschauung es an unserer Kirche schätzt, „dass man (in der Kirche) nicht perfekt sein muss, um angenommen zu werden“.[8]Das freut mich ganz besonders, denn diese Erfahrung ist eine Kernaussage unseres Glaubens. Sie erreicht offenbar auch diese Menschen. Wir brauchen also keine falsche Scheu zu haben, den christlichen Glauben ins Gespräch zu bringen.
  2. Wir erleben ein Auswandern aus Kirche und institutionalisierter Religion auch in den neuen sozialen Netzwerken: Da bilden sich ‚Communities‘ und ‚Twitter-Gemeinden – säkulare Gemeindeformen? Da geschieht Lebensberatung und Seelsorge – und wir als Kirche sind allenfalls punktuell dabei. Der Gemeindedienst der Nordkirche entwickelt daher gerade ein Projekt: Christenmenschen, die mit neuen Medien vertraut sind, werden ermuntert und befähigt, sich als „Botschafter“ unserer Kirche in die digitalen Diskussionsforen einzubringen.

Damit Dialog entstehen kann, sind wir in Mecklenburg dabei, neue Begegnungsräume zu entwickeln. Einige, wenige Beispiele:

  • TEO, die Tage ethischer Orientierung sind inzwischen nordkirchliches Allgemeingut: Schülerinnen und Schüler sind eingeladen, erlebnisorientiert die Fragen ihres Lebens zu bedenken. Kirchliche Mitarbeitende und Lehrer*innen gestalten dafür gemeinsam Freizeiten am dritten Ort.
  • Eine Pastorin in Mecklenburg macht erstaunliche Erfahrungen mit Passionsandachten an Orten heutigen Leidens.
    • z. B. an einer Kreuzung mit tödlichen Unfällen;
    • am ehemaligen Konsum, der als Ort der Kommunikation vermisst wird;
    • an einer Bushaltestelle, an der nur noch selten ein Bus hält und die dafür steht, dass Menschen sich von der gesellschaftlichen Entwicklung abgehängt fühlen;
    • am Grab eines unbekannten Soldaten;
    • vor einer stillgelegten Schule;
    • auf dem Hof eines Milcherzeugers, der von seiner Arbeit nicht mehr leben kann –

und die Leute kommen in großer Zahl, auch jene, die mit Kirche eigentlich nichts am Hut haben. Eines der Beispiele für den Wandel der Gottesdienstlandschaft in Mecklenburg! Wo wir auf die Bedürfnisse der Menschen eingehen, wirkt sich das positiv auf die Zahl der Gottesdienst-Feiernden aus.[9]

  • Seit 1990 haben wir in Mecklenburg-Vorpommern mehr als 20 evangelische Schulen gegründet. Eltern und ihre Kinder kommen auf diese Weise zum ersten Mal in Kontakt mit Kirche und Glauben. Ich bin daher glücklich, dass es uns in den vergangenen Jahren gelungen ist, unsere nordkirchliche Schulstiftung besser aufzustellen.
  • Die mecklenburgische Stiftung „Kirche mit Anderen“ fördert innovative Projekte, in denen Menschen ohne religiöse Sozialisation mit dem Evangelium in Berührung kommen können:
    • etwa das VOLXMOBIL, das mit aufsuchender Sozialarbeit in abgehängte Stadtteile oder Landstriche geht;
    • in Sanitz wurde ein großzügiger Kinderspielplatz gemeinsam von Geflüchteten, Wandergesellen und Einheimischen gebaut – und ist nun zum beliebten Treffpunkt junger Familien geworden, obwohl auf dem Pfarrgelände gelegen;
    • Eine der am meisten berührenden Begegnungen des letzten Jahres war für mich die mit einer Neubrandenburger Initiative:  Dort gibt es eine christliche Gemeinschaft junger Familien, die bewusst in das Plattenbaugebiet Datzeberg gezogen ist – also dahin, wo man normalerweise wegzieht. Sie aber haben eine Vision: Sie träumen davon, dass das Licht der Welt auch den Alltag in der tristen Platte heller, bunter und wärmer macht. Sie bringen nicht das Evangeliums als Fertigware, sondern teilen das Leben der Menschen. Sie fragen danach, was die Datzeberger brauchen und wo Christus unter ihnen vielleicht schon wirksam ist.

