Gedenkstunde der Stadt Schleswig zum Volkstrauertag bei der Gedenkstätte am Rosengarten
19. November 2023
Sehr geehrter Herr Bürgermeister Dose, sehr geehrte Damen und Herren,
auch der heutige Volkstrauertag stellt uns wieder in eine lange Reihe von Gedenken, in denen sich die Bilder vergangener Kriegszeiten mit Bildern der Gegenwart verbinden.
Wie oft müssen wir uns gegenseitig in diesen Zeiten sagen: Das hätten wir nicht für möglich gehalten. Dass es dazu wieder kommt. Erst 2022: Krieg in Europa. Der Angriff Russlands auf die Ukraine. Und noch immer ist kein Ende abzusehen.
Dann der 7. Oktober 2023. Der entsetzliche Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel. Bestialisch misshandelt, getötet. Und noch immer sind über 200 Kinder, Frauen, Männer verschleppt. Gefangen gehalten in Gaza. Und wir sehen mit Schrecken, wie sehr dieser Krieg nun in Israel und Gaza wütet – wie viele unschuldige Menschen dabei schon ihr Leben verloren haben oder nur noch in Schmerzen, Angst und Schrecken sind. Und wir ahnen einmal wieder: Frieden im Nahen Osten ist in weitere Ferne gerückt denn je.
Und es ist ja nicht so, dass wir nicht wissen, was Krieg bedeutet, in unserem Land. Nahezu jede Familie in Deutschland kann von den Narben berichten, die die beiden Weltkriege bis heute in ihrer Familiengeschichte zurücklassen. In nahezu allen Familien sind Tote zu beklagen.
Dazu gehören aber auch die Geschichten von Flucht und Vertreibung. Einem Ankommen hier in Schleswig, aus Schlesien oder Ostpreußen. Nicht immer erwünscht.
Gemessen an den Einwohnerzahlen nahm das neue Land Schleswig-Holstein neben Mecklenburg-Vorpommern nach 1945 die meisten Flüchtlinge aus den Ostgebieten auf. Bis 1946 war die Bevölkerung um eine Million angewachsen. Dass der Mangel an Wohnraum, an Lebensmitteln, an Arbeitsmöglichkeiten eklatant war, versteht sich von selbst.
Aber – wir haben diese schier unlösbar scheinende Krise überstanden. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit dem Besitzer bei uns in Bredstedt, in Nordfriesland. Geflüchtet mit seinen Eltern aus Schlesien ist er in Nordfriesland heimisch geworden. Schon seine Eltern haben sich mit einem Fahrradladen samt Werkstatt selbstständig gemacht. Sie sind geblieben und Schleswig-Holstein ist zu ihrem zu Hause geworden. Und, wie er mir sagte, aus vollem Herzen und gern.
Ich bin davon überzeugt: Ein Blick in unsere Geschichte kann uns vieles lehren über unsere heutige Situation.
Er lehrt uns erstens: Wir können vieles schaffen, hier in Schleswig-Holstein. Wir sind geübt darin, Krisen zu bewältigen.
Er lehrt uns zweitens: Durch Kriege hervorgerufene Krisen gab es schon immer. Und sie haben Auswirkungen, die weit reichen. Bis hierher nach Schleswig. In diesem Winter werden die Zahlen der Flüchtlinge auch in Schleswig-Holstein ansteigen.
Die Geschichte lehrt uns drittens: Es gibt keine Option, auf Frieden zu verzichten. Es ist an uns, immer wieder und immer wieder neu darauf hinzuwirken, dass ein friedliches Zusammenleben zwischen Völkern, Kulturen und Generationen möglich ist. Hier in Schleswig-Holstein, in Deutschland und weltweit.
Die Zeiten sind herausfordernd. Um so wichtiger, dass wir zusammenhalten. Um unseres Volkes, um unserer Welt willen.
Wir leben in aufwühlenden Zeiten. Und wir wissen, wir werden die Probleme durch Abschottung oder Verdrängung nicht lösen können. Die Folgen der weltweiten Krisen reichen bis zu uns. So gab es in Schleswig-Holstein seit Anfang Oktober bis jetzt nahezu so viele antisemitisch motivierte Straftaten wie im gesamten Jahr 2022. Dass Jüdinnen und Juden in unserem Land Angst haben müssen, nicht erst seit dem 7. Oktober, aber seitdem verstärkt, das dürfen wir nicht zulassen. Wir alle müssen als Zivilgesellschaft zusammenstehen und das unsere tun, damit das NIE WIEDER auch hier und jetzt Gültigkeit hat!
Wir gedenken heute der Opfer der beiden Weltkriege und aller Opfer von Terror und willkürlicher Gewalt. Und wir wissen zugleich: Das alles ist nicht fern von uns. Wir mögen ukrainische oder russische Familien kennen. Israelische oder palästinensische.
Wir sind zu einer Weltgesellschaft geworden, in der die Grenzen zunehmend verwischen. Es ist nicht mehr so einfach, zu sagen: Hier sind die Guten, hier sind die Bösen.
Klar ist nur eins: Dort, wo Menschen ihrer Würde beraubt werden, wo gegen alle zivilisatorischen Grundrechte verstoßen wird, da haben wir unsere Stimme zu erheben.
Wir kennen den Krieg. Er ist Teil der DNA unseres Landes und unserer Familien. Wir wissen, welche fatalen Folgen er nicht nur für die unmittelbar Betroffenen, sondern auch für die nachfolgenden Generationen haben. Dass noch die Enkel der Kriegskinder des 2. Weltkriegs an den Folgen traumatischer Erinnerungen leiden, die sie selbst überhaupt nicht unmittelbar erlebt haben, die sich aber eingeschrieben haben in das Familiengedächtnis.
Frieden ist kein Luxus, sondern überlebensnotwendig für uns ganz persönlich und für uns als Gesellschaft und Menschheit. Sorgen wir also dafür, dass wir zu Friedensbotinnen und Friedensboten werden. Damit das NIE WIEDER gilt.
Weil wir wissen, dass Krieg Menschen zerstört und ganze Familien traumatisiert. Dass er niemals Gutes bringen kann, sondern nur unendliches Leid.
O Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens,
dass ich Liebe übe, wo man sich hasst, dass ich verzeihe, wo man sich beleidigt,
dass ich verbinde, da, wo Streit ist,
dass ich die Wahrheit sage, wo der Irrtum herrscht,
dass ich den Glauben bringe, wo der Zweifel drückt,
dass ich die Hoffnung wecke, wo Verzweiflung quält,
dass ich ein Licht anzünde, wo die Finsternis regiert,
dass ich Freude mache, wo der Kummer wohnt.
Herr, lass du mich trachten:
nicht, dass ich getröstet werde, sondern dass ich tröste;
nicht, dass ich verstanden werde, sondern dass ich verstehe;
nicht, dass ich geliebt werde, sondern dass ich liebe.
Denn wer da hingibt, der empfängt;
wer sich selbst vergisst, der findet;
wer verzeiht, dem wird verziehen; und wer stirbt, erwacht zum ewigen Leben.
(Franz von Assisi)