Der Strom göttlicher Energie geht durch die Zeiten und wärmt auch heute
01. September 2018
Festgottesdienst zur 840-Jahr-Feier Hohen Viecheln, Predigt zu Lukas 17,11-19
Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Gemeinde!
Hohen Viecheln versteht sich offenbar aufs Feiern. Wo andere auf den 850. Jahrestag der Ersterwähnung gewartet hätten, feiern sie schon 10 Jahre früher. (Sonst sind wir ja in Mecklenburg eigentlich 50 Jahre später.) Das, was ich vom Festumzug gesehen habe, war wirklich sehenswert.
Ich freue mich, dass so viele aus dem Dorf dieses Fest vorbereitet haben und Sie als große Gemeinschaft feiern. In der Tat, Sie können stolz und dankbar sein – stolz zum Beispiel auf diese besondere Dorfkirche; dankbar für die Generationen vor uns, die uns diese Kirche als Wahrzeichen von Hohen Viecheln hinterließen; dankbar auch für alle, die in dieser Gemeinde Jahrhunderte hindurch Verantwortung getragen haben – unter manchmal schwierigsten Bedingungen. So ist dieser Festtag auch ein Tag der Vergewisserung: Wir erinnern uns, woher wir kommen, und orientieren uns, wohin wir gehen wollen – in unserem persönlichen Leben wie als Gemeinschaft.
Was hat dieser Ort nicht alles erlebt in den 840 Jahren seiner Geschichte!
Man schreibt das Jahr 1178: Anfänge voller Hoffnung, dass dieses Land gut zum Leben sei und dass Gott mit seinem Segen dabei! Verheerende Kriege hat Hohen Viecheln überstanden. Dann die Erleichterung, wenn endlich Frieden wurde! Verschiedene Gesellschaftssysteme kamen und gingen. Manchmal waren die Zeiten so schlecht, dass Menschen von hier auswanderten, um woanders ein menschenwürdiges Leben zu suchen. Manchmal waren die Zeiten woanders so schlecht, dass Menschen hierher flüchteten oder vertrieben wurden. Auch in Hohen Viecheln versuchten sie einen neuen Anfang.
Wir feiern Gottesdienst in einer wunderbaren Kirche. An ihr haben kundige Handwerker gebaut. Die Ausstrahlung dieses Raumes verdankt sich aber auch seiner inneren Prägung: Hier haben unsere Vorfahren gehofft und gebetet, ihre Toten betrauert und Kinder zur Taufe getragen. Sie sind an den Altar getreten und haben das Abendmahl gefeiert. Generation für Generation hat an diesem Ort die großen Geschichten der Hoffnung gehört, das Leben besungen, nach Gott als dem Geheimnis der Welt gefragt, gezweifelt und Vertrauen gefasst. Es gab Zeiten, in denen der Glaube Normalfall war. In der DDR wurde der Glaube zum Problem, wurde staatlich bekämpft, kostete manchen den Wunschberuf. Und heute? Da muss man als Christ keine Nachteile befürchten. Aber für viele ist die Tradition abgebrochen. In ihrem Weltbild kommt Gott nicht vor. Sie haben nichts dagegen, wenn andere glauben. Aber ihnen selbst fehlt der Zugang. In nachdenklichen Momenten fragen vielleicht auch sie sich: Worin liegt der Sinn all dessen, was wir erleben? Was wird sein, wenn unser Leben endet?
Albert Einstein wurde einmal gefragt, was für ihn die wichtigste Frage sei, die man sich im Leben stellen könne. Einstein antwortete: „Ist das Universum ein freundlicher Ort oder nicht?“ In der Tat, damit hängen ganz wesentliche Fragen zusammen:
- Sind wir umgeben von sinnloser Leere? Geboren aus blindem Zufall?
- Dazu verurteilt, wie Staubkörner in der ewigen Kälte des unendlichen Raumes verloren zu gehen?
Die Bibel ist überzeugt:
- Unser Leben ist nicht ohne Sinn.
- Am Beginn der Evolution, am Beginn der Entwicklung allen Lebens stand Gott, ein Sinn gebender Anfang.
- Weil Gott uns Menschen will, sind wir da und haben Platz in seinem großen Plan.
- Der Strom göttlicher Energie geht durch die Zeiten und wärmt auch heute.
So gehörte für Einstein Gott zum Verstehen der Welt dazu. Je tiefer er in die Geheimnisse der Natur eindrang, desto näher fühlte er sich seinem Schöpfer.
Manchmal sind es ja die Bilder, die uns bei unserem Nachdenken über Gott im Wege stehen. Der nette, weißbärtige, ältere Herr auf der dritten Wolke links, wie manche Karikatur ihn zeichnet, ist für mich keine hilfreiche Vorstellung. Nein, wir müssen unseren Verstand nicht an der Kirchentür abgeben. Auch aufgeklärte, wissenschaftlich gebildete Menschen unserer Tage können Beziehung zu dem aufzunehmen, der der Ursprung allen Lebens ist.
Wie können wir etwas erfahren über Gott, über das, was ihm wichtig ist?
Die Geschichten um Jesus von Nazareth machen vieles deutlich – zum Beispiel die von der Heilung der zehn Aussätzigen. Auf den ersten Blick ist es die Geschichte einer wunderbaren Heilung von Lepra-Kranken, und man kann sich fragen:
- War Jesus ein Heiler? Wenn in ihm die Kraft Gottes am Wirken war, warum sollte ihm dann nicht Ungewöhnliches möglich sein?!