Eines ihrer vielen Projekte heißt ‚schall.platte‘ – der Chor vom Datzeberg. Da werden Songs gesungen, die man aus dem Radio kennt. Noten muss man also nicht können. Dieser Chor gibt den Leuten buchstäblich ihre Stimme wieder. Menschen, die Tag für Tag auf den Ämtern erfahren, dass sie nicht gebraucht werden, sondern ein Problemfall sind, erleben durch ‚schall.platte‘: Ihre Stimme zählt! Sie erleben Gemeinschaft, geben Konzerte. Manche sind auf diese Weise das erste Mal nach Berlin oder Hamburg gekommen. Videoclips sind entstanden. Preise wurden gewonnen. Einige von ihnen mussten sogar schon Autogramme geben… Menschen richten sich auf, spüren ihre Würde und  entwickeln Zutrauen zu ihren Gaben. Schauen wir einmal in ihren ersten Videoclip hinein![10]

Die jungen Familien der geistlichen Gemeinschaft zeigen, was sie lieben. Sie teilen das Leben der Leute. Sie gehen dahin, wo ihnen Christus begegnet –biblisch gesprochen: unter den Armen.

Diese Lebendigkeit – menschlich wie geistlich – lässt mich fragen, wie wir es als Kirche mit der vielbeschworenen vorrangigen Option für die Armen halten. Ernst Käsemann war überzeugt, dass „neben rechter Lehre und Verwaltung der Sakramente als drittes Kriterium die sichtbare Präsenz der Armen in Gemeinde und Gottesdienst nicht zu entbehren“[11]ist. Die vielbeklagte Milieuverengung vieler Gemeinden ist nur ein Symptom dieser großen Wunde am Leib Christi. Die Frage, ob und wie wir mit den Armen leben, bleibt entscheidend für unser Kirche-Sein.

Zugleich will ich an dieser Stelle betonen: Wir sind gut vorangekommen, uns als Kirche in Mecklenburg zu öffnen. Gemeinwesenorientierung ist beileibe kein Fremdwort mehr. Landauf, landab werden kirchliche Projekte entwickelt, die gemeindliche Grenzen überschreiten. Bei der Gestaltung von Festen werden wir in neuer Selbstverständlichkeit als Partner geschätzt. Kirchgebäude werden auch als Festräume der Bürgergemeinde zunehmend in Anspruch genommen. Auch wenn wir noch mutiger den öffentlichen Raum bespielen können – „Nischen-Dasein“ ist nicht mehr.

Dem Auftrag trauen – eine missionarische Grundorientierung wiedergewinnen

Der Auftrag christlicher Kirche, das Evangelium von Jesus Christus in der Welt zu bezeugen, bestimmt sie zu missionarischem Leben und Handeln. Allerdings ist diese Grundorientierung häufig weder praktisch zu spüren noch im Selbstverständnis von Gemeindegliedern und Mitarbeitenden verankert.

Auch angesichts der Irrwege und Verfehlungen früherer Mission verbietet sich jede Form von Vereinnahmung oder gar Überwältigung. Allerdings wurde das Missionsthema in Teilen zu Unrecht als allzu belastet tabuisiert oder nur noch evangelikalen bzw. charismatischen Gruppierungen überlassen. Dialogorientierung hilft uns, achtsam für die Gesprächspartner zu bleiben, aber auch in der Begegnung mit anderen das Evangelium für uns selbst neu zu verstehen[12].

