Die Kirche als Leib Christi - jeder ist begabt!
01. Dezember 2017
Gemeindeerneuerung nach Dietrich Bonhoeffer, Predigt über 1. Kor. 12, 4 – 11 im Lobpreisgottesdienst
Der Apostel Paulus schreibt an die Gemeinde in Korinth: Es gibt verschiedene Gaben; aber es ist ein Geist. Und es gibt verschiedene Aufgaben (Dienste); aber es ist ein Herr. Und es gibt verschiedene Begabungen; aber es ist ein Gott, der alles in allen wirkt. Jedem einzelnen wird die Offenbarung des Geistes gegeben zum Nutzen aller; dem einen wird durch den Geist gegeben, von der Weisheit zu reden; dem anderen wird gegeben, von der Erkenntnis zu reden, nach demselben Geist; einem anderen Glaube, in demselben Geist; einem anderen die Gabe, gesund zu machen, in dem einen Geist; einem anderen die Kraft, Wunder zu tun; einem anderen prophetische Rede; einem anderen die Gabe, die Geister zu unterscheiden; einem anderen verschiedene Arten von Zungenrede; einem anderen die Gabe, die auszulegen. Dies alles wirkt derselbe eine Geist und teilt jedem das seine zu, wie er will.
Liebe Gemeinde!
Gemeinde und Kirche brauchen Erneuerung, das ist keine Frage. Diese Erneuerung geht immer aus von einer erneuten Hinwendung zum Wort Gottes. Wo immer das Wort des lebendigen Gottes ernst genommen wird, wird Gemeinde neu. Gemeinde entsteht geradezu aus dem Wort Gottes. Sie ist eine creatura verbi, eine Schöpfung durch das Wort. Damals in Jerusalem, nach Tod und Auferstehung Jesu Christi und der Aussendung des Heiligen Geistes, hatten junge Leute plötzlich einen Durchblick, den man ihnen nicht zutraute, und alte und ausgebrannte Menschen hatten wieder Träume von einem gelingenden Leben. So entstand eine Gemeinschaft neuer Qualität. Daran gilt es, sich heute von neuem zu orientieren.
Bonhoeffer zum Gemeindeaufbau
Die „Geistliche Gemeindeerneuerung Nord“ hat mich gebeten, aus meiner Kenntnis Dietrich Bonhoeffers und seiner Theologie einige Hinweise zu geben, die für unsere Suche nach Erneuerung hilfreich sind. Die wichtigsten Aussagen dazu finden wir in den beiden Schriften Bonhoeffers „Nachfolge“(1937) und „Gemeinsames Leben“(1939). Ich werde einiges Wenige daraus aufnehmen können und die Grundthesen in der Auslegung von 1. Korinther 12 hervorheben. Am Ende seines großartigen Buches „Nachfolge“ schreibt Bonhoeffer: „Das Leben Jesu Christi ist auf dieser Erde noch nicht zu Ende gebracht. Christus lebt es weiter in dem Leben seiner Nachfolger.“ (281) Das Leben Jesu Christi unter uns und in dieser Welt ist kein Gedanke, sondern ein Körper, eine Körperschaft. Paulus spricht vom „Leib Christi“. Das ist die Gemeinde. Jesus Christus ist jetzt im Geist dort anwesend, wo Menschen zusammenkommen, die sich in seinem Namen versammeln.
Die, die sich versammeln, stehen also in einer positiven Beziehung zu Jesus. Bonhoeffers Theologiestudenten merken im Jahr 1932, dass sich bei ihrem Lehrer eine Veränderung vollzogen hat, als er sie fragt, ob sie Jesus lieb haben. So persönlich hat er vorher nicht gesprochen[1]. Bonhoeffer hat wiederentdeckt, dass allem christlichen Handeln die Nachfolge Christi vorangeht. Das 1937 erschienene Buch „Nachfolge“ ist der Extrakt aus den zentralen Vorlesungen des Predigerseminars der Bekennenden Kirche, das im April 1935 in Zingst gegründet wurde und dann im Juni desselben Jahres – über eine kurze Zwischenstation in Greifswald – nach Finkenwalde bei Stettin umziehen musste.[2] Was allerdings Nachfolge Jesu bedeutet, scheint Bonhoeffer in der Evangelischen Kirche unklar. Deswegen legt er in den zentralen Veranstaltungen des Predigerseminars die Nachfolgeworte Jesu, die Bergpredigt und die paulinischen Aussagen über die Gemeinde als Leib Christi aus. In dieser Auslegung dienen Bonhoeffer seine eigene Erfahrungen einer Wende vom Theologen zum Christen[3] als Hintergrund für seine Auslegung der Nachfolgeworte Jesu.
1936 schreibt Bonhoeffer an eine Bekannte, wie er Orientierung in sein Leben bekommen hat: „... Ich stürzte mich in die Arbeit in sehr unchristlicher und undemütiger Weise. Ein wahnsinniger Ehrgeiz, den manche an mir gemerkt haben, machte mir das Leben schwer und entzog mir die Liebe und das Vertrauen meiner Mitmenschen. Damals war ich furchtbar allein und mir selbst überlassen. Das war sehr schlimm. Dann kam etwas anderes, etwas, was mein Leben bis heute verändert und herumgeworfen hat. Ich kam zum erstenmal zur Bibel. Das ist auch wieder sehr schlimm zu sagen. Ich hatte schon oft gepredigt, ich hatte schon viel von der Kirche gesehen, darüber geredet und geschrieben - und ich war noch kein Christ geworden, sondern ganz wild und ungebändigt mein eigener Herr. Ich weiß, ich habe damals aus der Sache Jesu Christi einen Vorteil für mich selbst für meine wahnwindige Eitelkeit gemacht. Ich bitte Gott, dass das nie wieder so kommt. Ich hatte auch nie, oder doch sehr wenig gebetet. Ich war bei aller Verlassenheit ganz froh an mir selbst. Daraus hat mich die Bibel befreit und insbesondere die Bergpredigt. Seit dem ist alles anders geworden. Das habe ich deutlich gespürt und sogar andere Menschen um mich herum. Das war eine große Befreiung. Der christliche Pazifismus, den ich noch kurz vorher leidenschaftlich bekämpft hatte, ging mir auf einmal als Selbstverständlichkeit auf ...“[4]
Der damals 26-jährige Bonhoeffer vollzieht beim Lesen der Bibel eine Revision von Leben und Denken. Im Licht der Bibel wird ihm bewusst, dass er sein Christsein bisher für eigene Zwecke instrumentalisiert hat und damit eigentlich „noch kein Christ geworden“ war. Nun aber will er Jesus nachfolgen. Nachfolge ist für Bonhoeffer keine selbst gewählte Entscheidung, sondern die schlichte Antwort auf den Ruf Jesu: „Jesus ruft in die Nachfolge… Es gibt keinen anderen Weg zum Glauben als den Gehorsam gegen den Ruf Jesu ... Es ist … nichts anderes, als die Bindung an Jesus Christus allein, d. h. gerade die vollkommene Durchbrechung jeder Programmatik, jeder Idealität, jeder Gesetzlichkeit. Darum ist kein weiterer Inhalt möglich, weil Jesus der einzige Inhalt ist. Neben Jesus gibt es hier keine Inhalte mehr. Er selber ist es … Nachfolge ist nichts als Bindung an die Person Jesu Christi allein…“[5].
Nachfolge ist nicht nur ganzheitlich, sondern auch universal. In der Nachfolge beschlagnahmt Jesus Christus nicht nur das ganze Leben des Nachfolgers, sondern in der Nachfolge liegt auch die Tendenz, die Gemeinschaft der Nachfolgenden zu vergrößern. Pfarrer sind immer auch Evangelisten. Der Missionsbefehl strukturiert den Dienst des Pfarrers insgesamt. Jesus konnte sich nicht damit beruhigen, dass einige Wenige treu bei der Gemeinde bleiben; und so sucht auch Bonhoeffer nach Wegen, wie auch die erreicht werden können, die nicht zum Gemeindekern gehören. Denn Nachfolge und Einladung zum Glauben, Nachfolge und Mission gehören untrennbar zusammen. Glauben kann man nicht machen. Mission darf weder physischen noch psychischen Zwang anwenden, sondern nur in aller Freiheit zum Glauben rufen und muss den Rest Gottes Geist überlassen.
