Fürchtet euch nicht!
09. März 2019
Predigt über Psalm 139, 1-14 von Landesbischof Dr. h.c. Gerhard Ulrich im Rahmen seiner Entpflichtung vom Amt des ersten Landesbischofs der Nordkirche HERR, du erforschest mich und kennest mich. Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne. Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege. Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, HERR, nicht alles wüsstest. Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir. Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch, ich kann sie nicht begreifen. Wohin soll ich gehen vor deinem Geist, und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht? Führe ich gen Himmel, so bist du da; bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da. Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten. Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein –, so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht. Denn du hast meine Nieren bereitet und hast mich gebildet im Mutterleibe. Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele.
- Es gilt das gesprochene Wort! -
Liebe Festgemeinde!
I
„Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir“. Unbegreiflich. Zu hoch: Psalm 139. Mein Lebens-Psalm.
Zu den Sprachkunstwerken der hebräischen Bibel gehört der Psalm – und fordert heraus. Hier: unsere Sprachnot, überhaupt von Gott zu sprechen. Dort: ein Meer von Gottesbildern. Wo der Gottesname die Heutigen schnell hilflos verstummen lässt – beim Psalmbeter löst er, einem Brunnen mit überlaufenden Schalen gleich, Kaskaden von Metaphern aus. Überschwänglich-staunend. Ohne jede Zurückhaltung. Ver-rückt!
Der Vorhang öffnet sich. Eine Entdeckungsreise beginnt:
„Herr, du erforschest mich und kennest mich.“ Vom ersten Atemzug dieser Reise an steht der Beter nahe bei Gott. Entdeckt ihn, und erkennt sich in ihm, als einen, der schon längst von Gott erkannt ist. Der Beter ist aus der Alltagswelt herausgetreten, wo nur das wahr ist, was wir sehen, prüfen, beweisen können, und entdeckt, dass nicht er das Zentrum ist, sondern alle schon immer in Gott „leben, weben und sind“. Je mehr sich der Psalmist über Gott im Klaren wird, umso mehr auch über sich selbst. Er riskiert es, vom göttlichen Blick durchdrungen zu werden – und schreckt zugleich davor zurück.
Das ist es, was mich begleitet und beschäftigt, seit der Vorhang für mich aufging damals, vor nun 45 Jahren, unerwartet: diese Ambivalenz, diese nicht aufzulösende Spannung: die Sehnsucht einerseits, dass einer mich sieht, erkennt, weiß, was gut ist und wohin es gehen kann. Und die Angst vor der Erfüllung dieser Sehnsucht, davor, dass plötzlich weit wird der enge Raum und nicht ich mich in der Hand habe und die Fäden meines Lebens: das ist befreiend. Und macht Angst zugleich.
„Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.“
Einer hält seine Hand über uns, umgibt uns von allen Seiten: ein Schutz und ein Schirm, den wir uns nicht selber geben können; Schutz und Schirm über unserem Leben, das zerbrechlich oft ist; Schutz und Schirm über Heiles und Verletztes, Schwaches und Starkes, Sehnsucht und Angst. Bergendes um uns herum in aller Unwirtlichkeit des Lebens. Mächtiges über unserem Leben, das alle Macht überwindet. Das ist Gottes Mission mit seinen Kindern, seinen Ebenbildern auf Erden.
Selbst in meinem Reden und Denken bin ich in ihm und er in mir: „Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, dass du, HERR, nicht alles wüsstest“. Kein Gedanke entsteht in meiner Seele ohne des lebendigen Gottes Wort, der am Anfang sprach „es werde Licht“ und es ward Licht, Leben, Weite... Keiner hat Zugriff auf mich; keiner legt Hand an mich: frei bin ich zu denken, zu glauben, zu reden.
Und auch in den dunklen Bereichen meiner Seele, die ich nie ausleuchten kann oder will: Da ist der, bei dem auch Finsternis nicht finster ist. Ist er bei mir mit seinem milden, erleuchtenden, seinem richtenden und aufrichtendem Licht.
„Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch, ich kann sie nicht begreifen.“ Unbegreiflich, dass er mir innerlicher als mein Innerstes ist. Vor ihm kann ich mich nicht auf ein autonomes Ich zurückziehen. Ich existiere vor ihm, in ihm und er in mir.
II
Aber löst das nicht auch andere Gefühle aus? Wie bei Hiob, der sich einen Moment der Ruhe wünscht, seinen Speichel zu schlucken, ohne dass ihm der große „Menschenwächter“ dabei zusieht. Versuchen wir nicht, die Tiefen unserer Seelen vor unseren eigenen Augen zu verbergen? Wie können wir dann dem Spiegel standhalten, in dem nichts verborgen bleiben kann?
