Bericht von Landesbischöfin Kristina Kühnbaum-Schmidt
25. September 2020
Bericht vor der Landessynode der Nordkirche am 25. September 2020 in Travemünde. - Es gilt das gesprochene Wort.
„Siehe, ich will etwas Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr´s denn nicht?!“ (Jesaja 43,19)
Wertes Präsidium, hohe Synode!
Was für ein Jahr, dieses erste Jahr als Landesbischöfin! Mit festlich-beschwingter Nähe im Schweriner Dom hat es begonnen. Und dann hinaus - hinaus auf den Markt in Schwerin. Heiter-pfingstlich „alle beieinander an einem Ort“, mit Gästen und Partnern aus der ganzen Nordkirche und der weiten Welt. Unter der Weite des Himmels. Draußen auf dem Platz. Mit Gesang und Musik und Brot und Wein - geteilt und gestärkt. „Nimm hin und iss“ - „das stärke dich und bewahre dich“ - „steh auf und iss - denn du hast einen weiten Weg vor dir“.....
1. Draußen auf den Plätzen
Wie weit und wie beschwerlich-verschlungen der Weg sein, wie sehr dabei das „draußen auf den Plätzen“ schon bald zu einem wichtigen Merkmal unserer Gottesdienste und Veranstaltungen werden sollte, ergänzt um die Worte „mit Abstand“, das ahnten wir damals noch nicht. Und nun wird das „draußen auf den Plätzen“ wohl sogar prägend dafür, wie wir in drei Monaten Weihnachten feiern werden - in unseren Kirchen, ja, aber auch draußen auf den Plätzen, auf Kirchplätzen, Märkten und in Sportstadien, bei Wald- und Strand- und Treckerweihnacht - und wie wunderbar: Haupt- und Ehrenamtliche entwickeln und gestalten dafür schon so viele Ideen - mit Mut und Zuversicht und erwartungsschwangerer Vorfreude der letzten drei Monate vor Kindesgeburt.
Ohne genau zu wissen, wie die Pandemie sich entwickeln wird, planen viele Menschen in Kirchengemeinderäten, Kirchenkreisen, der Bischofsrat mit einem Inspirationspaket zu Weihnachten, das von Mitarbeitenden des Amtes für Öffentlichkeitsdienst und des Hauptbereichs Gottesdienst und Gemeinde vorbereitet und in diesen Tagen versandt wird, und so viele andere mit schöpferischer Kreativität, wie es dieses Jahr Weihnachten werden kann. Hashtag #Hoffnungsleuchten! Wie gut! Ihnen allen bin ich dankbar für so viele Ideen, für so viel Kreativität. Und dafür, dass eine verheißungsvolle Stimmung sich ausbreitet: „Lasst euch überraschen, seid gespannt!“
Gespannt sein auf Neues. Weil auch Weihnachten manches neu sein wird. Ungewohnt. Anders als sonst am Heiligen Abend. Vielleicht wird manches auch schmerzlich unvertraut sein. Aber ich sehe vor allem auf die Chancen und Möglichkeiten, die sich eröffnen. Diese Chance sehe ich gerade in der Adventszeit, am Heiligen Abend und an den Weihnachtstagen. Ich sehe sie darin, mit gemeinsam gestalteten Gottesdiensten, mit Liedersingen und vielem mehr neu anzuknüpfen an Kontakte, wie sie unter anderem im Reformationsjubiläumsjahr gewachsen sind: Kontakte zu anderen Akteuren der Zivilgesellschaft und der Kultur, zu Initiativen, Vereinen, Künstler*innen, Museen, usw. Was für eine Chance, wenn zu Weihnachten auch an Orten außerhalb unserer Kirchen und kirchlichen Räume die frohe Botschaft vom Mensch werdenden Gott weitergesagt wird. Wenn öffentlich sichtbar wird: Hier, genau an diesem Ort, kommt Gott zur Welt. Auf dem Marktplatz von Husum. Vor der Kirche von Demmin. Auf dem Sportplatz von Crivitz. Auf dem Kiez von St. Pauli. In unseren Kirchen und draußen auf den Plätzen - mitten unter uns.
In dieser Fülle möglich wird das durch ein Grundelement evangelischer Kirche, das Martin Luther bereits im Jahr 1521 beschrieben hat: das allgemeine Priestertum. 500 Jahre später ist das in unserer Nordkirche sichtbar und lebendig: Im gemeinsamen Engagement und dieser so wunderbar bunten, typisch evangelischen Mischung aus Ehren- und Hauptamtlichen aller Generationen und Geschlechter, verlässlich Mitarbeitender und punktuell Interessierter, von Mitgliedern, Hochverbundenen, ab und an Vorbeischauenden und situativ Engagierten werden wir auch dieses Jahr an Weihnachten weitersagen, was uns die Engel ins Herz singen: „Fürchtet euch nicht!“
2. Fürchtet euch nicht
Ja, fürchtet euch nicht! Das ist nicht erst die Botschaft der Engel am Heiligen Abend. Das ist ihre Botschaft schon jetzt. Denn wenn wir auch nicht wissen, wie die Pandemie sich weiter entwickeln wird, was uns dabei begegnen wird, so wissen wir doch, wie Gott uns begegnet: Nicht als zorniger Rachegott mit gezücktem Schwert, bereit erbarmungslos zu richten und zu vernichten - als ein solcher wäre Gott nichts als ein Mythos. Ein Mythos, der menschlichen Wünschen nach Macht und Beherrschung Gestalt gäbe. Oder die Projektion eines mächtigen Über-Ichs, das donnernd einher schreitet, um eigenen Begierden und Wünschen Einhalt zu gebieten.
2.1. ChristusMenschenKind - ChristusMenschenKindGeschwister
Nein, der sich offenbarende Gott kommt anders daher - wird ein zerbrechliches ChristusMenschenKind, verwundbar, verletzlich, bezogen und angewiesen auf andere. Ein ChristusMenschenKind, das sich uns aussetzt. Das uns sehen und spüren lässt, was einzig rettet aus Angst und Not und Tod: sich hingebende Liebe, Barmherzigkeit für das Gefährdete und Schwache. Das ChristusMenschenKind zeigt uns sein Angesicht, und damit unser menschliches Angesicht - Ecce homo! Siehe, der Mensch! Sein Angesicht zeigt die Not der Leidenden, ist das Angesicht der um Luft Ringenden in Krankenbetten auf Intensivstationen, der Geflüchteten, die im Meereswasser dahintreiben, nicht wissend, ob Rettung rechtzeitig naht, der auf dem Boden liegenden, „I can’t breathe“, getötet von Gewalt und Rassismus, der vor Dürre und Krieg und knapper werdenden Ressourcen Fliehenden.
