01.01.2016 | Hamburg, St. Michaelis

Getröstet, getrost ins neue Jahr gehen

01. Januar 2016 von Kirsten Fehrs

Neujahrstag, Krippenandacht am Neujahrsabend 2016 mit der 4. Kantate des Weihnachtsoratoriums, Predigt zur Jahreslosung - Jesaja 66,13: „Ich will euch trösten wie einen seine Mutter tröstet, spricht Gott.“

Liebe Neujahrsgemeinde,

„Ich will euch trösten wie einen seine Mutter tröstet!“ – Trost ist der Grundton für das neue Jahr, wir haben es eben gehört, ja erlebt. Getröstet, getrost sollen wir ins neue Jahr gehen. Obwohl so viel hinter uns liegt, was verstörend war und verunsichernd. Untröstlichkeiten ja allerorten: In Syrien. Beirut. Paris, mein Gott.

Und doch: Getrost sollen wir ins neue Jahr gehen. Weil eben auch viel Gutes hinter uns liegt. So viel, was ermutigend ist für die Zukunft. So viele Menschen zeigen in diesen Zeiten Mitmenschlichkeit und Herz, ohne Obergrenze. Packen an, wo Not ist. Europa kann mehr davon brauchen. So viele auch, die dort mit kluger Besonnenheit reagieren, wo nach Vergeltung gerufen wird und Krieg.

Gerade jetzt also: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet, spricht Gott.

Von einem jungen Vater, auch er so mütterlich, habe ich kürzlich die tröstlichsten Worte seit langem gehört. Besonders sie nehme ich mit ins neue Jahr. Antoine Leiris, Journalist aus Paris, der bei den Anschlägen vom 13. November seine Frau Helene verliert, schreibt wenig später den IS-Attentätern: „Am Freitagabend habt ihr mir die Liebe meines Lebens geraubt, aber meinen Hass, den bekommt ihr nicht. Ihr wollt, dass ich Angst habe, dass ich meine Mitbürger mit Argwohn betrachte und meine Freiheit für meine Sicherheit opfere. Vergesst es. Ich bin und bleibe der, der ich war. …Wir sind nun zu zweit, mein kleiner Sohn und ich. Aber wir sind stärker als alle Armeen der Welt. Er wird jetzt gleich eine Kleinigkeit essen, und dann werden wir miteinander spielen …wie jeden Tag, und dieser kleine Junge wird für euch sein Leben lang ein Affront sein, weil er glücklich sein wird und frei. Denn auch seinen Hass werdet ihr nie bekommen.“

Für mich hat Antoine Leiris auf den Punkt gebracht, was die Weihnachtsbotschaft hier an der Krippe meint: Habt keine Angst in der Welt. Ihr, die ihr das geliebte Lieben dem Hass entgegenstellen wollt, habt keine Angst. Lasst euch nicht einschüchtern durch die Rede vom Krieg. Auch wenn Trauer da ist und die Sorge zunimmt, so wie gestern Abend besonders in Brüssel und in München – lassen wir uns davon nicht irre machen. Wir haben den Einschüchterungen unserer Zeit so viel entgegenzusetzen! Bleiben wir getrost, die wir sind: Freiheitsliebend. Geschwisterlich. Herzlich. Besonders zu den Kleinen, gleich woher sie kommen.

Denn Trost – das ist die Sprache der Liebe. Und die hat überhaupt nichts Betuliches. „Heile, heile Segen“ - und weggezaubert ist der Schmerz. Nein, der Trost bei Gott vertröstet gerade nicht und sagt – indem man wegschaut – „das Leben geht weiter.“

Sondern so: Ich will euch trösten wie eine Mutter. Und steht Ihnen da nicht auch ganz lebensnah vor Augen, liebe Gemeinde, wie Sie sich als Kind mit erschrockenem Schmerz in den Armen der Mutter wiederfinden, die einen hin- und herwiegt und sagt: Alles wird gut. Und dann – letzter Schluchzer – geht es tatsächlich. Man kann aufstehen. Lächeln. Ok, nächste Etappe. Die Welt will nicht unerforscht bleiben. Also fort von der Mutter auf eigenem Weg.

Natürlich weiß jedes Kind, wir Erwachsenen allemal, dass niemals „alles“ gut ist. Jeder Schmerz, der uns durchfährt, beweist es. Und doch hält einen dieser Satz. Tröstet. Weil er zugesagt wird. Von einem anderen. Oder einer anderen.