Verständlich die Fluchtgedanken des Psalmisten hin zu Orten, wo er vor Gott sich sicher wähnt.
„Nähme ich Flügel der Morgenröte…“: Wir versuchen, bis zu den Grenzen des Universums vorzustoßen. Die wissenschaftlich-technische Zivilisation führt uns das vor: Der Wettlauf zu den Sternen ist zugleich ein Wettlauf um militärische Übermacht. Schon zweimal im 20. Jahrhundert ist bei diesem Wettlauf schwer die Hand Gottes auf uns gefallen. Gerade wir Deutschen wissen es.
Auch „wenn ich spräche, Finsternis möge mich decken“, könnte ich Gott nur eine Zeitlang aus meinem Bewusstsein verdrängen. Weil auch die Finsternis nicht finster ist bei Gott. Weil auch, wenn es finster ist in mir, das nicht alles ist: da ist einer, der kennt den Weg hinaus. Da ist eine Kraft, die mehr ist als meine. Da hat einer Worte, wenn es mir die Sprache verschlägt.
Und darum erlaubt Gott dem Beter diese Fluchten: in die Weite, in die Tiefe, wo er sein Unvermögen erkennt, Gott zu begreifen, zu beherrschen und lernt, dass er diese Erkenntnis, die für ihn zu hoch ist, gar nicht erfassen muss, sondern sich von ihr erfassen lassen darf. Sich öffnen darf. Sinn und Geschmack fürs Unendliche erspüren. Die Beherrschung verlieren. Außer sich geraten.
III
Wenn wir stattdessen ihn, der für uns kleine Wesen zu wunderbar ist, doch in die Formen unseres Verstandes pressen, dann folgen wir einem trügerischen Weg, auf dem sich menschlicher Machthunger und die Angst vor Kontrollverlust vermischen: weil wir nicht alles in der Hand haben, meinen wir, es in den Griff bekommen und zu etwas machen zu müssen, über das wir bestimmen können.
Und dann ist da die Angst der Vielen in dieser Zeit des rasanten Wandels, wo alles komplex und unübersichtlich ist: dass der Schutz verlorengeht, das Vertraute genommen wird. Da wächst die Sehnsucht nach einfachen Antworten, danach, dass es wieder so sein soll – wie es nie gewesen ist: übersichtlich, klar, begrenzt. Das ist der populistische Weg, der immer die Furcht stark macht, dass wir nicht alles beherrschen. Uns darum sichern müssen – gegen das Fremde, das Weite, das Unergründliche.
Religiöse und politische Populisten brauchen starre Regeln, Einheitlichkeit, Mauern und Grenzen. Doch wer nicht die äußerste Weite zulässt, sondern Zäune baut, verliert ja nicht die Angst. Wer die Sehnsucht ausschaltet, schaltet das Leben ab.
Erst auf seiner Reise zu den äußersten Enden der Welt und dem Innersten seiner eigenen Seele kommt der Psalmbeter zu sich selbst und zur Ruhe bei Gott, und kann „Ja“ zu ihm sagen.
Und „Ja“ zu sich sagen, jubelndes „Ja“: dass ich wunderbar gemacht bin! Eins deiner wunderbaren Werke! Das erkennt meine Seele nun und ich danke dir dafür!
IV
Ich kann diesen Psalm nicht hören, ohne an meine Biographie zu denken. Als Schauspieler war ich 1973 beteiligt an einer Inszenierung von „Abaelard und Heloise“ – ein Drama über eine verbotene Liebe.
Eine der intensivsten Szene war als „Heloise“ in höchster Seelennot den 139. Psalm betete: „Von allen Seiten umgibst du mich; und hältst Deine Hand über mir… Wohin kann ich gehen vor deinem Geist, wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht...?“ – Nie habe ich diesen Psalm überzeugender dargestellt erlebt, so dass die ganze Spannung darin aus Sehnsucht nach Nähe Gottes und Angst vor der Erfüllung dieser Sehnsucht zugleich spürbar war und mich ergriff, mir zur Gotteserkenntnis verhalf!
Aus dieser Wurzel schöpfe ich Kraft. Und so verstehe ich meinen Dienst der Verkündigung: vor Gott bringen, was uns bewegt; sein Wort laut werden lassen in der Welt, die dieses Wortes so dringend bedarf – im Gottesdienst, in den Begegnungen mit Menschen, in gesellschaftlichen Diskursen, in der Diakonie, in den evangelischen Schulen hier im Land. Immer bin ich getragen seither von der Gewissheit, dass Gott sich zeigt – an ungeahnten Orten oft. Durch Menschen, die Gott mir an den Weg meines Lebens stellt – wie damals diese Schauspiel-Kollegin. Gott nutzt die Hände seiner Menschenkinder, damit wir spüren, wie er selbst seine Hand über uns hält! Und so viele von denen sind heute hier: ob Sie es glauben oder nicht.