Ach ChristusMenschenKind - in deinem Antlitz das Seufzen der Schöpfung und aller Geschöpfe - verwundbar, verletzlich, vergänglich. Dein Leid, mein Schmerz, unsere Angst, die Not der Welt auf seinem Angesicht - so kommt uns das ChristusMenschenKind entgegen. Breitet seine Arme weit aus. Umfängt uns mit seiner Liebe. Macht uns zu ChristusMenschenKindGeschwistern, die einander sagen: Was auch geschieht - ich bin an deiner Seite. Was dir auch begegnet - da bin ja noch ich, da sind ja noch wir!
Denn das macht unseren Glauben aus: Wir hören dir zu - Tag und Nacht in der Telefonseelsorge. Wir sind für dich da - mit einem Ort zum Leben, einem Platz zum Schlafen. Wir stehen an deiner Seite - gegen Rassismus und Antisemitismus, für Mitmenschlichkeit und die Würde aller Menschen. Und wenn Regierungen die Rettung auf See verweigern, dann tun wir auch das: Wir schicken ein Schiff. Damit Barmherzigkeit sich ihren Weg bahnen kann.
2.2. Hoffnungsleuchten für Moria
Und was tun wir, damit Barmherzigkeit auch ihren Weg findet nach Moria auf Lesbos, in die ungesehenen Flüchtlingslager auf Samos, Chios, Kos und Leros? Wird für sie ein Zeichen der Barmherzigkeit von dieser Synode ausgehen? Ein Zeichen, das sagt: Das Leben von Flüchtlingen zählt! Weil Barmherzigkeit zählt! Hashtag #Hoffnungsleuchten für Moria!
Denn Hoffnungsleuchten, liebe Schwestern und Brüder, Hoffnungsleuchten brauchen nicht nur wir. Hoffnungsleuchten braucht unsere ganze Welt. Und sie braucht es nicht nur zu Weihnachten. Der Hashtag Hoffnungsleuchten fragt heute: Welches Hoffnungszeichen geht von uns hier in Travemünde aus? Denn macht nicht auch das unseren Glauben aus: Wir sehen nicht weg - weil Christus nicht weg sieht. Wir sind da. Weil Christus da ist, weil Gott da ist! Weil Gottes Hoffnung leuchtet!
3. Wo war die Kirche?
Eine der Anfragen an die Kirche in den vergangenen Monaten war: Galt das auch in den Wochen der Pandemie? Waren wir wirklich für Menschen da? Haben wir in Corona-Zeiten nicht auch manchen Menschen gefehlt?
Es gehört zum Wesen unseres reformatorisch geprägten Glaubens, das wir uns in Frage stellen und in Frage stellen lassen. Und nach allem, was ich überblicken kann, nach Rückfragen in den Diakonischen Werken in unserer Landeskirche und Rückmeldungen aus Politik und Gesellschaft, kann ich nur sagen: Wir waren da. Wir sind da. Präsent. Engagiert. Verlässlich. An der Seite derer, an die wir gewiesen sind und die uns brauchen. In der Seelsorge und mit Gottesdiensten und Andachten, im vielfältigen diakonischen Engagement, in der Pflege, mit Angeboten für Kinder und Jugendliche und so vielem mehr. Mein Respekt und meine Anerkennung gehören deshalb allen, die mit der Fürsorge für sich und ihre eigene Familie verantwortlich umgehen und zugleich für andere Menschen da sind - sie pflegen, begleiten, unterstützen, mit ihnen lachen und weinen, an ihrer Seite sind und bleiben. Beispielhaft für viele nenne ich heute die vielen Küsterinnen und Küster, insbesondere die ehrenamtlich tätigen, die jetzt dafür sorgen, dass Hygienekonzepte umgesetzt werden, damit auch analoge Gottesdienste und andere Veranstaltungen möglich sind, und die in dieser Zeit noch einmal erhöhte Anforderungen bewältigen. Und ich denke an die Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker, deren Arbeit unter den jeweils geltenden Beschränkungen in diesen Monaten und auch heute noch besonders herausfordernd ist, Kreativität und Umsicht verlangt - und die dennoch dafür sorgen, dass Musik und Gesang nicht verstummen, sondern Herz und Seele aufatmen lassen. Danke an sie alle!
Der Journalist Arnd Henze hat eine Fernseh-Dokumentation über die Zeit der Corona-Pandemie in einem Wolfsburger Seniorenheim der Diakonie gedreht. In diesem Seniorenheim sind 48 der mit Covid 19 infizierten Bewohner gestorben. Er sagt, viele Beteiligte dort seien noch immer traumatisiert. Die Menschen, die ihre Angehörigen verloren haben, die Pflegekräfte, die hilflos mit anschauen mussten, wie die ihnen anvertrauten Bewohner verstarben. Es gäbe, so Henze, „einen unauflösbaren Widerspruch .... zwischen dem Schutz vor dem Virus und der Sehnsucht nach körperlicher Berührung. Wir haben dafür als Gesellschaft zurzeit keine Lösung."
Ich kann mir vorstellen, dass sich auch viele von uns in seinen Worten wiederfinden. Es mag es Situationen gegeben haben, in denen Menschen die Begleitung durch Seelsorger*innen schmerzlich vermisst haben. Besonders zu Beginn der Pandemie. Als große Unsicherheit bestand, wie sich das Corona-Virus verhält, wie Ansteckungswege verlaufen. Als kaum Schutzkleidung vorhanden war und Pflegeeinrichtungen alles tun mussten, um die Einbringung des Virus zu verhindern.
Die Nachrichten, die damals aus dem erwähnten Seniorenheim kamen, haben alle alarmiert. Dass es Besuchsverbote gab, dass Angehörige sich nicht sehen und berühren konnten, gehört zu den schmerzlichen Tatsachen dieser Zeit. Dabei wurden Entscheidungen getroffen, die sich in unser gemeinsames Gewissen eingraben. Denn sie haben unseren Umgang mit den Schwächsten, mit den auf andere Angewiesenen und damit unser aller Zusammenleben, mitten ins Herz getroffen. Diese Entscheidungen haben wir alle gemeinsam zu tragen – in der Solidarität einer gemeinsamen Verantwortung.
Der Schmerz, der dabei entstanden ist; die Fehler, die gemacht wurden: all dies können wir nicht ungeschehen machen. Aber wir können einander und wir können Gott um Vergebung bitten. Und es gibt noch etwas, das wir gemeinsam tun können. Zur Einsicht in Fehler, zur Bitte um Vergebung, liebe Synodale, tritt ein Drittes: Wir lernen, bessere Möglichkeiten zu finden, mit der Corona-Pandemieumzugehen. Mit Worten des vor hundert Jahren unweit von hier geborenen Philosophen Hans Blumenberg: „Der Mensch ist zwar bedroht, aber nicht chancenlos.“
Aus meiner Sicht lernen wir gerade neu, mit Ambivalenzen und Widersprüchen zu leben, die sich nicht schnell und einfach auflösen lassen. Wer mit unauflöslichen Widersprüchen zu leben vermag, in einem nicht perfekten Leben, wer um Schuld weiß, Reue empfinden und um Vergebung bitten kann, wird frei, neu und anders handeln zu können, damit Notwendendes getan werden kann.
3.1. Kirchliche Feiertage als Raum für Schuld, Reue, Vergebung und zum Gedenken an die Gestorbenen
Das ist eine Grundeinsicht des christlichen Glaubens, die es gerade in Corona-Zeiten neu in gesellschaftliche Diskurse einzutragen und für unser Zusammenleben fruchtbar zu machen gilt. Mit Worten, aber auch durch Rituale und Liturgien, mit Musik und Gottesdienst. Lasst uns deshalb nicht nur auf Weihnachten sehen, sondern ebenso auf die Wochen vorher, auf Buß- und Bettag, Volkstrauertag, Toten- und Ewigkeitssonntag. Diese Gedenktage geben Raum, um Schuld auszusprechen und Vergebung zu erfahren, Versäumnisse und Fehler auch in öffentlicher Verantwortung anzusprechen, nach neuen Wegen zu suchen und Trauer und Schmerz zu teilen, z.B. mit Gedenkgottesdiensten für die, die ihre Gestorbenen in diesem Jahr in sehr kleinem Kreis zu Grabe tragen mussten. Denn „Gott bettet die Toten in feine Farben, Farben der Liebe und salzige Tränen. Das Lächeln des Lebens, die Last der Tage, in seiner Hand ruht, was war, was ist, und was bleibt.“
3.2. Lernprozesse
Auch das ist eine Folge der Corona-Pandemie: Unsere ausschließlich an positiven Emotionen ausgerichtete Kultur der Spätmoderne wird durch Corona eindringlich daran erinnert, dass unser Leben sich in diesen Emotionen eben genau nicht erschöpft. „Die spätmoderne Kultur des Subjekts“, sagt der Soziologe Andreas Reckwitz, preist „die Hervorbringung positiver Emotionen als zentralen Lebenssinn: Befriedigung, Freude, Erfüllung … das Spielerische, Intensität, Resonanz (...).“ Durch Corona aber kann nicht mehr verdrängt werden, dass Beschränkungen und Unvorhersehbares, Leid und Schmerz zum Leben dazugehören, und das verlangt in neuer Weise, damit umgehen zu können. Dabei hilft eine gewisse Nüchternheit und die Fähigkeit, Widersprüche aushalten, ohne sie auflösen zu können. Noch einmal Andreas Reckwitz: „Eindeutige Wertungen und einfache Lösungen sind (…) nicht zu erwarten, im Gegenteil: wer Ambivalenzen aushalten und produktiv mit ihnen umgehen kann, ist in der Spätmoderne klar im Vorteil.“
Und ist deshalb auch fähig zu lernen, Veränderungen zu reflektieren und das zu vollziehen, was der Soziologe und Philosoph Jürgen Habermas als Lernprozesse beschreibt. Lernprozesse, die gefördert, aber „nicht moralisch oder rechtlich gefordert werden“ können. Das gilt für einzelne wie für die Gesellschaft insgesamt, und ebenso für Kirche und Diakonie. Bestimmt werden deshalb insbesondere unsere fünf Hauptbereiche weiterhin nordkirchliche Impulse in die gesellschaftliche Debatte eintragen, um zukünftig noch besser auf die zu achten und die Stimme für die zu erheben, deren Bedürfnisse in den Wochen der Pandemie zu wenig berücksichtigt wurden, z.B. Kinder und Jugendliche, Alleinlebende aller Generationen, Familien mit Kindern. Denn sie erleben zuerst und besonders gravierend, wie fragil unser aller Leben und Zusammenleben ist.
4. Mitmenschlich leben in Freiheit und Verantwortung
Vergänglich, verwundbar, verletzlich sind unsere Körper und unsere Seelen. Vergänglich, verwundbar, verletzlich sind unsere Formen von Gemeinschaft, sind die weltweit gesponnenen Netze und Lieferketten, die Kreisläufe von Wirtschaft und Arbeit. Vergänglich, verwundbar, verletzlich sind Natur und Umwelt, bedroht ist Gottes Schöpfung von Klimawandel durch unseren Lebensstil. Vergänglich, verwundbar, verletzlich - ist unser Leben.
Liebe Schwestern und Brüder, bedurfte es tatsächlich einer Pandemie, uns daran zu erinnern? Bedurfte es einer Pandemie, uns zu erinnern, dass den Worten vergänglich, verwundbar, verletzlich - ein Wort trotzig, mutig, beharrlich gegenüber steht: verantwortlich. Ich bin verantwortlich nicht allein für mich, sondern ebenso für dich. Denn das ist doch das höchste Gebot: Gott lieben von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und allen deinen Kräften und deinen Nächsten lieben wie dich selbst.
Nächstenliebe aber ist keine romantische, sondern eine verantwortliche Liebe. Sie ist kein reines Gefühl, sondern eine Entscheidung. Eine Entscheidung aus Liebe, Freiheit und Verantwortung. So, wie es wie Martin Luther einer anderen seiner reformatorischen Hauptschriften vor 500 Jahren entfaltet hat: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Und ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht und jedermann untertan.“
Diese Freiheit meint keine, der es allein darum ginge, zwischen Optionen, wie diesem und jenem Konsumgut oder diesem und jenem Urlaubsort auswählen zu können. Sondern es geht um die Freiheit, sich selbst bestimmen zu können - und damit bestimmen zu können, wie ich mich zu dem verhalte, was mir im Leben begegnet. In welcher Haltung ich dem begegne, was mir widerfährt. Darüber entscheiden zu können, wie ich mich selbst und mein Menschsein verstehe.
4.1. 30 Jahre Friedliche Revolution 2019 - 30 Jahre Deutsche Einheit 2020
Was das für das persönliche Leben, und auch für das Zusammenleben in einer Gesellschaft bedeutet, daran haben mich in besonders bewegender Weise die Veranstaltungen zum 30. Jahr der Friedlichen Revolution im vergangenen Jahr erinnert. Beim Fernsehgottesdienst zum Tag der Deutschen Einheit in Kiel, bei Gottesdiensten anlässlich des 30. Jahrestages der Friedlichen Revolution in Waren, zum 9. November in Ratzeburg. In vielen Begegnungen und Gesprächen haben Menschen ihre Erlebnisse und Gefühle mit mir geteilt. Sie gehören zu meinen kostbarsten Erfahrungen in diesem ersten Jahr in der Nordkirche. Ich danke dafür von Herzen!
Und ich denke: Die Lebenserfahrungen von Menschen mit einer überwiegend ostdeutschen Biografie müssen mehr als bisher als eine wichtige Quelle für Fragen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens wahrgenommen und berücksichtigt werden. Weil sich Menschen in den ostdeutschen Bundesländern nicht ausreichend wertgeschätzt fühlen, so eine gerade veröffentlichte Studie des Berlin-Instituts, ziehen sich viele auf die Vergangenheit und ihre vertraute Kultur zurück. Und erleben Eingriffe dort als besonders verletzend. Auch in unserer Kirche sollten wir selbstkritisch fragen, weshalb in aktuellen Umfragen vier von zehn Menschen in den ostdeutschen Bundesländern das Gefühl beschreiben, Bürger zweiter Klasse zu sein. Liebe Geschwister, hohe Synode: Auch wir müssen reden! Miteinander, nicht übereinander.