Ausgangspunkt eines aktuellen Missionsverständnisses ist die missio dei: Gott wirkt, indem er dafür sorgt, dass Menschen zum Glauben an Jesus Christus finden. Wir können daran beteiligt sein, nicht aber den Glauben herstellen. Das ist Gottes missio[13] – und das kann zuweilen höchst überraschend sein:

Da liest eine Psychiaterin in der Zeitung von meinem Kurs ‚Glaube zum Kennenlernen‘ und fragt, ob sie eine Patientin überweisen könne: „Was sie hat, ist nicht krank, sondern religiös.“ Sie hat recht: Die Frau – völlig religionslos sozialisiert – hatte eine Nahtoderfahrung mit religiöser Qualität und brauchte nur ein wenig Deutungshilfe, um diese Erfahrung einzuordnen.

Zu den wichtigsten Tagungen der ersten Landessynode zählt für mich die zur „Zukunft der „Ortsgemeinde“. Einstimmig (!) beschlossen die Synodalen am 26.9.2015 zur „Missionarischen Grundorientierung von Gemeinde“ folgende Eckpunkte:

„Das Thema Mission wird in Kirchengemeinderäten, Pfarr- und Mitarbeitendenkonventen in einem Prozessberaten, um sich über das Verständnis von ‚Mission‘ und über die jeweils eigenen missionarischen Schwerpunkte zu verständigen. Zur Unterstützung der Beratung wird ein Impulspapier erarbeitet, das verschiedene Dimensionen des missionarischen Begriffs und das Verhältnis von Glaube und Mission entfaltet.

Die Leitungsorgane unserer Kirche – Kirchengemeinderäte, Kirchenkreisräte, Synoden, Kirchenleitung – übernehmen Verantwortung für die notwendigen theologischen, kommunikativen und geistlichen Prozesse, um in den verschiedenen Handlungsfeldern eine missionarische Grundorientierung zu stärken.

Ortsgemeinden und Dienste und Werke arbeiten zur Erfüllung des missionarischen Auftrags der Kirche zusammen.

Institutionelle Rahmenbedingungen sind so zu gestalten, dass sie das missionarische Handeln der Ortsgemeinden stärken.

In der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen werden missionarische Kompetenzen gefördert und vertieft.“[14]

Wenn ich mir als scheidender Bischof etwas wünschen darf: Erschließen wir dieses Potential! Lassen wir diese Einsichten nicht – wie viele andere Arbeitspapiere – in der Versenkung verschwinden!

Inzwischen ist ein anregendes Arbeitsbuch zum Thema entstanden und breit gestreut worden. Das finde ich gut. Doch die vielfältigen Prozesse auf allen Ebenen unserer Nordkirche, „um in den verschiedenen Handlungsfeldern eine missionarische Grundorientierung zu stärken“, stehen noch aus. Daher werbe ich dafür, dass Kirchenleitung und Landessynode dies als ein Querschnittsthema auf ihre Agenda nehmen. Manches wäre schon gewonnen, wenn Beschlussvorlagen zukünftig nicht nur finanzielle Auswirkungen regelmäßig beschrieben, sondern auch die missionarischen. Wenn das dann nicht zu bloßer Missions-Lyrik führt, sondern zu einem echten Kriterium kirchenleitender Entscheidungen wird, sind wir schon einen Schritt weiter.

Seid mutig – weniger muss anders sein

Unsere Grunderkenntnis in Mecklenburg lautet: „Weniger ist anders.“[15] Gesellschaftliche Veränderungen in peripheren ländlichen Räumen dürfen kirchlicherseits nicht einfach mit einem weiteren Rückbau beantwortet werden. Das hieße, Strukturen hoffnungslos zu überdehnen und Haupt- und Ehrenamtliche zu überfordern.

Zusammenarbeit in der Region oder die Bildung von Großgemeinden waren bisher verfolgte Lösungsansätze. Es gibt jedoch Gemeinden, die so ausgedehnt und an die Grenze der Gestaltungsfähigkeit gekommen sind, dass die bisherigen Lösungsansätze nicht mehr greifen. In Mecklenburg ermuntern wir Gemeinden daher „Erprobungsregionen“ zu bilden.