Das lässt mich einstimmen in Lob und Dank, ins Staunen. Auch das Eingeständnis der unerreichbaren Größe Gottes gehört dazu. Denn das macht nicht klein. Das macht frei: als die, die Gott mit solcher Herrlichkeit ausstattet; die behütet und bekannt sind bei ihm – als diese müssen wir nicht selbst Gott spielen, und versuchen, eigenmächtig das Heil der Welt mit Macht herbeizuzwingen. Unsere Freiheit und Einmaligkeit liegen darin gegründet, dass wir Gott Gott sein lassen können.
Wir Christenmenschen führen nicht Regie in dem Stück, das Gott selbst aufführt. Aber unverzichtbare Darsteller darin, das sind wir! Jeder und jede von uns, an ihrem oder seinem Ort. Das traut Gott uns zu. Dass etwas hindurch klingt und hindurch scheint durch uns von diesem Schöpfer-Gott, der uns so wunderbar geschaffen hat.
„Dein Glaube hat dir geholfen“, sagt Jesus dem geheilten Gelähmten. Der Glaube: die Kraft, mit der Gott uns in Bewegung bringt. Es ist dieses kraftvolle, unvorsichtige und unvernünftige Sehnen über alles Beweisbare hinaus der von Gott so wunderbar gemachten und mit Energie begabten Menschen:
Der Überschwang des Glaubens macht nicht ruhig, sondern unruhig – auch im Ruhestand. Der Glaube gibt sich nicht zufrieden mit dem, was wir scheinbar nicht ändern können. Der gibt sich nicht zufrieden mit Ungerechtigkeit; der hält nicht stille angesichts der Millionen Flüchtlinge auf dieser Welt; der schweigt nicht, wenn Menschen um ihres Glaubens willen verfolgt und ausgegrenzt werden; der ist nicht geduldig, sondern ungeduldig, bis alle Menschen teilhaben können an der Fülle, die Gott uns verheißt.
Von allen Seiten umgibst Du mich…
„Herr Bischof: ich finde das total verrückt, dass Sie an einen Gott glauben, den Sie mir nicht beweisen können!“ – Dieser ehrliche Satz voller Skepsis und Neugier eines Gesprächspartners vor einigen Jahren ist mir ein bleibendes Geschenk. Er beschreibt ja meinen eigenen Weg als Fragender, als Suchender. Ja: es hat mein Leben ver-rückt, dass ich glauben darf, mich fallen lassen und vertrauen darf. Immer neu. Immer anders. Bis zum äußersten Meer. Das hat mir Flügel der Morgenröte verliehen.
Und die Kraft dieses schützenden Geistes habe ich wieder und wieder erfahren überall auf der Welt, in der Ökumene, bei unseren Partnern – so bist du auch da! Am äußersten Meer: eins in Christus, grenzenlos. Nicht trotz der Vielfalt erlebt, sondern nur wegen der Vielfalt der Kulturen, Lebensformen, Glaubenswege.
V
Am Ende meiner aktiven Dienstzeit bin ich dankbar den Vielen, die mir immer wieder aufgeholfen haben, die mir eine Stärke waren, indem sie mich erinnerten an die wunderbaren Werke Gottes. Da bist nicht nur du. Da ist Gott. So konnte ich gehen, den Mund auftun und verkündigen den, der das Licht der Welt ist.
Und ich bin dankbar, dass ich das wieder und wieder erleben durfte, wie Menschen ihrerseits auf die Beine kamen wunderbar, wie der Blick sich heben konnte auf sein Wort hin.
Dankbar, dass wir leben dürfen aus der Fülle und der Vielfalt, aus dem Reichtum des Lebens: alle wunderbar gemacht – verrückt schön, groß…
Seid getrost. Schreitet voran auf diesem Weg des Vertrauens und des Respekts.
Fürchtet euch nicht! Lest, spürt, lebt diesen Psalm: Lebens-Lied; Lob der Fülle; Verheißung des Friedens. Wenn ihr nehmt die Flügel der Morgenröte…
Der Landesbischof geht ab - irgendwohin. Das Licht bleibt an. Der Vorhang bleibt offen. Das Lebens-Stück geht weiter.
Denn der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahrt unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen.