Die Verantwortung bleibt
29. Oktober 2017
Ansprache in der Interreligiösen Friedensandacht anlässlich des 525. Jahrestages des Pogroms in Sternberg und der Vertreibung der Mecklenburger Juden
Sechs Kerzen haben wir entzündet – für den Frieden und im Gedenken an die ermordeten Juden hier in Sternberg. Denn vor 525 Jahren brannten hier Scheiterhaufen. 27 Jüdinnen und Juden wurden auf qualvolle Weise ums Leben gebracht, die übrigen Juden Mecklenburgs enteignet und vertrieben.
Scham erfüllt mich, dass auch bei uns in Mecklenburg Juden verfolgt und ermordet wurden. Weder Obrigkeit noch Geistlichkeit schritten ein, im Gegenteil.
Scham erfüllt mich insbesondere, weil dies unter vorgeblich christlichem Vorzeichen geschah. Auch der später wirkende Martin Luther war in judenfeindlichen Denkmustern gefangen, deren Wurzeln bis in die Anfänge der Kirche zurückreichen.
Bittere Scham erfüllt mich angesichts der Shoah, das deutsche Verbrechen. Sechs Millionen Juden aus ganz Europa – erschossen, vergast und verbrannt.
Es ist zum Schämen, dass antisemitische Gedanken nicht der Vergangenheit angehören, sondern sich in unserer Gesellschaft wieder und weiter verbreiten.
Scham macht stumm. Sie kann dazu verleiten, vergessen und verdrängen zu wollen. Woher nehmen wir die Kraft, uns unserer Verantwortung zu stellen?
Da ist das Beispiel unzähliger Jüdinnen und Juden: In großer Treue standen sie zu ihrem Glauben, bezeugten auch in Drangsal und Verfolgung ihren Gott. Weil sie Gott verbunden blieben, können wir heute Lebenden uns an Gott und seinem Willen ausrichten:
Verbunden mit Gott können wir um Vergebung bitten – darum, dass Einsicht möglich wird und neuer Anfang.
Verbunden mit Gott können wir erfahren, dass Menschen nicht wie versteinert auf ihre Vergangenheit festgelegt bleiben müssen.
Verbunden mit Gott können wir Mut schöpfen, Verantwortung anzunehmen.
Von den jüdischen Märtyrern hieß es in der Lesung:
„Jede Generation hat dir gedient und dich bezeugt und versucht, deinen Willen in der Welt zu tun. Erinnere dich … an die Heiligung deines Namens durch unser Leben.“
Gottes Willen tun, seinen Namen heiligen durch das eigene Leben – über die Grenzen von Religionen und Weltanschauungen hinweg weist das uns den Weg und gibt uns die Kraft, ihn zu gehen:
- zu erkennen und zu leben, dass die Liebe zu Gott die Liebe zu den Menschen einschließt, auch wenn sie anders denken oder glauben als ich;
- mit brennendem Herzen Gottes Weisungen zu entsprechen – auch dadurch, dass wir uns als Kinder ein- und desselben Vaters verstehen, also als Schwestern und Brüder leben und uns nicht unserer Religion wegen gegeneinander aufbringen lassen;
- mit wachem Verstand uns selbst, unsere Motive und Überzeugungen zu hinterfragen – macht die Geschichte des Antisemitismus doch deutlich, dass wir bei uns mit blinden Flecken rechnen müssen;
- Gottes Namen zu heiligen, bedeutet auch, wo notwendig, theologische Korrekturen vorzunehmen. Daher bin ich froh, dass die Nordkirche in der Präambel ihrer Verfassung festgeschrieben hat: Sie „bezeugt die bleibende Treue Gottes zu seinem Volk Israel.“ Ein wichtiger Satz, denn er macht deutlich: Gott geht seinen ganz eigenen Weg mit seinem erwählten Volk.
Wo immer sich heute militante Feindschaft gegen Anders-Denkende und Anders-Glaubende breitmacht – lassen Sie uns solchem Ungeist widerstehen! Wo immer das Recht infrage gestellt wird, seinen Glauben selbstbestimmt und öffentlich zu leben – treten wir miteinander für Religionsfreiheit ein! Und auch dies will ich in aller Deutlichkeit sagen: Wo immer Jüdinnen und Juden heute in unserer Gesellschaft mit Worten oder Taten angegriffen werden – es ist ein Angriff auf uns alle! Miteinander können wir dem wehren.
Die Erinnerung an unsere Geschichte macht klar: Die Verantwortung bleibt. Wir tragen daran. Doch Gott ruft und bestärkt uns, im Geist der Friedfertigkeit und Nächstenliebe zu leben.
Amen.