- Oder hat der Glaube der Kranken an die Wunderkräfte Jesu ihre Selbstheilungskräfte so gestärkt, dass sie gesund wurden? Ein besonders krasser Fall von Placebo?
Vielleicht sind diese Fragen gar nicht das Wichtigste an dieser Geschichte. Mindestens so wichtig könnte sein, wer die Aussätzigen eigentlich waren und wovon sie frei wurden:
Die Zehn gehörten zu Bruder-Völkern, die aber normalerweise eigentlich nichts miteinander zu tun haben wollten – zum einen wohl Angehörige des Volkes Israel, aber zum anderen Leute aus Samarien. Die galten nicht als rechtgläubig. Wer etwas auf sich hielt, mied diese Samariter. Ihre furchtbare Krankheit aber ließ sie zu einer Schicksalsgemeinschaft werden. Nicht nur, dass sie körperlich entstellt waren! Der Aussatz machte sie zu gemeinsam Ausgesetzten – zu Menschen, die abseits menschlicher Siedlungen leben mussten und andere durch Glöckchen vor der Ansteckungsgefahr zu warnen hatten. Gemeinsam schlugen sie sich durch, erbettelten sich ihre Nahrung.
Manchmal öffnen uns erst Krankheit oder anderes Leid die Augen dafür, wie künstlich die Mauern sind, die Menschen gegeneinander aufrichten: Israeliten und Samariter, Alteingesessene und Zugezogene, Ostdeutsche und Westdeutsche, Einheimische und Geflüchtete… Gewiss, es gibt Unterschiede. Und doch – brauchen wir erst Katastrophen, um zu begreifen: Alle miteinander sind wir Menschen, alle – Kinder Gottes?! Nicht im Gegeneinander werden wir die Herausforderungen unserer Zeit bestehen, schon gar nicht durch Gewalttätigkeiten wie in Chemnitz, sondern dann, wenn wir unsere Kräfte zusammentun! Im Großen wie im Kleinen! Darum: Fort mit den falschen Mauern zwischen Menschen! Entdecken wir, was uns miteinander verbindet! Das vermag viele Probleme unseres Zusammenlebens zu heilen.
Die zehn Aussätzigen werden in der Begegnung mit Jesus frei von ihrer Krankheit. Die Priester, denen sie sich zeigen, bestätigen ihre Heilung. Sie dürfen nach Hause, zu ihren Familien, bleiben nicht länger außen vor. Was muss das für eine Freude gewesen sein! Darüber kann man alles andere glatt vergessen.
Doch einer denkt in all dem Überschwang an den, dem er sein unglaubliches Glück verdankt. Ausgerechnet ein Samariter kehrt um, dankt Gott und Jesus für seine Heilung. Ausgerechnet der, der nicht zu den Rechtgläubigen gehört, der so anders ist.
Dankbarkeit hängt offenbar nicht davon ab, ob jemand den ‚richtigen‘ Glauben hat oder nicht. Ob man dankbar zu sein vermag, ist vielmehr eine menschliche Qualität, in der man sich üben kann.
Vor einigen Jahren erzählte mir ein Arzt, dass er in seinem Urlaub einige Wochen in Indien die Ärmsten der Armen unentgeltlich behandelt habe. Ich fragte ihn, wie er das Elend ausgehalten habe, das ihm dort begegnet sei. „Das war schon schlimm“, antwortete er, „doch am meisten hat mich erschreckt, nach meiner Landung in Deutschland in die Gesichter der Menschen hier zu sehen – verschlossen, ernst, fast düster. In Indien war ich trotz aller Not zumeist umgeben von fröhlichen, offenen, ja, strahlenden Menschen.“
Was macht ein Leben reich? Was macht Menschen glücklich?
Gesundheit, Wohlstand, Gemeinschaft, Bildung – sie alle sind wichtig, garantieren aber noch nicht ein glückliches Leben. So wird die Frage nach dem Glück in unseren Tagen oft gestellt. Eine entscheidende Antwort ist: „Das Leben findet Erfüllung, wenn wir es lieben.“ Zwei Menschen können in ganz ähnlichen Situationen leben, aber für den einen bleibt die Welt stumm und grau, für den anderen hat sie Klang und Farbe. Ein Gespür dafür zu entwickeln, was mir an Gutem in meinem Leben begegnet – darauf kommt es an.
Eine schlichte Übung kann da helfen: Abends den Tag noch einmal vorbeiziehen zu lassen und sich bewusst zu fragen: Wo sind dir Menschen freundlich begegnet? Wo haben dir Reaktionen anderer gezeigt, dass du ihre Sorgen mitgetragen hast?
Wer sich darin übt, kann Überraschendes erleben: Auf einmal sind positive Erlebnisse gegenwärtig, die ganz unscheinbar geblieben waren – kleine Erlebnisse, die spüren lassen: Da hat sich jemand gefreut über ein Telefonat oder einen Brief. Da war eine andere dankbar, dass sie ihre Sorgen aussprechen konnte. Da wurde ein Problem in Angriff genommen und wird nun an der richtigen Stelle bearbeitet. Dein Lebensgefühl hellt sich auf. Denn du bekommst einen Blick für das, was du bislang meist übersehen hast.
Und damit wird deutlich: Dankbar sein zu können, ist erstrebenswert, nicht weil es sich so gehört, sondern weil es unser Leben reich macht. Dass der Samariter zurückkam und für sein Glück dankte, war wichtig für ihn selbst. Nicht so sehr für Jesus. Vielleicht, dass dieses Fest heute uns aufmerksamer werden lässt für das, wofür wir dankbar sein können. Es ist mehr, als wir denken.
Amen.