Nehmen wir hier nun Jesaja beim Wort. Wie eine Mutter ist Gott. Wie eine Mutter, die ihre Kinder mit zärtlichen Worten stillt. Wie eine Mutter ist Gott, die sich so oft nach ihren Söhnen und Töchtern sehnt, wenn sie ihren Weg gegangen sind – manchmal so weit weg von ihr. Eine Mutter, die nicht aufhören kann an ihre Kinder zu denken. Die manchmal nachts wachliegt und sich sorgt, wie es ihnen gehen mag. Und die sich darüber wundert, was sie tun. Und was sie getan haben – so viel Unsinn war dabei, gute Güte! Und dann geht ihr nach, wie sehr sie sie liebt – auch wenn das für ihre Kinder manchmal nicht zu verstehen ist. Oder sie einander fremd geworden sind.

Und ich stelle mir mit Jesaja vor, dass Gott lange schon darauf wartet, dass wir sie besuchen. Dass sie wie so oft am Küchentisch sitzt und in dem alten Buch der Erinnerungen blättert. Und ich sehe vor mir, wie sie Seite um Seite umblättert und sich erinnert: Ja, so war die Welt, als sie neu war und meine Kinder  - sie waren so jung! Und sie sieht uns vor sich mit all den wunderschönen Farben unserer Haut, mit all den verschiedenen Formen uns zu freuen und zu tanzen. Sie bewundert all unsere Errungenschaften: die Musik, die wir gespielt, die Bilder, die wir gemalt, die Ideen, die wir gesponnen haben.

Dann gibt es Seiten in diesem Buch, die sie gern überschlagen würde. Ihre Kinder, die ihre Heimat Erde zerstören, die sie ihnen geschaffen hat. Geschwister, die einander Schmerzen zufügen und in Ketten legen. Und sie denkt an die vielen Namen all der Kinder, die sie verloren hat durch Krieg und Hunger, Erdbeben und Flucht, durch Unfall und Krankheit. Und sie denkt daran, wie oft sie verzweifelt an diesem Tisch gesessen hat, weil sie nicht aufhalten konnte, was sie kommen sah.

Ja, und wie wäre es, liebe Gemeinde am Neujahrsabend, wenn wir uns tatsächlich vornehmen würden, Gott einmal wieder zu besuchen? Sie würde uns, stelle ich mir vor, ganz freundlich einen Platz anbieten an ihrem Küchentisch, frischen Tee kochen und sich dann ganz ruhig zu uns setzen. Wir sind ein bisschen nervös -  immerhin trinkt man nicht jeden Tag mit Gott Tee - und wir wissen auch nicht so richtig, wo wir beginnen sollen. Und dann fangen wir ein bisschen an zu schwätzen, wie man es oft macht, wenn einem unbehaglich ist und man nicht weiß, was kommt. 

„Sch…., still“, sagt sie in die Worthülsen hinein. Und dann schiebt sie ihren Stuhl zurück und sagt: „Lass dich einmal anschauen.“ Und sie schaut. Mit einem einzigen Blick sieht Gott unser ganzes Leben: Das, was neu geboren werden will, vielleicht schon bald, und das, was längst für uns gestorben ist. Sie sieht unser großes Glück, diese Dankbarkeit gerade in diesem Moment, und sie versteht all unseren Kummer. Sie sieht uns, als wir jung waren und dachten, dass es nichts gäbe, was wir nicht tun könnten. Und sie sieht uns in unseren mittleren Jahren, als unsere Kräfte unbegrenzt schienen, als alle uns brauchten und wir soviel aufbauen konnten. Und sie sieht uns in unseren späteren Jahren, als wir  - weise geworden - fühlten, dass der Körper nicht mehr verlässlich war. Und sie sieht uns, wie wir auf einmal allein in einem Zimmer schlafen, in dem einst zwei schliefen.

Und dann würde Gott sagen: „Und nun erzähl mir, wie geht es dir?“ Und endlich können wir sagen, wie es ist: wen wir lieben, wen wir nicht lieben können, warum wir verletzt sind und was wir zerbrochen und verloren haben. Wo wir uns nicht gekümmert haben, schuldig geworden sind, aber auch all das, was uns so glücklich und reich und dankbar macht.