Der Einsatz von Christenmenschen und Kirchen in DDR-Zeiten für Menschenrechte und für Freiheit, er steht mir im 30. Jahr der Deutschen Einheit besonders vor Augen und lässt mich mit Befremden sehen auf manches Freiheitsverständnis, das einem gegenwärtig, insbesondere auf den sogenannten Corona-Demos, begegnet. Dort wird ein Freiheitsbegriff propagiert, der losgelöst ist von der Verantwortung für andere, und statt dessen allein auf eigene Ansprüche ausgerichtet ist. Als Nordkirche, die Ost und West verbindet, haben wir im 30. Jahr der Deutschen Einheit deshalb in den öffentlichen Diskurs einzutragen: Freiheit und Verantwortung gehören zusammen. Sie sind die zwei Seiten einer Medaille. Und werden verbunden durch Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Durch Mitmenschlichkeit.
5. Besuche
Wie sich genau das im Leben unserer ganzen Nordkirche ausdrückt, das habe ich bei meinen vielen Besuchen in Gemeinden, Kirchenkreisen und bei allen drei Diakonischen Werken erlebt: in Schleswig-Holstein, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern. Ich habe es erlebt in Gremien und Ausschüssen, auf Kirchenleitungssitzungen, bei Beratungen mit Euch, liebe Geschwister, im Bischofsrat und hier mit Ihnen auf der Landessynode. Und ich habe es eingetragen in den gesellschaftlichen Diskurs über den Raum unserer Kirche hinaus, unter anderem mit Stellungnahmen gegen Antisemitismus und Rassismus, zum Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur Sterbehilfe, für die Unterstützung des Bündnisses United4Rescue, sowie bei zahlreichen ökumenischen und interreligiösen Begegnungen, und ebenso auf der Ebene von EKD und VELKD.
6. Krisenmodus durch Corona
All das hat die Zeit bis zum Februar diesen Jahres erfüllt und ja, auch wirklich randvoll ausgefüllt. Mit Beginn der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie stand dann anderes im Mittelpunkt meiner Arbeit: Vom 12. März an war das u.a. die Leitung der täglichen Sitzungen eines landeskirchlichen Krisenstabes - mehr dazu im Bericht der Kirchenleitung. Nach einem guten Dreiviertel Jahr meines Dienstes in der Nordkirche in diese Situation zu gehen, mit für Klarheit und Besonnenheit zu sorgen, das war keine leichte Aufgabe.
Aber es ist uns auf landeskirchlicher Ebene und aus meiner Sicht ebenso auf allen anderen Ebenen der Nordkirche gut gelungen, in außergewöhnlicher und neuer Situation angemessen und umsichtig zu reagieren. Dafür haben viele in diesen Wochen außergewöhnlich viel geleistet, nicht auf Uhrzeiten und Arbeitszeiten geschaut, sondern nach Kräften dafür gesorgt, das Beste für die uns anvertrauten und sich uns anvertrauendem Menschen und damit für unsere Kirche zu tun. Dafür gilt Ihnen allen auch heute mein herzlicher und großer Dank!
Traurig gemacht hat mich aber, dass viele geplante Begegnungen und Besuche seit März dieses Jahres abgesagt und verschoben werden mussten. Sie fehlen mir, und ich freue mich über das, was nicht abgesagt wird, sondern verantwortlich wieder möglich ist. Denn auch dieses Wort hat die letzten Monate geprägt: Abgesagt. Abgesagt werden musste auch unsere Synodensitzung im April. Und nun, wieder hier zusammen am vertrauten Travemünder Ort, fühlt es sich an, als lägen Jahre und Zeiten, zwischen unseren Tagungen. Nun aber sind wir wieder hier - vorsichtig, besonnen, abwägend, verantwortungsvoll. Unsicher zögernd begrüßen wir einander mit breitem Augenlächeln, mit knuffender Geste der Ellenbogen, neigen den Kopf betonter und tiefer oder breiten die Arme weit aus, die vermissende Gebärde der Leere - ich schließe dich auf Distanz in die Arme, nehme dich an mein Herz - denn ja, ich habe dich vermisst. Ich habe euch vermisst.
7. Einander vermissen
So, wie ich die vermisse, die unsere Kirche verlassen haben. Die uns sagen: Es geht auch ohne euch. Die die Weise, wie wir Kirche und Glaube leben, eben nicht vermissen. Mich schmerzt das. Denn sie alle fehlen uns - mit ihrer Sicht auf das Leben, ihren Fragen und ihrer Hoffnung. Wenn wir die, die ausgetreten sind oder erst gar nicht den Weg zu uns finden - wenn wir sie wirklich vermissen, weil wir mit ihnen die Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde teilen möchten, weil sie wie wir eine Gemeinschaft suchen, die aus mehr besteht als einem losen Nebeneinander, und die sich nach Verbundenheit sehnen in einer sich immer mehr spaltenden Welt - wenn wir sie so vermissen - muss ein solches Vermissen dann nicht immer neue Wege zueinander und miteinander suchen? Neue Wege, unseren Glauben zu teilen. Neue Wege, Gemeinde zu sein - auch weiterhin, ja, in Parochien und vertrauten Strukturen, die Halt geben und Sicherheit, und auch ganz anders: Denn die Gemeinschaft an einer evangelischen Schule - ist sie nicht auch eine Gemeinde? Oder die sich situativ bildende Gemeinde bei überraschenden Begegnungen, wie die Pop-up-Church sie immer wieder herbeiführt - sind sie nicht auch Gemeinde? Und ebenso die Gemeinschaftsformen, die sich im digitalen Raum bilden? Lasst uns einander ermutigen, auf neue Weise Gemeinde, auf neue Weise Kirche zu sein. Das heißt nicht, alle guten Traditionen und gewachsenen Strukturen über Bord zu werfen - aber sie dürfen auch nicht so einengend sein, dass Neues sich nicht heraus wagt oder entmutigt wird.
7.1. Damit ein Anfang sei...
Denn der Mensch wurde erschaffen, damit ein Anfang sei. Die Philosophin Hannah Arendt beschrieb dies treffend mit ihrem Konzept der Natalität, der Geburtlichkeit des Menschen: Wir Menschen sind mit der Gabe des Beginnens ausgestattet. Und als zum Beginnen, zum neu Anfangen begabten Wesen ist uns auch die Freiheit geschenkt, handeln zu können.