Paulus zeichnet in unserem Predigttext eine Gemeinschaft, die anders ist als die Gesellungsformen, die wir sonst kennen. Es sind die unterschiedlichsten Menschen, die sich hier zusammenfinden. Aber ausschlaggebend bei all dem ist, dass das, was sich hier tummelt, einen gemeinsamen Ursprung hat. Darauf weist uns Paulus hin. Alles ist gewirkt von dem einen Geist Gottes, der Anteil gibt an Jesus Christus und der Jeder und Jedem das Seine zuteilt. Paulus bezieht die Vielfalt der Gemeinde zurück auf den Dreieinigen Gott. Vielleicht haben Sie es beim einfachen Lesen am Anfang nicht gemerkt, aber der Apostel hat sich seinen Einstieg in diesen Gedankengang offensichtlich sehr gut überlegt. Die vielgestaltige Einheit und die versöhnte Verschiedenheit in der Gemeinde haben ihren Ursprung im Dreieinigen Gott. Sie schaffen miteinander Raum für die Anwesenheit Gottes in dieser Welt. Der Leib Christi ist der Körper Gottes in Raum und Zeit.
Ich lese die Verse 4 bis 6 noch einmal in einer eigenen Übersetzung[6]:
„Es gibt verschiedene Gaben, aber es ist ein Geist.
Und es gibt verschiedene Aufgaben; aber es ist ein Herr.
Und es gibt verschiedene Begabungen; aber es ist ein Gott, der alles in allen wirkt.“
Der Trinität von Geist, dem Herrn Jesus Christus und dem Schöpfer Gott entspricht die Dreiheit von Gaben, Aufgaben und Begabungen. Das die Glaubensgemeinschaft bestimmende Prinzip ist der Geist Christi. Er führt Verschiedene zu einem Leib zusammen. Vor Gott sind wir alle gleich. Und darum ist die Übersetzung Martin Luthers, der von Ämtern redet, unpassend. Es geht in der Gemeinde Jesu Christi nicht um eine Ämterhierarchie, sondern um die Verschiedenheit von Diensten und Aufgaben. Vor Gott sind wir gleich, zugleich sind wir aber sehr verschieden nach den Gaben, die wir empfangen haben. In der Gemeinde Jesu Christi gilt nicht: Die Einen sind die Autoritäten und geben die Anweisungen und die anderen führen aus. Nicht: Die Einen lassen sich bedienen und die anderen dienen, sondern in diesem Leib trägt jeder an seiner Stelle seine eigene Verantwortung für das Ganze. Genau das ist der entscheidende Punkt im Bild vom Leibe. Der Dienst jedes einzelnen Gliedes ist für das Ganze wichtig. Fällt ein Glied aus, ist das Ganze gestört. Das Bild des Leibes ist beredt. Wir denken vielleicht, der Darmtrakt sei doch nicht so wichtig wie Kopf oder Hand. Aber ein kleines Unwohlsein im Darm kann die ganze Leistungsfähigkeit rauben. So ist es auch mit anderen Körperteilen. Eine Entzündung im kleinen Zeh – kann zu einer Blutvergiftung führen, die zum Tode führt: Es gibt keine wichtigen und unwichtigen Glieder am Leib. Jedes ist für das Ganze wichtig.
Viele Gaben, aber ein Geist
Aber über diesen natürlichen Vergleich hinaus gilt ja noch mehr: Die Gabe, die Jede und Jeder bekommen hat, ist sein oder ihr „Anteil an der Herrschaft und der Herrlichkeit Christi“ (Ernst Käsemann). Wenn wir unsere Gaben von Gott bekommen haben und dies unser Anteil am Herrn ist, dann müssen wir einen spezifischen Dienst entsprechend unserer besonderen Berufung ausführen, sonst nehmen wir unseren Anteil am Herrn nicht wahr.