„Weißt du noch“, sagen wir. Und sie nickt. „Es war vieles auch schwer für mich. Und dann war ich so wütend auf dich, Gott, dass du mir diesen Schmerz zugefügt hast.“ „Oh, es tut mir leid, dass ich dir wehtat“. „Ich weiß, ich hätte auf dich hören sollen. Aber damals musste ich es auf meine Weise tun.“ „Ich weiß“, nickt sie, „ich weiß.“

Als es endlich nichts mehr zu sagen gibt, beginnt Gott zu summen und versetzt uns zurück in eine Zeit, als wir nicht einschlafen konnten, erschöpft vom Erzählen und aufgewühlt von dem, was die Welt bewegt. Und wir erinnern uns, wie sie uns stets aufgehoben hat und hin– und hergetragen. Das war‘s, wo wir lernten, Tränen abzuwischen. Von ihr lernten wir, jemanden im Schmerz zu trösten, Leiden tragen zu helfen. Bis heute. Nebenan in der Flüchtlingsunterkunft und morgen im Hospiz.

Und wir merken: Es war ein guter Besuch. Bevor wir gehen, schauen wir nun unsererseits Gott ein wenig genauer an. Ihr Gesicht, von der Zeit gezeichnet, ist weise. Wir begreifen, dass sie um Dinge weiß, die nur die Zeit zu lehren vermag. Dass es möglich ist, den Verlust einer Liebe zu überleben. Dass es möglich ist, sich sicher zu fühlen inmitten der sich rapide verändernden Welt, und dass es möglich ist, aufrecht, ehrlich und in Würde zu leben, so jung oder alt, so nah oder fremd ich auch bin.

Und dann lässt sie uns gehen. Unseren Weg. Sie schaut uns nach. Freundlich. Mit viel Segen. Dass wir nur gut durchs neue Jahr kommen, denkt sie. Dass wir klug bleiben und besonnen und uns ja nicht fürchten. Aber sie ist ja da, denkt Gott, und lässt die Tür offen. So dass wir jederzeit kommen können. Um zu reden, zu handeln, zu fragen. Oder um uns trösten zu lassen. Wie eine Mutter, spricht Gott.

So möchte der Friede Gottes doch in jeder und jedem hier ankommen. Damit die Welt bei Trost bleibt. Tiefer Friede, höher als alle Vernunft, er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Heute und das ganze Jahr.
Gesegnet sollt Ihr sein.
Amen.

Veranstaltungen
Orte
  • Orte
  • Flensburg
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde Flensburg-St. Johannis
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde St. Gertrud zu Flensburg
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde St. Marien zu Flensburg
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde St. Michael in Flensburg
    • Ev.-Luth. St. Nikolai-Kirchengemeinde Flensburg
    • Ev.-Luth. St. Petrigemeinde in Flensburg
  • Hamburg
    • Ev.-Luth. Hauptkirche St. Katharinen
    • Hauptkirche St. Jacobi
    • Hauptkirche St. Michaelis
    • Hauptkirche St. Nikolai
    • Hauptkirche St. Petri
  • Greifswald
    • Ev. Bugenhagengemeinde Greifswald Wieck-Eldena
    • Ev. Christus-Kirchengemeinde Greifswald
    • Ev. Johannes-Kirchengemeinde Greifswald
    • Ev. Kirchengemeinde St. Jacobi Greifswald
    • Ev. Kirchengemeinde St. Marien Greifswald
    • Ev. Kirchengemeinde St. Nikolai Greifswald
  • Kiel
  • Lübeck
    • Dom zu Lübeck
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde St. Aegidien zu Lübeck
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde St. Jakobi Lübeck
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde St. Marien zu Lübeck
    • St. Petri zu Lübeck
  • Rostock
    • Ev.-Luth. Innenstadtgemeinde Rostock
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde Rostock Heiligen Geist
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde Rostock-Evershagen
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde Rostock-Lütten Klein
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde St. Johannis Rostock
    • Ev.-Luth. Luther-St.-Andreas-Gemeinde Rostock
    • Kirche Warnemünde
  • Schleswig
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde Schleswig
  • Schwerin
    • Ev.-Luth. Domgemeinde Schwerin
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde St. Nikolai Schwerin
    • Ev.-Luth. Petrusgemeinde Schwerin
    • Ev.-Luth. Schloßkirchengemeinde Schwerin

Personen und Institutionen finden

EKD Info-Service

0800 5040 602

Montag bis Freitag von 9-18 Uhr kostenlos erreichbar - außer an bundesweiten Feiertagen

Sexualisierte Gewalt

0800 0220099

Unabhängige Ansprechstelle für Betroffene von sexualisierter Gewalt in der Nordkirche.
Montags 9-11 Uhr und mittwochs 15-17 Uhr. Mehr unter kirche-gegen-sexualisierte-gewalt.de

Telefonseelsorge

0800 1110 111

0800 1110 222

Kostenfrei, bundesweit, täglich, rund um die Uhr. Online telefonseelsorge.de

Zum Anfang der Seite