Handeln aber heißt „neu beginnen - im Unterschied zum Weitermachen, zum Verwalten oder Reagieren. Der Mensch wird geboren, um zu handeln, damit mit ihm Neues in die Welt kommen kann.“ Oder mit Worten von Hannah Arendt: „Weil jeder Mensch auf Grund des Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen.“
Lasst uns dem, was unser Menschsein ausmacht, auch in der Gestaltung unserer Kirche Raum geben. Lasst uns dabei nicht zu viel Angst haben, etwas zu verlieren. Lasst uns vielmehr im Ohr behalten: Fürchtet euch nicht! Und wenn du selbst gerade keinen Weg weißt: Dann lass andere Neues ausprobieren. Sieh hin, was passiert. Mit Güte und Wohlwollen. Und schenk ihnen deine Hoffnung, nicht deine Skepsis. Damit wir nicht eine von ihrer Vergangenheit festgelegte, sondern zu ihrer Zukunft befreite Kirche sein können.
Natürlich nehme ich auch wahr, dass Mitarbeitende hilflos und bedrückt sind, weil trotz ihres großen Engagements, trotz ihrer Kreativität und durch Corona verstärkt deutlich wird: Wir werden weniger Kirchenmitglieder, wir verfügen über weniger finanzielle Mittel. Die Feststellung, dass wir es dabei mit gesamtgesellschaftlichen Trends zu tun haben, hilft bei all ihrer Richtigkeit dabei kaum. Auch Abwehrhaltungen, jetzt im eigenen Bereich möglichst lange irgendwie halten zu wollen, was zu halten ist, werden nicht weiter helfen. Was hilft, ist jetzt die richtigen Debatten zu führen. Mitgliederbindung, Mitglieder-orientierung und Mitgliedergewinnung und die Finanzierungsmodelle von Kirche werden dabei wichtige Themen sein. Für all diese Themen aber haben wir Spielräume.
8. Kirchensteuer und Finanzierungsmodelle von Kirche
Auch dafür, uns jenseits der Kirchensteuer der Frage nach neuen Finanzierungsmodellen von Kirche zu widmen. Ich danke heute ausdrücklich allen, die uns über die Kirchensteuer verlässlich und kontinuierlich finanzielle Mittel zur Verfügung stellen. Aber wir müssen uns fragen, ob die Kirchensteuer in ihrer bisherigen Form weiterhin die Hauptsäule der Finanzierung unserer Kirche sein kann und sein soll. Wenn wir diese Frage mit Ja beantworten und Überlegungen zu Veränderungen an diesem Finanzierungsmodell ablehnen, werden wir uns in der Tat zukünftig vor allem mit Kürzungsdebatten beschäftigen.
Wir sollten deshalb auch unser gegenwärtiges Kirchensteuermodell befragen, alles daran prüfen und das Beste behalten. Und anderes ändern. Und ich frage: Warum wird in der Debatte über die Kirchensteuer eigentlich über Kirchenmitglieder gesprochen anstatt mit ihnen? Warum fragen wir nicht einfach Kirchenmitglieder, Ausgetretene und uns Verbundene, beispielsweise mit Hilfe einer repräsentativen Umfrage, welche Formen von Finanzierungsie selbst langfristig unterstützen und praktizieren möchten? Ein Kirchensteuermodell mit einem an der Einkommenssteuer orientiertem Prozentsatz, ein Kultursteuermodell ähnlich dem in Italien, eine Selbsteinschätzung auf dem Hintergrund der jeweiligen persönlichen wirtschaftlichen und sozialen Situation, oder eine Mischung aus alldem?
Denn unser derzeitiges Kirchensteuermodell ist nicht in Stein gemeißelt. Als es entstand, antwortete es auf die Frage und löste das Problem, wie sich nach der Trennung von Thron und Altar die Finanzierung von Kirche gestalten sollte. Es war so über viele Jahrzehnte eine „Problembearbeitungsformel“. Es könnte aber sein, und ich rege an, genau das zu prüfen, dass wir an einem Zeitpunkt angekommen sind, wo genau dieses Modell nicht mehr allein ein Problem löst, sondern selbst neue Probleme und Fragen hervorruft, zu deren Lösung es selbst nicht mehr in der Lage ist. Wenn sich also heute, rund 100 Jahre nach Einführung des derzeitigen Kirchensteuermodells, dieses Modell nicht mehr als erfolgreiche Problembearbeitungsformel, sondern als Ursache von Problemen, etwa als Mit-Ursache von Kirchenaustritten herausstellt, sollten wir es dann nicht ändern, modifizieren, ergänzen? Soll eine in der Vergangenheit gefundene, bewährte und lange Zeit gute Lösung tatsächlich das einzige Modell dafür sein, wie es in Zukunft weitergeht?
Wie also könnten weitere Finanzierungsmodelle aussehen? Manche Kirchenkreise sind da bereits jetzt aktiv, zum Beispiel durch eine kluge Bewirtschaftung von Immobilien. Auch hier ist nicht überall alles möglich. Aber auch hier wird sich zeigen, dass und wie wir miteinander Nordkirche sind, dass und wie wir füreinander einstehen, uns gegenseitig unterstützen und stärken.
9. Ökumenische Partnerschaften
Denn, um es ganz klassisch mit dem Theologen Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher zu sagen, Kirche wird zwar erfahrbar in räumlicher und zeitlicher Konkretion und Begrenzung, als ecclesia particularis. Das heißt aber zugleich: diese partikulare Weise darf ihrerseits nicht mit der Kirche als als ganzer oder wahrer Kirche verwechselt werden.
Sie, die ganze, wahre Kirche, die ecclesiaspiritualis, ist immer mehr und immer größer als die partikulare Kirche vor Ort. Das weitet unseren Blick - auch in die Ökumene, auch zu unseren Partnerkirchen. Vor wenigen Tagen konnte ich mit Silvia Genz, der Kirchenpräsidentin unserer lutherischen Partnerkirche in Brasilien, sprechen. Ich habe sie gebeten, auch Ihnen als Synodalen die Situation dort zu schildern. Was sie uns sagt - wir werden es nachher sehen und hören - steht beispielhaft für die sehr schwierige Lage vieler unserer Partnerkirchen. Nicht wenige ökumenisch Engagierte in unserer Kirche beunruhigt deshalb die Sorge, dass jetzt, wo die Not in so vielen Ländern der Erde um so vieles größer ist als bei uns, darüber nachgedacht werden könnte, ob der Haushaltsanteil für die Mittel für den Kirchlichen Entwicklungsdienst, also die KED-Mittel, mit drei Prozent zu hoch sei. Und geben zu bedenken: Bei zukünftig kleiner werdenden Haushaltsvolumina werden die real für den KED zur Verfügung stehenden Finanzmittel ja ohnehin schon geringer. Und gerade jetzt kommt es auf weltweite Geschwisterlichkeit, Hilfe, Solidarität an - gerade jetzt ist die Orientierung an Nächstenliebe und Barmherzigkeit bitter nötig.