Erfreulichen Rückenwind gab es durch die Themensynode „Zukunft der Ortsgemeinde“. Sie beschloss u.a.:

„Die Nordkirche ermutigt Ortsgemeinden und Kirchenkreise im ländlichen Raum dazu und ermöglicht ihnen, neue Formen kirchlichen Lebens und missionarischen Handels auszuprobieren und zu gestalten. Dabei sollen auch unkonventionelle Möglichkeiten probeweise durchgeführt werden können, für die ggf. der rechtliche Rahmen noch geschaffen werden muss. …

Begleitend zu diesen Erprobungen soll die landeskirchliche Ebene die neuen Formen rechtlich und finanziell ermöglichen.“[16]

An welche Erprobungen denken wir? Zwei Beispiele zu eher strukturellen Aspekten:

Kirchengemeinden mit Schwerpunkten –
Abschied vom flächendeckenden Gemeindeaufbau:

Wir wollen als Kirche in der Fläche präsent sein. Zumindest in manchen Regionen können wir jedoch nicht mehr in herkömmlicher Weise Gemeindeleben gestalten. Hier hat das Gefühl der Allzuständigkeit für Haupt- und Ehrenamtliche etwas Lähmendes. Daher schlagen wir vor, zwischen Gebieten unterschiedlicher gemeindlicher Präsenz zu unterscheiden:

Jeder Ort gehört zum Seelsorge- und Kasualgebiet einer Kirchengemeinde. Ihre Mitarbeitenden sorgen dafür, dass überall Seelsorge und Kasualien auf Anfrage hin wahrgenommen werden können. 

Darüber hinaus werden – zeitlich befristet – Gemeindegebiete festgelegt, in denen über Kasualien und Seelsorge hinaus schwerpunktmäßig Gemeindeaufbau geschieht, weil sich dort Menschen zusätzlich zu den hauptamtlich Tätigen für ein vielfältiges Gemeindeleben engagieren.

Gottesdienste und andere Veranstaltungen sollen also zukünftig nur dort stattfinden, wo die jeweiligen Gemeindeglieder oder Bewohner diese wirklich wünschen und dafür mit Verantwortung übernehmen. Auf diese Weise sind Mitarbeitende der Kirchengemeinde von der Pflicht entbunden, flächendeckend – über Kasualien und Seelsorge hinaus – Gemeindeaufbau zu betreiben.

Die Schwerpunktsetzung bzw. die zeitlich begrenzte Bestimmung der unterschiedlichen Gebiete ist Aufgabe des Kirchengemeinderats im Einvernehmen mit dem/der zuständigen Propst/Pröpstin. Diese Festlegungen sollen öffentlichkeitswirksam erfolgen, um für die Verantwortlichen und die betroffenen Gemeindeglieder vor Ort eine hohe Transparenz zu erreichen.

Mal nicht vom Zentralort her gedacht: Das Dorf+-Modell

In der Kirchenregion Ludwigslust-Dömitz wurde ein anregendes Modell entwickelt:

Die Dorfpfarrstellen werden gestärkt. Flächendeckend bleibt die Kirche/ Gemeinde mit Mitarbeitenden im Dorf. Weg vom Zentrum – hin in die Fläche!

Zugunsten der Dorfpfarrstellen werden die Stellenanteile in den Städten verringert. Dafür versorgen die Landpastor*innen die Städte mit (z.B. im Blick auf Betreuung und Gottesdienste in Alten- und Pflegeheimen).

Gemeindepädagogische Mitarbeitende werden verstärkt an den Schulstandorten angesiedelt.

Stadt- und Dorfgemeinden arbeiten in kleinen Unterregionen bzw. Gemeinde-Verbänden zusammen. Es entstehen Mitarbeitenden-Teams.

Die Attraktivität von Dorf-Pfarrstellen wird gefördert, indem volle Stellen geschaffen werden; Erfahrungen in städtischem Kontext bereichern den pastoralen Dienst.

