Geistliche Besinnung zum Volkstrauertag
13. November 2011
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in Gottes Augen Schwestern und Brüder!
Als junger Mensch, dessen politisches Denken gerade erwacht war, hatte ich sehr damit zu kämpfen, ein Deutscher zu sein. Hineingeboren zu sein in ein Volk, das ungeheuerliches Leid über seine Nachbarn und Menschen anderen Glaubens gebracht hatte, das machte mir zu schaffen. Scham erfüllte mich, manchmal auch Zorn, wenn Schuld und Verantwortung geleugnet wurden. Ich engagierte mich in der „Aktion Sühnezeichen“. Dennoch blieb das Gefühl von Ohnmacht.
In jenen Jahren stieß ich auf einen Text, der mir Halt gab und Orientierung. Es ist ein Gebet und stammt von Leo Baeck, dem großen Rabbiner. Als der erste Weltkrieg ausbrach, meldete sich der 41jährige freiwillig und war dann vier Jahre lang als berittener Feldgeistlicher für deutschen Soldaten jüdischen Glaubens in entlegenen Frontabschnitten zuständig, besuchte Verwundete, stand an unzähligen Soldatengräbern, sorgte für die notleidende Bevölkerung. Nach 1933 lehnte er die Emigration ab, und erlebte das Kriegsende 1945 in Theresienstadt, wo er zunächst blieb, um den Kranken und Sterbenden weiter beizustehen. Im Schatten der Shoah betete Leo Baeck:
Friede sei den Menschen, die bösen Willens sind, und ein Ende sei gesetzt aller Rache und allem Reden von Strafe und Züchtigung . . . Aller Maßstäbe spotten die Gräueltaten; sie stehen jenseits aller Grenzen menschlicher Fassungskraft, und der Blutzeugen sind gar viele. . . Darum, o Gott, wäge nicht mit der Waage der Gerechtigkeit ihre Leiden, dass du sie ihren Henkern zurechnest und von ihnen grauenvolle Rechenschaft forderst, sondern lass es anders gelten. Schreibe vielmehr den Henkern und Angebern und Verrätern und allen schlechten Menschen zugut, und rechne ihnen an all den Mut und die Seelenkraft der anderen, ihr Sichbescheiden, ihre hochgesinnte Würde, ihr stilles Mühen und das tapfere Lächeln, das die Tränen versiegen ließ, und alle Opfer, all die heiße Liebe. . . All die durchgepflügten, gequälten Herzen, die dennoch stark und vertrauensvoll blieben, angesichts des Todes und im Tode, ja auch die Stunden der tiefsten Schwäche. . . All das, o mein Gott, soll zählen vor dir für die Vergebung der Schuld als Lösegeld, zählen für eine Auferstehung der Gerechtigkeit – all das Gute soll zählen und nicht das Böse. Und für die Erinnerung unserer Feinde sollen wir nicht mehr ihre Opfer sein, nicht mehr ihr Alpdruck und Gespensterschreck, vielmehr ihre Hilfe, dass sie von der Raserei ablassen. . . Nur das heischt man von ihnen – und dass wir, wenn nun alles vorbei ist, wieder als Menschen unter Menschen leben dürfen und wieder Friede werde auf unserer armen Erde über den Menschen guten Willens und dass Friede auch über die anderen komme.
Meine Damen und Herren, dass wir heute überhaupt leben und frei atmen können, dass wir uns überhaupt für Gerechtigkeit stark machen und Verantwortung tragen können, das verdanken wir Menschen wie Leo Baeck, ihrem Eintreten für die Schuldbeladenen vor Gott. Das Leiden der Gerechten wiegt schwer auf der Waagschale des Lebens. Das Leid derer ohne Schuld kann lange ignoriert werden. Aber irgendwann gibt es den Ausschlag – für das Leben und die Freiheit.
In eindrücklicher Weise beschreibt der Prophet Jesaja in der hebräischen Bibel die verwandelnde Kraft stellvertretenden Leidens, versammelt in der Gestalt des leidenden Gerechten:
Der Geist Gottes des LEBENDIGEN ist auf mir, weil ER mich gesalbt hat. Er hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, dass sie frei und ledig sein sollen; . . .
zu schaffen den Trauernden . . . , dass ihnen Schmuck statt Asche, Freudenöl statt Trauerkleid, Lobgesang statt eines betrübten Geistes gegeben werden, dass sie genannt werden »Bäume der Gerechtigkeit«, »Pflanzung des LEBENDIGEN«, ihm zum Preise. Und ausgehend davon diese Verheißung, die zugleich ein Auftrag ist:
Sie werden die alten Trümmer wieder aufbauen und, was vorzeiten zerstört worden ist, wieder aufrichten; sie werden die verwüsteten Städte erneuern, die von Geschlecht zu Geschlecht zerstört gelegen haben.
Das können wir hören als uns gesagt. Wir haben die Möglichkeit und die Beauftragung, eine Gesellschaft mit zu gestalten, in der das Recht geachtet und die Würde jedes Menschen respektiert wird. Aber das ist alles andere als leicht. Es erfordert entschlossene Arbeit, unsere Demokratie zu stärken und weiter zu entwickeln.
Überall da, wo Menschen auf dem Altar höherer Zwecke geopfert werden – sei es im Namen eines Glauben oder einer Ideologie – ist Widerstand geboten. Wo immer Fanatiker der extremen Rechten oder Linken oder Fundamentalisten einer Religion im Namen der angeblich guten Sache das Recht außer Kraft setzen wollen, gilt es, unser Grundgesetz zu verteidigen, das da sagt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Der Zweck heiligt eben nicht die Mittel. Auch nicht in der Politik.
Auch da, wo die wachsende Perspektivlosigkeit ganzer Bevölkerungsschichten gesellschaftliche Teilhabe verhindert, wo Kinderarmut kaum wieder gutzumachende Bildungsnachteile mit sich bringt, auch und gerade da sind wir gefragt, für unsere Verfassung einzustehen, die da sagt: Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit.
Wir erinnern uns unserer Geschichte, um lebendig zu bleiben. Die Trauer dieses Tages wird uns nicht lähmen, sondern motivieren – einzustehen für die Vielfalt des Lebens und für die Gerechtigkeit. Dass wahr werde – auch unter uns und durch unser Tun: Sie werden die . . . Trümmer wieder aufbauen und, was . . . zerstört worden ist, wieder aufrichten; sie werden die verwüsteten Städte erneuern, die von Geschlecht zu Geschlecht zerstört gelegen haben.
Amen.