Bischöfin Kirsten Fehrs: „Christlicher Glaube und völkisches Denken passen nicht zusammen“
16. Januar 2024
Hamburg ist eine internationale, multikulturelle und vielfältige Stadt. Damit das so bleibt, hat sich in den vergangenen Tagen ein breites Bündnis aus Kultur, Wissenschaft, Religionsgemeinschaften und Wirtschaft zusammengefunden und ruft zu einer Kundgebung gegen Rechtsextremismus am Freitag, den 19. Januar, auf dem Hamburger Rathausmarkt auf. Bischöfin Fehrs gehört zu den Initiatorinnen und Initiatoren der Aktion.
Hamburg. Nicht erst durch die aktuelle Berichterstattung über ein Geheimtreffen von AfD-Politikern, Neonazis und Unternehmern in einer Villa bei Potsdam sind Neubildungen rechtsextremer Netzwerke sichtbar geworden. Seit geraumer Zeit stellen deutschlandweit zunehmend extremistischere Kräfte eine Gefahr für Demokratie und Frieden in unserem Land dar. In Hamburg hat sich daher unter Mitwirkung von Kirsten Fehrs, Bischöfin im Sprengel Hamburg und Lübeck der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland (Nordkirche), ein breites Bündnis aus der Mitte der Hamburger Stadtgesellschaft gebildet, um am Freitag (19.01.) ab 15:30 Uhr auf dem Rathausmarkt gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Radikalisierung zu demonstrieren.
Starkes Signal aus der Mitte der Gesellschaft
„Mit Forderungen nach einer massenhaften Vertreibung von Menschen mit Migrationshintergrund wird eine Grenze überschritten. Spätestens jetzt müssen wir ein starkes Signal aus der Mitte der Gesellschaft gegen Rassismus und Antisemitismus setzen. Als Kirchen dürfen wir hier nicht schweigen, denn christlicher Glaube und völkisches Denken passen nicht zusammen“, so die amtierende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). „Am Freitag steht Hamburg auf – und ich hoffe, dass überall in unserem Land weitere Zeichen für Vielfalt und Freiheit folgen werden. Die Mehrheit bricht ihr Schweigen, und das wird höchste Zeit!“
Unterstützerinnen und Unterstützer
Die Kundgebung auf dem Hamburger Rathausmarkt wurde initiiert von Tanja Chawla (DGB Hamburg), Kazim Abaci (Unternehmer ohne Grenzen e.V.) und Kirsten Fehrs, Bischöfin im Sprengel Hamburg und Lübeck der Nordkirche. Unterzeichnet wurde der Aufruf zur Kundgebung u.a. von Erzbischof Dr. Stefan Heße, Philipp Stricharz (Jüdische Gemeinde Hamburg), Özlem Nas (Schura Hamburg), John Neumeier (Hamburg Ballett), Prof. Dr. Mojib Latif (Akademie der Wissenschaften in Hamburg), Joachim Lux (Thalia Theater), Christoph Lieben-Seutter (Intendant der Elbphilharmonie) und Kerim Pamuk (Schriftsteller und Kabarettist). Auch der Musiker und Hamburger Ehrenbürger Udo Lindenberg unterstützt die Kundgebung gegen Rechtsextremismus.
Die Rede von Bischöfin Fehrs im Wortlaut:
Liebe Hamburgerinnen und Hamburger,
und heute vor allem dies: Liebe Freundinnen und Freunde der Demokratie!
Was für ein großartiges Bild ist das, es berührt mich, wie viele sich tatsächlich auf-gemacht haben! So unbeschreiblich viele! Und wie bitter zugleich, dass solche Kundgebungen nötig sind, im Jahr 2024, in unserem Land. Danke, dass Ihr alle da seid. Danke, lieber Stefan Gwildis, für die Musik, die von Herzen kommt. Und auch ich stehe von ganzem Herzen überzeugt hier mit Euch allen, weil ich nicht schweigen kann und schweigen will zu diesem Rechtsextremismus, der unsere Demokratie angreift. Mit Bildern und Worten und einer Menschenverachtung, von der wir hofften, dass wir sie in diesem Land nie wieder hören und sehen würden! Nein, es reicht!
Wir wollten heute eigentlich da drüben stehen, auf dem Rathausmarkt. Die AfD hält dort heute eine Fraktionssitzung ab – na denn…aber sie hat dazu eine Pressemitteilung herausgegeben, die doch stutzig machen muss. Da heißt es: „Wir hoffen, […] dass unsere Abgeordneten unbehelligt und ohne Angst ihren Verpflichtungen nachkommen können.“ Angst. Ohne Angst. Das ist das Stichwort. Ich frage mich, ob die Damen und Herren sich einmal überlegt haben, wer hier eigentlich wem Angst macht.
Ich habe in den vergangenen Tagen von vielen Menschen gehört, die Angst haben, und mit einigen habe ich darüber gesprochen. Da ist eine jüdische Frau, die erzählte, dass sie ernsthaft überlegt: Wohin kann ich eigentlich auswandern? Wohin soll ich gehen, wenn in Deutschland eine rechtsextreme Partei an die Macht kommt, die von „Remigration“ spricht? Ein Wort, dass sich bitter reimt auf Deportation. Ich habe mit muslimischen Frauen gesprochen, die mir berichten, wie die bösen Blicke in Bus und Bahn zunehmen. Und ich höre aus der Diakonie, dass es schwer ist, Pflegekräfte aus dem Ausland dazu zu bewegen, nach Deutschland zu kommen.
Wer will denn in einem Land leben, in dem noch der dritten und vierten Generation signalisiert wird: Ihr gehört nicht hierher, und ihr gehört nicht dazu? Das ist das Ergebnis, wenn Rechtsextremisten an Boden gewinnen. Wenn Vertreibungsfantasien die Runde machen. Dann breitet sich im Land ein kriechender, nasser Frost aus, so wie wir das heute hier erleben. Wir wollen nicht, dass das gesellschaftliche Klima kälter wird. Auch das ist ein Klimawandel, den wir aufhalten müssen!
Mit Forderungen nach einer massenhaften Vertreibung von Menschen mit Migrationshintergrund wird eine Grenze überschritten. Darauf kann es nur eine Antwort geben: Nein, zu jeder Form von Rassismus und Antisemitismus! Und zwar ein Nein, das klar aus der Mitte der Gesellschaft kommt. Von uns, die wir die Mehrheit sind! Wir sind, liebe Leute, die Mehrheit, und das müssen wir zeigen. Wie heute!
Als Kirchen werden und dürfen wir nicht schweigen, heute nicht und morgen auch nicht. Denn christlicher Glaube und völkisches Denken passen nicht zusammen, genauso wenig wie Kreuz und Hakenkreuz! Unser Kreuz hat keine Haken! Und für alle Religionen, so sage ich es ausdrücklich auch als Vorsitzende des interreligiösen Forums, gilt: Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Jedem Menschen auf dieser Erde gebührt das Recht auf Heimat, Freundschaft und Frieden. Auch dafür steht unser weltoffenes Hamburg auf – und ich hoffe, dass überall in unserem Land weitere Zeichen für Vielfalt und Freiheit folgen werden. Die Mehrheit bricht ihr Schweigen, und das wird höchste Zeit! Wie gut: Hamburg steht auf, sowas von! Bleiben wir wach und klar und aufrecht, liebe Freundinnen und Freunde, ich danke euch dafür!