25. Januar 2018 | Haus am Schüberg Hamburg

„Globale Gerechtigkeit als Herausforderung für die Nordkirche“

25. Januar 2018 von Gerhard Ulrich

Hauptamtlichenkonferenz, Hauptbereich Mission und Ökumene

Liebe Schwestern und Brüder,

die allererste Herausforderung angesichts der Welt-Gerechtigkeits-Lücke sind wir selber: auch wir als Kirche sind ein „global player“.

Wir haben zwar einen anderen Grund, den niemand legen kann, außer dem, der gelegt ist: Jesus Christus. Aber wir handeln in der Umsetzung des Auftrags, den dieser Herr seiner Kirche gibt, eben auch mit den Mitteln der Welt, mit Geld, mit Einfluss, mit Interessen. Der Zweck heiligt manchmal die Mittel, so scheint es. Und wir nehmen Einfluss mit unseren Mitteln.

Wir haben keineswegs so etwas wie ein „Freihandelsabkommen“, sondern folgen auch restriktiven Beschränkungen und Egoismen. Die Partnerschaftsarbeit zum Beispiel folgt nicht immer hehren Argumenten für Gerechtigkeit. Da geht es um Freundschaften, auch manchmal um den Export bei uns eingespielter Strukturen. Und da geht es manchmal auch um Kränkungen, Enttäuschungen, wenn Partner nicht so werden, wie wir sie haben wollen.

Auch wir sind verführbar – weswegen wir bitten: „…und führe uns nicht in Versuchung…“ Wir sind Menschen, simul iustus et peccator; gerecht und sündig zugleich.

Also: eine Herausforderung ist das Enttarnen von Spuren der Selbstgerechtigkeit bei uns – denn das ist ein anderes Wort für Ungerechtigkeit.

Dies jedenfalls soll das Vorzeichen sein für das, was ich sagen möchte zu dem mir gestellten Thema.

 

Ökumene verändert Kirche – hier und anderswo. Das ist eine Erkenntnis, die ich von meinen Reisen mitbringe. Das mag banal klingen - aber: machen wir uns das immer genug klar?

Ich erinnere ein Gespräch, das ich mit dem damaligen Leitenden Bischof der Lutherischen Kirche in Tansania, Alex Malasusa, in Arusha hatte. Er dankte mir für die umfangreiche Partnerschaftsarbeit zwischen unseren Kirchen – von den Zeiten der Missionare an. Seine Kirche wäre nicht die, die sie ist, ohne die Partnerschaft. Aber, so sagte er: wir müssen reden über die Partnerschaft: wohin soll sie uns führen? Wie gehen wir um mit den Impulsen? Wie gehen wir um mit dem Ungleichgewicht, das die Partnerschaften erzeugen, indem sie ungleich verteilt sind? Manche Diözesen haben 20 und mehr Partnerschaften, weil sie schön gelegen sind oder historisch gewachsene Beziehungen pflegen; manche Diözesen haben keine Partnerschaftsbeziehungen und fühlen sich ein wenig „vergessen“. Ihr müsst wissen, sagte Malasusa, dass jede Partnerbeziehung uns hier stark verändert und auch manchmal das Leiten der Kirche schwer macht. Wir müssen uns enger aufeinander abstimmen: welche Kirche wollen wir sein hier in Tansania? Und nicht jeder Transfer von gut Gemeintem ist hilfreich für uns hier vor Ort.  

Deshalb meine These: Die Frage nach der Gerechtigkeit stellt sich im globalen Netz, das wir als Nordkirche aufspannen und in das wir hineingebunden sind, noch einmal neu. Denn auch wir kennen eine eigene Form von Globalisierung!

So wie die Nordkirche für Ökumene steht, so steht die Arbeit, die Sie im Hauptbereich Mission und Ökumene leisten, für den globalen Blick auf das große Thema „Gerechtigkeit.“ Sie füllen an Ihren jeweils konkreten Orten diese Frage nach Gerechtigkeit und diesen Einsatz für Gerechtigkeit mit Leben. Und das prägt Kirche. Hier und weltweit. Für diese Prägekraft bin ich Ihnen sehr dankbar! Unsere Verantwortung für globale Gerechtigkeit wurzelt unter anderem hier.