10. Mehr als die körperlich Anwesenden - Mitgliederorientierung
Die partikulare Kirche vor Ort ist nie die ganze Kirche. Auch deshalb dürfen wir nicht nur die im Blick haben, die jeweils körperlich anwesend sind. Denn die Kirchenmitglied-schaftsuntersuchungen, die statischen Zahlen auch des letzten Jahres zeigen uns in all ihrer Nüchternheit: Was viele Menschen von einer religiösen Begleitung ihres Lebens in einer christlichen Gemeinschaft erwarten, passt offenbar nur begrenzt zu dem, was sie bei uns finden und wahrnehmen. Insbesondre trifft das auf die 20- bis 35-Jährigen zu, und zunehmend auch auf die Gruppe der über 60-Jährigen. Aber nach wie vor suchen Menschen nach einer religiösen Begleitung ihres Alltags. Nach wie vor suchen sie nach einer persönlich gestalteten spirituellen Praxis. Nach wie vor wollen sie Verantwortung für andere und für unsere Welt übernehmen. Sie fragen, was dabei Orientierung und Halt gibt.
Als Kirche, um es mit dem Philosophen Jürgen Habermas zu sagen, übernehmen wir in diesem Zusammenhang wie andere Religionsgemeinschaften im politischen Leben einer säkularen Gesellschaft die Rolle einer Interpretationsgemeinschaft. Mit unseren Erzählungen, Deutungen, Interpretationen, mit „relevanten, ob nun überzeugenden oder anstößigen Beiträgen zu einschlägigen Themen (nehmen wir Einfluss) auf die öffentliche Meinungs- und Willensbildung.“ Und unsere weltanschaulich pluralistische Gesellschaft bildet „für solche Interventionen einen empfindlichen Resonanzboden, weil sie in politisch regelungsbedürftigen Wertkonflikten immer häufiger gespalten“ ist.
Aber über so viel Trennendes hinweg suchen Menschen verschiedener Lebensformen nach Gemeinschaft und Segen, nach Geborgenheit und Verbundenheit. Nach wie vor ist es deshalb wichtig, das wir als Kirche zivilgesellschaftliche Akteurin sind, die aktiv Verantwortung übernimmt für ein Miteinander, in dem alle Menschen in Würde leben können. Deshalb sollten, so Habermas, auch säkulare Bürger nicht ausschließen, „in religiösen Äußerungen semantische Gehalte, vielleicht sogar verschwiegene eigene Intuitionen zu entdecken, die sich übersetzen und in eine öffentliche Argumentation einbringen lassen.“ Deshalb ist es gut, wenn wir uns als Kirche, gemeinsam mit anderen Akteur*innen der Zivilgesellschaft, einsetzen für ein Lieferkettengesetz, für die Aufnahme von Flüchtlingen aus dem zerstörten Lager in Moria, für die Bewahrung der Schöpfung und unsere in unserem Glauben wurzelnde Begründung und Motivation dafür immer wieder schildern und verständlich machen.
Die gegenwärtigen religiösen Sehnsüchte der Menschen, ihre Suche nach Gemeinschaft und ihre konkreten ethischen Fragen aber werden wir noch besser verstehen müssen. Und wir sollten anders und intensiver mit Kirchenmitgliedern im Kontakt sein. Gut, dass die Kirchenkreise Mecklenburg und Pommern mit dem Amt für Öffentlichkeitsarbeit neue Wege der Mitgliederkommunikation und Mitgliederorientierung beschreiten - sehen wir aufmerksam hin und lernen als ganze Nordkirche von ihnen! Und lasst uns auch hier neue Wege erproben, in digitalen, analogen, hybriden Formaten.
11. Analog - digital - hybrid
A propos analog, digital, hybrid - wann genau haben wir uns eigentlich angewöhnt, mit diesen Worten zu beschreiben, wie wir einander begegnen? Mit diesen drei Worten haben neue Formen unserer Zusammenarbeit Einzug gehalten: was noch vor kurzem scheinbar unmöglich und rechtlich umstritten war, z.B. Gremiensitzungen in digitaler Form mit rechtsgültigen Beschlussfassungen, das ist nun Teil unseres Alltags geworden.
Ich bin dankbar, insbesondere dem Rechtsdezernat des Landeskirchenamtes und einer Arbeitsgruppe der Kirchenleitung, dass hier schnell und kurzfristig Regelungen gesucht und gefunden wurden, die bereits jetzt vieles ermöglichen. Und ein Kirchengesetz, dass die Beratung und Beschlussfassung kirchlicher Gremien in digitalen Sitzungen rechtsverbindlich regeln und der Landessynode auf einer ihrer nächsten Sitzungen vorgelegt werden soll, kann - wenn es hier in der Synode Zustimmung findet - unser aller Handlungs- und Beteiligungsmöglichkeiten noch einmal erweitern, und Entscheidungsprozesse verkürzen. Dabei sind die digitalen und hybriden Formate für die einen schon lange erprobt und ersehnt, für die anderen noch immer oder jetzt erst recht anstrengend, ungeliebt, ungewohnt. Neu aber sind sie für uns alle gemeinsam.
Ich weiß: Manches bespricht und diskutiert man lieber in realer Präsenz, weil Gesten und Körper eben auch ihre Sprache sprechen und wir vertrauter sind damit, einander so zu lesen und zu verstehen. Ich sehe aber auch: manche gewohnte Hierarchie und informelle Kommunikation verändert sich, wenn alle im Kachelformat in Erscheinung treten. Und unsere die Beteiligungskultur ist dadurch definitiv anders geworden: vielfältiger, diverser, differenzierter. Ich halte das für eine gute Entwicklung - denn in unserer so großen und sehr diversen Landeskirche brauchen wir die verschiedenen Stimmen aus allen Regionen, Altersgruppen, Milieus, um gemeinsam Nordkirche sein zu können. Was uns dabei auch technisch unterstützen kann, sollten wir intensiver und selbstverständlicher nutzen. Digitalisierung so umzusetzen, dass sie unsere Kommunikation befördert, dass sie unkomplizierte und schnelle Kontakte schafft, ist kein Zukunftsprojekt. Das ist ein Gegenwartsprojekt.
In unserer föderalen Struktur brauchen wir Lösungen, die zwischen allen Ebenen unserer Landeskirche gut miteinander und aufeinander abgestimmt sind. Ich hoffe deshalb sehr, dass das „Netzwerktreffen digitale Infrastruktur der Nordkirche“ hier bald zu Absprachen kommt und bin gespannt, welche Vorschläge und Vorhaben aus dem Digitalisierungsausschuss der Synode kommen werden.