Liebe Gemeinde, das was Gott uns schenkt, verbindet uns mit ihm. Gott schenkt uns zuerst seine Gemeinschaft. Er verbindet uns mit ihm. Durch die Sakramente Taufe und Abendmahl werden Menschen, die sich bisher fremd waren, zum „Leib Christi“ zusammengefügt. Wir werden „in Christus hinein getauft“, (vgl. Röm. 6, 3 f). Die Taufe ist die Eingliederung in den Leib Christi. An anderer Stelle sagt der Apostel „Ihr seid alle Gottes Kinder durch den Glauben an Jesus Christus. Denn wie viele von euch auf Christus getauft sind, die haben Christus angezogen.“ (Gal. 3, 26 f) So wie die Taufe unsere Gliedschaft am Leibe Christi begründet, so ist das Abendmahl die Erneuerung dieser Gemeinschaft: Wenige Verse vor unserem Predigttext erinnert Paulus die Korinther: „Der gesegnete Kelch, welchen wir segnen, ist der nicht die Gemeinschaft des Blutes Christi? Das Brot, das wir brechen, ist das nicht die Gemeinschaft des Leibes Christi? Denn ein Brot ist’s, so sind wir viele ein Leib, weil wir alle eines Brotes teilhaftig sind.“ (1. Kor. 10, 16 f).
Es sind ungeheure Bilder und Vorstellungen, die der Apostel verwendet. Wir merken gleich, hier ist die Grenze zwischen der sichtbaren und erfahrbaren Gemeinschaft und einer großen überzeitlichen und überräumlichen Gemeinschaft fließend. Auf der einen Seite ist es die örtliche Gemeinde, in der getauft wird und das Abendmahl gefeiert wird. Es ist die örtliche Gemeinde, in der Menschen sich real begegnen, die den Leib Christi bildet. Es muss nicht unbedingt die Ortsgemeinde, die Parochie sein, aber auf jeden Fall die Gemeinde derer, die sich als Brüder und Schwestern erfahren.
Sie empfängt Anteil am Leib des Herrn durch das Abendmahl. Jede örtliche Gemeinde bildet sich aus der Tischgemeinschaft mit dem sich für sie in den Tod dahingebenden Jesus und so wird aus vielen Einzelnen etwas gemeinsam Neues. Diese neue Gemeinschaft ist nicht nur eine Gemeinschaft der körperlosen Ideen, sondern im konkreten Miteinander erfahrbar. Sie lebt aus dem gegenseitigen Nehmen und Geben. Sie ist ein gegliederter Organismus, in dem unterschiedliche Menschen sich ergänzen. Gottes Gabe ist die zu Pfingsten neu geschenkte Gemeinschaft und zugleich immer ein konkreter Anteil in ihr. Mit der mir geschenkten Gabe nehme ich meine Gliedschaft am Leibe Christi wahr
Verschiedene Aufgaben, aber ein Herr
Deswegen ist Gnadengabe immer auch Aufgabe. Eine nicht wahrgenommene Gabe ist wie ein nicht mehr benutztes Körperteil. Es verliert seine Funktionen, wird am Ende nicht mehr durchblutet und mit Sauerstoff versorgt. Es verfault und infiziert den ganzen Körper. Dann ist der Körper krank. Gnade ist nie etwas, auf dem ich mich ausruhen kann, sondern immer etwas, was aktiviert. Deswegen ist Dienst Gnade. Ein Mensch ohne Aufgaben verkümmert. Jeder Mensch muss die Erfahrung machen: Ich werde gebraucht! Die Gemeinde Jesu Christi ist der Raum, in dem ich nehme und in dem ich gebe.
Hören wir von dieser Wirklichkeit der Gemeinde Jesu Christi und sehen wir gleichzeitig die Wirklichkeit unserer Kirche heute, dann verdichtet sich dieser Bibeltext für uns zu einer Leitfrage: Welche Aufgaben hält unser Herr für uns bereit? Wie können wir in ihr die Erfahrung vermitteln, zu nehmen und zu geben, die anderen zu brauchen und selbst gebraucht zu werden? Gelingt uns das, deutlich zu machen, die Kirche braucht dich, weil Gott dich braucht, dann könnte unsere mit sich selbst beschäftigte Kirche wieder „gottvoll und erfahrungsstark“ (Paul M. Zulehner) werden.