 

Die Kirche der Zukunft wird eine ökumenische Kirche sein – oder sie wird gar nicht Kirche sein. Dieser prophetische Ruf des Praktischen Theologen und Ökumenikers Ernst Lange aus den 1970er Jahren lässt mich persönlich seit Jahrzehnten in Sachen Ökumene mit Lust, Leidenschaft und Neugier unterwegs sein. „Nordkirche weltweit“: eine ökumenisch lernende Kirche, die dies will: die „Einübung in den ökumenischen Welthorizont“, die „Befreiung des christlichen Gewissens aus der parochialen Begrenzung“ (Ernst Lange). In dieser Lerngeschichte geht es um die Aufmerksamkeit für und die Auseinandersetzung mit eigenen und fremden Glaubenserfahrungen, um eine Beschäftigung mit dem Verständnis von Kirche, das hier und dort vorherrscht und das sich vom jeweils anderen Verständnis herausfordern und verändern lassen will.

Wir haben vielfältige partnerschaftliche Beziehungen zu einer großen Zahl von Kirchen. Das ist ein Netzwerk lebendiger und belebender Beziehungen. Lokal und global zu denken, zu handeln, zu leben, zu feiern – das alles macht Kirche aus. Solche Weite und Konzentration zugleich schärft den Blick auf die eigene Kirche und für die Kirche in ihren vielfältigen Ausprägungen in der weltweiten Ökumene.

Ein gro­ßer Schatz und ein weites Lernfeld ist dies. In der Begeg­nung mit den Anderen, den manchmal so Fremden, buchstabieren wir die Sehnsucht nach Gerechtigkeit noch einmal neu und anders. Dies bringt Ermutigung mit sich: die Ermutigung zu mehr Spiritualität, dazu, seinen Glauben deutlicher auch in der Öffentlichkeit zu zeigen. Es bringt Anregungen für die Gestaltung von Gottesdiensten, für neue Musik, für die Wertschätzung von Ehrenamtlichen, für das konkrete Gebet, etwa für Kranke und Notleidende – aber auch die Advocay Arbeit für die, die den Preis für globalisierte Waren- und Dienstleistungsströme bezahlen.

Und manchmal sind diese gemeinsamen Erfahrungen im Feld der Gerechtigkeit irritierend: Oft unterscheiden sich die Wertegefüge, die kultu­rell geprägten Verhaltensmuster und auch die Interessen der Partner deutlich von unseren: Das führt dann zu überraschenden und wieder irritierenden Einsichten. Etwa was die politische und ökonomische Verantwortung der Kirche bei uns und unsere ganz persönliche Verantwortung anbelangt: nämlich umzukehren, einen anderen Konsumstil endlich zu beginnen. Noch mehr zu verstehen, dass unser Reichtum hier zur Armut dort beiträgt. Niemand kann das so brutal klar sehen und verstehen wie Sie und wir alle, die wir uns auf den Weg machen zu unseren Geschwistern und dort sehen, was wir anrichten. Dem Klimawandel jedenfalls begegnet man nicht, indem man ihn ignoriert oder aus Abkommen aussteigt, sondern indem man hinguckt, hinhört dort – und tätig wird hier.

Kirche weltweit lebt nicht für sich allein. Sie existiert extrovertiert! So wird sie heute gebraucht! Und so fragt sie auch nicht nur in lokalen oder regionalen Kontexten nach Gerechtigkeit. Sie sucht ein gerechtes Leben für alle. Und weil dies so ist: weil diese ökumenische Dimension zum Wesen der Kirche gehört, ist die Frage danach, wie es gerecht zugehen soll in der Welt, kein Luxus, den man sich nur leistet, wenn es einem gut geht. Nein! Sie gehören zum Profil der Kirche als weltumspannender Gemeinschaft – in fetten wie in mageren Jahren. Bis an der Welt Ende. Bis wir hineingenommen werden in die vollendete Ökumene des Reiches Gottes, in dem Gerechtigkeit und Recht fließen wie ein nie versiegender Bach. Und in der Bibel ist Gerechtigkeit immer umfassend verstanden: der Schalom Gottes hält bereit die Teilhabe aller Menschen und aller anderen Geschöpfe an der Fülle, die Gott schenkt. Friede und soziale Gerechtigkeit gehören zusammen. Gerechtigkeit ist ein Abbild der bedingungslosen Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen. Und diese Bedingungslosigkeit ist Voraussetzung auch unseres Glaubens und unseres Tuns.

Und – das ist die Entdeckung der Reformation: die Gerechtigkeit in der Welt wurzelt in der Gerechtigkeit Gottes, die er schenkt – nicht in unseren gerechten Werken. Die sind höchstens Früchte des Glaubens, der sich ganz und gar Gott überlässt. Die zentrale Verantwortung für uns als Kirche ist die Haltung, die das Schaffen und Vollenden der Gerechtigkeit Gott überlässt, weil sie weiß, dass Gerechtigkeit nicht aufgeht in dem, was wir uns vorstellen. „Dein Reich komme, dein Wille geschehe“: Gott ist der Autor unsres Tuns und Glaubens. Diese Grundvoraussetzung müssen wir uns immer wieder neu vergegenwärtigen, wenn wir über Gerechtigkeit in der Welt nachdenken.