11.1. Neue Chance für das Priestertum aller in einer Kultur der Digitalität
Digitalisierung aber meint weit mehr als technische Lösungen für Kommunikationsfragen. In einer „Kultur der Digitalität“, wie sie der Kulturwissenschaftler Felix Stalder für die Gegenwart beschreibt, wollen (und sollen) immer mehr Menschen in aller Vielfalt ihrer Lebensmodelle, ihrer religiösen Einstellungen und politischen Meinungen mit ihren Themen im öffentlichen Diskurs Aufmerksamkeit finden. Dadurch erweitern sich die Themen, die als wichtig und legitim anerkannt werden. Und erweitert um die geografische Komponente ermöglicht digitale Kommunikation auch denjenigen die Beteiligung und Teilhabe an Diskursen und Meinungsbildungsprozessen, die sie zuvor gar nicht oder nur wenig beeinflussen konnten - einfach, weil sie von den Zentren der Entscheidung und der Macht zu weit entfernt leben. Mit Hilfe digitaler Kommunikation ist es möglich, auch von der sogenannten Peripherie aus an Meinungsbildungsprozessen zu partizipieren und hohe Aufmerksamkeit zu finden. Genau das wird von vielen mittlerweile als selbstverständlich erwartet und eingefordert. Wo das nicht möglich ist, ist Beteiligung oder gar Mitgliedschaft nicht attraktiv.
Ich sage es deshalb ganz klar: Digitalisierung bedeutet eine neue Chance für das Priestertum aller. Für eine breitere Beteiligung an der Kommunikation des Evangeliums. Sie bedeutet neue Kontaktmöglichkeiten zu Mitgliedern wie Kirchenfernen, zu Hochverbundenen wie Suchenden, und fördert eine breitere Beteiligung an der Leitung und Gestaltung unserer Kirche auf allen Ebenen. Denn auch das ist eine neue und nicht von der Hand zu weisende Erfahrung der letzten Monate: Nicht wenige Gremien und Ausschüsse tagen erstmals vollzählig, weil alle vollzählig abwesend und eben gerade deshalb vollzählig anwesend sind…
11.2. Abwesend anwesend sein
Verblüffend, was wir so lernen über Anwesenheit und Abwesenheit: Über die Anwesenheit von Abwesenden, die Bedeutung und Nicht-Bedeutung von Körperlichkeit und Präsenz - Was sucht ihr auch heute die Abwesenden? - Sie sind doch hier!
Und müssten denn nicht gerade wir Christenmenschen empfänglich-aufmerksam sein für die Anwesenheit des Abwesenden? Vertrauen wir doch darauf, dass der Auferstandene in seinem Geist jetzt und hier mitten unter uns ist, und wir durch die Zugehörigkeit zu ihm die werden, die ihn verkörpern: Leib Christi.
Und weiter: müssten wir nicht empfänglich-aufmerksam sein dafür, dass wir zwar sein Leib sind, aber sein Leib eben gerade nicht begrenzt ist auf die jeweils körperlich Anwesenden. Sondern besteht aus allen, die auf seinen Namen getauft sind, hier und an allen Orten unserer Nordkirche, hier und an allen Orten seiner Kirche weltweit, verbunden mit allen, die vor uns in seinem Namen waren, vereint mit allen Engeln, Mächten, Gewalten und Kräften des Himmels, als Schwestern und Brüder verbunden hinweg über alle Grenzen von Zeit und Raum - eine einzige große Wolke von Zeug*innen, die uns umhüllt und in der wir selbst andere umhüllen.
Dass der Leib Christi, die Kirche eben nicht begrenzt ist auf die jeweils körperlich Anwesenden, muss uns das nicht auch sehr konkret fragen lassen: Auf welche Weise stehen wir in Kontakt mit denen, die mit uns zusammengehören, aber in Kirchen, Gottesdiensten, Gemeindehäusern nicht körperlich anwesend sind. Lassen wir von uns hören? Teilen wir ihnen mit: Wir sind da - kannst du uns brauchen? Und wie lassen wir sie wissen: Wir vermissen und brauchen dich, deine Stimme, deinen Glauben, deine Zweifel, deine Hoffnung?
11.3. Nordkirche als Pionierin
In Zeiten der Pandemie sind auch dafür neue Ideen in Erscheinung getreten. Geradezu herausgefordert durch die Pandemie. Am 12. März hatte ich auf Twitter gefragt: „Welche Angebote gibt es aus der Nordkirche für Gebete, Gottesdienste, Seelsorge etc. im digitalen Raum? Wie schützen wir gefährdete Menschen und bleiben geistlich verbunden?“ Innerhalb kürzester Zeit kam eine Fülle von Ideen und Antworten zusammen. Analog wie digital. Gestreamte Gottesdienste. Segensworte auf Instagram und Facebook, Gebete auf Twitter. Andachtstexte im Briefkasten oder zum Mitnehmen an der Wäscheleine vor der Kirchentür. Segensbanner des Amtes für Öffentlichkeitsarbeit. Seelsorge am Telefon und im Chat und, so oft es irgend möglich war, am Krankenbett und im Pflegeheim. Einkaufen für die, die nicht vor die Tür gehen können oder wollen. Konfirmationen und Taufen im Garten. Podcasts, Spendenaktionen, Gottesdienste zum Einwählen per Telefon, liveline-Gottesdienste jeden Sonntag in einem anderen und spannenden Kontext. Und wo die Tafeln nicht öffnen konnten, standen randvoll gepackte Tüten mit Lebensmitteln eben in Kirchen, damit Menschen in Not und Armut zu essen und zu trinken haben. So vieles mehr könnte ich noch erzählen. Hohe Synode, sind das nicht alles Zeichen dafür, dass und wie relevant wir als Nordkirche sind - relevant für Menschen!
Eine von der EKD in Auftrag gegebene Studie des midi-Instituts bescheinigt uns als Nordkirche für die Zeit der Corona-Pandemie eine Pionierfunktion. Weil viele Gemeinden, Pastor*innen, Mitarbeitende digital sehr schnell sehr viel dazugelernt und professionelle, ansprechende Angebote gemacht haben. Durch diese digitalen Angebote registriert die Studie für die Nordkirche einen Zuwachs an Gottesdienst-Mitfeiernden um 374 Prozent. Darunter viele, die sonst keine kirchlichen Angebote wahrnehmen. Ebenso wie andere, die im Netz das finden, was sie vor Ort vergeblich suchen. Vieles weist darauf hin, dass es insbesondere interaktive Beteiligungsformen sind, die geschätzt werden, also die direkte Reaktion auf Musik und Texte mittels Chat-Funktion oder das Mitbeten bei Fürbitten. Was wiederum lehrt uns das für unsere analogen geistlichen Angebote?
Bei meinen Treffen mit Akteur*innen der digitalen Nordkirche wurde deutlich: Für sie alle sind analog und digital keine Alternativen, sondern sich wechselseitig ergänzende Formen von Kontakt, Gemeinschaft im Teilen lebendiger, beglückender und tröstender Erfahrungen des Glaubens.
Ich möchte deshalb auch hier unterstreichen: Die neuen Formen digitaler Verkündigung, digitaler Kommunikation und auch Gemeinschaft sind kein privates Feierabend-engagement, sie sind Teil des beruflichen Alltags im Verkündigungsdienst. Und wenn wir über die Organisation bspw. pfarramtlicher Arbeit in Regionen nachdenken, sollte dabei zukünftig nicht nur der geografische, sondern auch der digitale Raum mit berücksichtigt werden.