Unter der Asche der Organisationskirche glüht noch immer der Geist Gottes. Ja, dem heutigen Lebensgefühl entsprechen nicht eine verbindliche Mitgliedschaft und der regelmäßige Kirchgang. Es ist wahr, die Menschen wollen sich heute nicht binden. Wenn sie kommen, suchen sie das besondere, ultimative Erlebnis. Wie kann sich dann der Geist Gottes heute aufs Neue entfachen und als helle Flamme in unserer Kirche lodern? Bei Manchem bricht an dieser Stelle die Sehnsucht nach der guten alten Zeit auf, als die Kirche noch Volkskirche war und so gut wie jeder zu ihr gehörte. Das verbindet sich dann schnell mit der Hoffnung auf mehr Anerkennung als Kirche, auch mehr Prestige. Doch das ist nicht das Problem. Es geht nicht um die Sehnsucht nach der Herstellung früherer Machtentfaltung der Kirche, oder um das Buhlen nach größerer gesellschaftlicher Anerkennung, sondern allein um die Frage: Wie wird die Kirche zu dem ihr von Jesus Christus aufgetragenen Dienst fähig?
Gott beruft Menschen in seine Kirche, um in diese Welt hinein zu wirken. Das dürfen wir nie aus dem Blick gewinnen. Die Gemeinde ist nicht für sich da, sie ist keine Kuschelkirche, in der man sich nur alleine wohl fühlen kann und soll. Genau das ist ja der Grundgedanke, dass der unsichtbare Gott in dieser Welt den Körper Christi als seinen Wohn- und Wirkungsort angenommen hat und dieser Körper Christi heute in der Gemeinde weiter existiert. Deswegen sollen wir mit unseren Gemeinden auch nicht bei uns bleiben, sondern zu denen hinausgehen, die bisher nicht zur Gemeinde kommen.
Mit dieser Grundbewegung ist alle Selbstgenügsamkeit durchstoßen. Die Kirche ist dafür da, um in die Öffentlichkeit und über ihre eigenen Grenzen hinaus zu wirken. Das ist ihre Hauptaufgabe. Welche anderen Aufgaben die Kirche angreifen kann und soll, wird sich daran entscheiden, welche Begabungen in ihr vorhanden sind. Die zum Dienst fähige Kirche – auch das muss mit allem Nachdruck gesagt werden – ist die Gemeindekirche. In einer konkreten Gemeinde wird geglaubt, geliebt und gehofft. Weil Gott seinen Geist einem jeden Glied seiner Gemeinde schenkt, deswegen lebt die Kirche. Indem der eine Geist Gottes jeden Christen begabt, wird die Gemeinde insgesamt fähig, die ihr übertragenen Dienste oder Aufgaben zu tun. Mit den Gaben oderCharismen, die der Geist schenkt, hat die Gemeinde die notwendigen Begabungen, um ihre Aufgaben zu erledigen.
Viele Begabungen, aber ein Gott
In dieser Gemeinschaft gibt es Menschen – Paulus nennt relativ zufällig, gerade das, was ihm in Anschauung seiner korinthischen Gemeinde in den Sinn kommt – die sehr verschiedene Begabungen haben: Die eine, die aufgrund ihrer Lebenserfahrung raten kann, den andern, der elementar den Glauben aufschließen kann. Der dritte versprüht Zutrauen, ein anderer hat die Gabe, körperlich zu helfen, die nächste kann so beten, dass Wunder geschehen, ein anderer hat einen Durchblick durch die unüberschaubare Gegenwart und kann Orientierung geben. Ein anderer hilft, die religiösen Angebote und die Lebenshilfeversprechungen zu unterscheiden zwischen lebensförderlich und lebensabträglich. Schließlich gibt es in der Gemeinde auch solche, die einfach die Gabe haben, sich ekstatisch zu freuen und dann gibt es auch die anderen, die diese wieder auf den Boden herunterholen. Ein buntes Bild von einer Gemeinde im ersten Jahrhundert zeichnet der Apostel.
Natürlich ist diese Aufzählung nicht erschöpfend. Es gibt noch viel mehr Gaben. Zu diesen gehören die Fähigkeiten, Türen zu öffnen wie die schnell zu Menschen Kontakt zu schließen, zuhören zu können genauso wie die schnell einen Blick für die jeweilige Situation zu haben.