In den Dörfern bleiben Seelsorger*innen als konkrete Ansprechpersonen vor Ort. Die Pfarr/Gemeindehäuser als Zentren für die Gemeindearbeit können erhalten werden. 

Darüber hinaus hat eine Arbeitsgruppe unter meiner Leitung im vergangenen Jahr dem mecklenburgischen Kirchenkreisrat Erfahrungen erprobungs-freundlicher Kirchen zugearbeitet. Auch hier zwei Beispiele:

Unsere Kirchengemeindeordnung kennt „Ortsausschüsse“, die sich mit überschaubarer Entscheidungskompetenz um mancherlei Dinge vor Ort kümmern. Der Kirchenkreis Wittstock jedoch hat in seinen Großgemeinden „Ortskirchenräte“ installiert. Das Ziel dabei: So viele Gaben wie möglich vor Ort aktivieren! Schon sprachlich, aber auch im Blick auf die Entscheidungskompetenz ist das eine Aufwertung gegenüber der nordkirchlichen Praxis.         

Wenn Sie, liebe Synodale, eines Tages an die Evaluation unserer Kirchengemeindeordnung gehen, lege ich ihnen ans Herz eine solche Aufwertung vorzunehmen!

Als besonders innovativ in Sachen „Erprobung“ erweist sich die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland. Sie hat mit sieben Kriterien ‚Erprobungsräume‘ klar definiert. Interessant, dass dabei die Durchbrechung gewohnter parochialer Logiken bewusst intendiert ist – in der Hoffnung, die Unerreichten besser erreichen zu können.[17]

„Seid mutig und bringt mit von den Früchten“, bekamen Josua, Kaleb und die anderen mit auf den Weg ins unbekannte Land. Sie erleben, was viele Menschen in Veränderungsprozessen erfahren: Ängste und Hoffnungen wachsen ins Riesenhafte. Manchmal ist der notwendige Wandel ein Generationenprojekt. Nach der Rückkehr der Kundschafter verweigerte Israel den Übergang ins Gelobte Land. Die Riesenangst war zu einer Heidenangst geworden.[18] Erst nach vierzig Jahren Wüstenwanderung gelingt den Nachgeborenen der Zaudernden der Einzug ins Land der Verheißung. Aber er gelingt!

Auch wir als Nordkirche leben in allen Veränderungen von Gottes Verheißung. Ich gebe zu: Eine gewisse Vorsicht ist angebracht, Mecklenburg einfach mit dem Gelobten Land zu identifizieren. Und doch: Da passiert etwas! Bei allem Schmerz über Abbrüche – hier gibt es Spannendes zu erkunden! Da ist gut sein für Menschen, die Lust daran haben, heute schon Gestalten der Kirche von morgen zu entwickeln! Die größere Gemeinschaft der Nordkirche tut uns dabei gut, und sie wird als ganze Kirche gewinnen, wenn und indem sie den Osten als Laboratorium der Zukunft gut begleitet und stärkt.

 

Es war für mich in den vergangenen zwölf Jahren eine starke Herausforderung und ein ganz schönes Abenteuer, diesen Weg unserer Kirche mitzugestalten. Ich habe viel empfangen. Ich bin dankbar für alle Weggemeinschaft und freue mich nun darauf, im Predigerseminar am inneren Werden unserer Kirche mitzuarbeiten.

 

[1] Arbeitsstelle Kirche im Dialog, Einstellungen konfessionsloser Menschen zu Kirche und Religion. Eine empirische Studie, Rostock 2014, S. 2

[2] Thomas Schmidt-Lux, Wissenschaft als Religion. Szientismus im ostdeutschen Säkularisierungsprozess, Würzburg 2008, 66.

[3] Arbeitsstelle Kirche im Dialog, Einstellungen, S. 15

[4] André Comte-Sponville, Woran glaubt ein Atheist. Spiritualität ohne Gott, Berlin 2009. 