12. Ein neuer Kontinent der Nordkirche - der digitale Sprengel
In den zurückliegenden eineinhalb Jahren konnte ich vielen Einladungen folgen, in Dörfern, Städten und Schulen Veranstaltungen miterleben und Gottesdienste feiern. Diese analogen und ebenso die digitalen Begegnungen stärken und festigen meine internen und eröffnen mir neue externe Kontakte.
Dass ich gerne in sozialen Medien präsent bin und sie nutze, hat mir meine Wahrnehmung und meinen Kontakt in die Weite der Nordkirche hinein erweitert und ergänzt. In besonderer Weise meinen Kontakt zum theologischen Nachwuchs, zu Studierenden und Auszubildenden. Für diese digitale Präsenz habe ich viel Zustimmung bekommen, weiß aber auch, was über das Amt des Landesbischofs, der Landesbischöfin in der Nordkirche gelegentlich auch mir gesagt wird:
Dass es ein Amt sei ohne Land, ohne einen geografisch umrissenen Sprengel also. Mal ganz abgesehen davon, dass die Landesbischöfin in ihrer jeweiligen Präsenz vor Ort und ganz lutherisch „sine vi, sed verbo“ Raum greifen, mal ganz abgesehen davon, dass geografisch die ganze Landeskirche doch auch das Land der Landesbischöfin sein darf, entdecke ich persönlich gerade einen vierten Sprengel. Sozusagen einen neuen Kontinent der Nordkirche. Einen, der geografische und demografische Grenzen überschreitet und durchlässig macht, auch die Grenzen zwischen Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern. Es ist der digitale Sprengel. In ihm sind die analogen Grenzen schon längst verflüssigt und weiter im Fluß - hier geht es weniger darum, ob du in Flensburg oder Demmin, in Altona oder Pinnow wohnst, sondern darum, wie du lebst, was du glaubst oder was nicht, warum du morgens aufstehst, woran du dein Herz hängst, worauf du dich im Leben und Sterben verlässt, und was das alles mit Kirche, speziell mit der Nordkirche, zu tun hat oder haben könnte.
Deshalb bin ich als Landesbischöfin auch im digitalen Raum unterwegs. Und damit im digitalen Sprengel, der genau genommen gar kein Sprengel ist, weil er die ganze Nordkirche und noch weit mehr umfasst. Geografische Grenzen spielen hier keine Rolle. Und ich bin offen gestanden auch überrascht, was für eine hohe Resonanz das findet.
Ich danke heute den vielen, die schon längst in diesem Sprengel unterwegs sind, die Grenzen überschreiten und neue Gemeinschaften bilden, nordkirchenweit und weit darüber hinaus, hinaus ins Weite und Öffnende. Von Herzen bin ich dankbar, dass ich dabei als Weggefährtin auch an ihrer Seite mit auf dem Weg sein kann.
13. Glauben und Leben angesichts von Unkontrollierbarem
Unser Glaube eröffnet uns Möglichkeiten, „gemeinsam auf kontrollierte Weise mit dem Unkontrollierbaren zu leben.“ Das Unverfügbare, nicht-planbare, wie z.B. ein Virusgeschehen, können wir uns auch im Glauben nicht verfügbar machen. Aber der Glaube hilft Menschen, ich sage es mit Worten des Theologen Ingolf Dalferth, der Glaube hilft Menschen, „angesichts des für sie nicht kontrollierbaren Unkontrollierbaren lebenspraktische, kognitive und emotionale Strategien zu entwicklen, die ihnen zu leben und zu überleben erlauben.“ Und das nicht in Gedankenspielen, sondern als gelebte Gemeinschaftspraxis.
Das heißt auch: ein sinnloses Pandemiegeschehen wie das des Corona-Virus müssen wir nicht mit Sinn aufladen. Denn dieses Virus, diese Erkrankung hat keinen Sinn und auch keine Botschaft an „uns Menschen“. Unser Glaube aber ermöglicht, sich „im Sinnvollen zum Sinnlosen zu verhalten und auf kontrollierbare Weise mit dem Unkontrollierbaren zu leben.“
Konkret wird das überall dort, wo Fragen, Zweifel und Sehnsucht Raum haben und eine Stimme bekommen. So, dass sprachlos und fassungslos machendem Erleben in Worte gefasst werden kann, somit eine Fassung bekommt und zur Erfahrung wird. Erfahrung, die besprochen werden kann und für individuelle und gesellschaftliche Lernprozesse zur Verfügung steht.
So, dass Hoffnung aufleuchten kann. So, dass weiterhin - trotz allem Schweren, aller Angst, trotz Krankheit und Tod - die Rede ist von Gottes unbeirrbarer Liebe, von Barmherzigkeit in der Nachfolge Jesu, von Hände und Herzen bewegender Geisteskraft. Ist es nicht ermutigend, dass unsere Hoffnung genau so lebendig ist - mitten in einer Welt, die sich Wochen und Monate fast ausschließlich um die Gefährdung des Lebens, um Sterben und Tod drehte?
14. Kirche sein, die sich von Gottes Zukunft leiten lässt
Auf ihrem Weg durch das Leben wollen Menschen verstehen, was ihnen widerfährt. Sie suchen nach einer Deutung für das, was sie erleben. Sie suchen Orte und Zeiten, wo sie ihrem Glück und ihrer Freude, ihrer Trauer und ihren Fragen, ihrer Hoffnung, Ausdruck verleihen können. Lasst uns an ihrer Seite sein. Mit Raum für Fragen, die uns gemeinsam bewegen, mit Antworten, die wir gefunden haben, in der Heiligen Schrift, in unserer Tradition, in unserem persönlichen Glaubensleben und unserer ethischen Reflexion, im Gespräch mit anderen Wissenschaften und Religionen.
Auf ihrem Weg durch das Leben übernehmen Menschen Verantwortung. Tagtäglich, liebevoll und treu. Füreinander, für Menschen in Not, für Natur und Umwelt. Lasst uns mit ihnen gemeinsam auf dem Weg sein, gesellschaftliche und öffentliche Verantwortung wahrnehmen. Für die, die auf der Suche sind nach tastenden Antworten und verbindender Gemeinschaft und darum zu uns kommen. Für die, die nicht zu uns kommen, aber die dennoch suchen - nach Antworten, nach Gemeinschaft, und die wir, die uns unverhofft finden. Gott hat sie wie uns ja schon längst gefunden.
Lasst uns eine Kirche sein, die sich von Gottes Zukunft und deshalb von Hoffnung leiten lässt, von Gottes Stimme, die uns beim Namen nennt und vom Tod erweckt, von Christus, der uns die Liebe lehrt, zu der er uns befreit, von der bewegenden Geisteskraft, die uns aufbrechen lässt zu neuen Ufern. Denn so spricht Gott:
„Siehe, ich will etwas Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr´s denn nicht?!“ (Jesaja 43,19)