Warum fehlen aber heute offensichtlich weithin die Menschen, mit den Gaben und Begabungen, die unsere Gemeinde aufleben lassen? Die beste Antwort auf diese Frage finden wir ebenfalls bei Dietrich Bonhoeffer: „Eine Gemeinschaft, die es zulässt, dass ungenutzte Glieder da sind, wird an diesen zu Grunde gehen.“ (Gemeinsames Leben, 1976, 80). Das Problem der großen, unüberschaubaren Gemeinden in der Volkskirche sind die über Jahrhunderte ungenutzten Gaben ihrer Glieder. Die vom Geist begabte Gemeinde, die charismatische Gemeinde, baut sich selbst auf. Dagegen haben ungenutzte Glieder eine Gefahr. Sie werden starr und unbeweglich, schließlich können sie sogar absterben. M.E. liegt hier die eigentliche Krise unserer Kirche: Pfarrer, Kantoren und Küster und ein kleiner Kreis kirchlicher Expertinnen und Experten haben Jahrhunderte lang mit viel persönlicher Mühe Kirche veranstaltet. Viele andere, die auch in diesen Jahrhunderten mit ihren kleinen und großen Gaben da waren, konnten sie in unserer Kirche nicht zur Geltung bringen. Das hat in langer Zeit eine Konsumentenhaltung in unseren Gemeinden befördert. Seit einiger Zeit sind wir dabei, zunehmend weitere Gemeindeglieder an der Aufgabe der Gemeinde zu beteiligen. Das ist noch gar nicht so lange der Fall.
Wenn wir das nicht täten, nähmen wir die Wirkung des Geistes Gottes unter uns nicht wahr. Dadurch stürbe die Kirche als lebendiger Organismus ab. Die Kirche, die die Pfarrer/innen und die kirchlichen Mitarbeiter veranstalten, ist das Gegenteil der Gemeindekirche. Paulus geht sogar noch einen Schritt weiter. Er nennt die Begabung jedes Einzelnen durch den Geist Gottes eine Offenbarung. Es ist der Anteil am Herrn und der Einblick in seinen Willen, wenn Gott Menschen mit einer bestimmten Fähigkeit begabt. Und er geht davon aus: Jede und Jeder in unseren Gemeinden hat diese Begabung. Es gibt in unseren Gemeinden keinen unbegabten Menschen. Wir müssen nur entdecken, wozu die Einzelnen begabt sind, was sie zum Wohle der Gemeinschaft einbringen können. Der Geist will sich Jedermann offenbaren und zwar so, dass alle dadurch einen gegenseitigen Vorteil haben.
Ich darf Sie auch persönlich anreden: Haben Sie schon einmal überlegt, mit welcher Gabe Sie Ihrer Kirche, Ihrer Gemeinde dienen könnten? Es wird viel, vielleicht alles für die Zukunft der Kirche in unserer Kultur davon abhängen, ob wir beginnen, Gaben zu entdecken. Dadurch dass Jeder und Jede dem ihm oder ihr verlierenden Geist nutzt, beginnt der ganze Leib Christi wieder zu leben. Das ist eine charismatische Gemeinde, eine von Gott begabte und begnadete Gemeinde, in der Jede und Jeder eine Aufgabe zum Wohl aller übernimmt.
Es ist den Lutheranern oft vorgeworfen worden, sie würden sich auf der von Gott geschenkten Gnade ausruhen. Das ist ein schlimmer Vorwurf. Denn wenn ich wirklich Gottes Gnade erfahren habe, dann beruhigt sie nicht, sondern setzt in Bewegung. Die von Gott erfahrene Gnade aktiviert. Das ist ein herrliches Gefühl, ich fühle mich gebraucht. Selbst in Stunden des Zweifels weiß ich, dass ich nicht unnütz bin. Und so ist der Dienst, den ich anderen erweise, Gnade, Gnadengabe, geschöpft aus dem Reichtum der Möglichkeiten Gottes.
Amen.
[1] Vgl. E. Bethge, Dietrich Bonhoeffer. Theologe – Christ – Zeitgenosse, München 41978, 248.
[2] Vgl. das Vorwort der Herausgeber Martin Kuske und Ilse Tödt zur historisch-kritischen Ausgabe in DBW IV, 10.
[3] Vgl. E. Bethge, Dietrich Bonhoeffer. Theologe – Christ – Zeitgenosse, 246-251.
[4] D. Bonhoeffer, Gesammelte Schriften, hg. v. E. Bethge (=GS) VI, München 1974, 367f.
[5] DBW IV, 45-47.
[6] Die sich sowohl von Martin Luther als auch Klaus Berger hat anregen lassen.