[5] A. a. O., S. 27-34

[6] A. a. O., S. 35-40

[7] Hans-Martin Barth, Konfessionslos glücklich. Auf dem Weg zu einem religionstranszendenten Christsein, Güterloh 2013, S. 224

[8] Arbeitsstelle Kirche im Dialog, Einstellungen konfessionsloser Menschen zu Kirche und Religion. Eine empirische Studie, Rostock 2014, S. 30.

[9] Näheres findet sich in meinem Bericht an die Landessynode 2018 „Gottesdienstlandschaften im Wandel“: https://www.nordkirche.de/fileadmin/user_upload/Synodenportal/Dokumente_2018/synode-201809-bericht-aus-der-landessynode-september-2018.pdf, S.94-97.

[11] Ernst Käsemann, Kirchliche Konflikte 1, 1982, S. 30.39.70. (Hervorhebung AvM)

[12] Vgl. Heinrich Rathke auf der Bundessynode in Eisenach: „Nur im Hingehen zu den Anderen (Mission) erhält die Gemeinde sich selbst das Evangelium. … Nur im Anreden der Anderen begreift die Gemeinde das Evangelium. So erst erweist sich, ob unser Wort verstanden wird und befreit oder ob wir Steine statt Brot austeilen. Es geht nicht nur darum, dass wir christliche Wahrheiten in der Sprache von heute ausdrücken und weitergeben und mit modernen Übersetzungen und Stilmitteln in der Kirche operieren. Wo das Wort des „Menschen für andere“ mich drängt, wirklich auf den anderen einzugehen, könnte es geschehen, dass erst dann beiden aufgeht, wie dieser Jesus unser Leben prägt (Mt 18, 20; Lk 24,31).“ Zitiert nach: Kirche als Lerngemeinschaft. Dokumente aus der Arbeit des Bundes der evangelischen Kirchen in der DDR, Berlin 1981, S 179. (Hervorhebungen AvM)

[13] Die Herrnhuter Bewegung hat im 18. Jahrhundert ihren Missionaren folgende Anweisungen mit auf den Weg gegeben: „Denkt nur nicht, ihr brächtet Christus irgendwo hin, macht vielmehr die Augen auf und schaut, wo er bereits am Werk ist. Und als zweite Empfehlung: Mund halten. Sprache lernen. Und drittens:  Verhaltet euch so, dass sie notwendigerweise fragen: Warum seid ihr so? Und viertens: Wenn die Leute zu fragen anfangen,

dann erzählt, was euch im Herzen ist, erzählt, was Jesus Christus euch persönlich und für euren Gesprächspartner bedeutet.“

[15] Philipp Oswalt, Der ländliche Raum ist kein Baum: Von den zentralen Orten zur Cloud, in:  Kerstin Faber, Philipp Oswalt (Hg.), Raumpioniere in ländlichen Regionen. Neue Wege der Daseinsvorsorge, 2013, S. 7

[17]          „Wenn Kirche neu entsteht, müssen Kennzeichen von Kirche zu finden sein!
1. In ihnen entsteht Gemeinde Jesu Christi neu (communio sanctorum – koinonia)
2. Sie durchbrechen die volkskirchliche Logik an einer der folgenden Stelle: Parochie, Hauptamt, Kirchengebäude.
3. Sie erreichen die Unerreichten mit dem Evangelium.
4. Sie passen sich an den Kontext an und dienen ihm (diakonia).
5. In ihnen sind freiwillig Mitarbeitende an verantwortlicher Stelle eingebunden.
6. Sie erschließen auch alternative Finanzquellen (Diversifizierung: nur Teilförderung).
7. In ihnen nimmt Spiritualität einen zentralen Raum ein.“

[18] Vgl. Paul M. Zulehner, Eckehard Rossberg, Anna Hennersperger, Mit Freuden ernten. Biblisches Saatgut für Zeiten und Prozesse des Übergangs, Ostfildern 2013, S. 51ff

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