Den kritischen Impuls nun, der im Begriff der globalen Gerechtigkeit liegt, müssen wir uns immer wieder neu aneignen und erfragen. Und wir müssen uns bewusst sein, dass dieser Impuls von einer drängenden Anfrage der Südkirchen an uns kommt. Die Fragen heißen zum Beispiel: Seid Ihr bereit, auch die kritischen Fragen zu hören? Seid Ihr bereit, Euch selbst als Kirche, als gesellschaftlicher Akteur, der eingespannt ist in Strukturen, die globales Unrecht produzieren, zu hinterfragen? Seid Ihr bereit – auch wenn Ihr Euren Nutzen zieht aus den Verhältnissen, so wie sie sind – umzukehren vom Weg der Ungerechtigkeit?

Das heißt auch: Wir müssen immer wieder neu lernen: wir leben in der einen Welt. Wir haben nicht die Freiheit, uns nicht verantwortlich zu fühlen füreinander! Wir sind eine Familie Gottes, leben in seinem Frieden, stehen auf für seinen Schalom, gesandt in die Welt, um den Armen die gute Nachricht zu bringen: Fürchtet euch nicht. In der Welt habt ihr Angst, aber siehe: ich habe die Welt überwunden…“  Aber eben: ich, Gott. Nicht: ich, Nordkirche.

Globale Gerechtigkeit ist mehr als theoretische Erkenntnis. Sie ist ein Lernweg, auf dem wir gemeinsam mit unseren Geschwistern auf der Südhalbkugel voranschreiten müssen.

 

Ich erinnere an die Vollversammlung des lutherischen Weltbundes im letzten Jahr in Namibia: „Erlösung – für Geld nicht zu haben“: Dieses Thema zielt ins Zentrum der reformatorischen Botschaft von der Rechtfertigung allein aus Gnade. Die befreiende Erkenntnis, dass wir die Gnade Gottes im Glauben geschenkt bekommen, richtete sich vor 500 Jahren gegen den Ablasshandel – als sei Gerechtigkeit vor Gott mit Geld zu erkaufen. Und dann richtete sie sich sehr viel grundsätzlicher gegen die Ansicht, als sei Erlösung überhaupt von uns Menschen mit guten Werken, und seien es selbst Werke der Barmherzigkeit an den Armen, zu erwirken. Nein, Erlösung, das Heil in Zeit und Ewigkeit, ist Geschenk Gottes. „Erlösung“ – dieses Grundwort christlichen Glaubens nimmt im Laufe der Geschichte unterschiedliche Färbungen an, stellt unterschiedliche Aspekte in den Vordergrund, je nach der Erfahrung von Heillosigkeit, mit denen Menschen in ihrem spezifischen Kontext konfrontiert sind – und immer hat es etwas mit Gerechtigkeit zu tun.

Menschen in Indien zum Beispiel, die zu den Schichten der sogenannten Kastenlosen gehören – derjenigen, die früher „Unberührbare“ genannt wurden und die sich heute trotzig als „Dalits“ (die „Zertretenen“, die „Niedergetrampelten“) bezeichnen – hören aus diesem Wort die Botschaft, nicht mehr „Fremdlinge“ und aus der Gesellschaft „Ausgegrenzte“ und „Ausgestoßene“, sondern von Gott geliebte Söhne und Töchter, Kinder Gottes zu sein. In wieder anderen Kontexten verbindet sich das Wort von der Erlösung mit der Frage nach dem Sinn des Lebens, nach Orientierung und Vertrauen in die Liebe Gottes, die Mut zum Leben vermittelt.

In der Ökumene, bei den Kirchen im globalen Süden, wird „Erlösung“ immer als etwas verstanden, was den ganzen Menschen, ja auch die Gesellschaften erfasst und verändert. Erlösung und die damit verbundenen christlichen Grundbegriffe Freiheit und Versöhnung haben eine grundsätzliche Veränderung im Blick – eine Transformation, die Einzelne, aber auch Gemeinschaften, ja eine ganze Gesellschaft in einen Prozess der Erneuerung führt.

Gerechtigkeit und Erlösung sind daher für uns als Kirche nicht voneinander zu trennen. Denn Gerechtigkeit ohne Erlösung zu denken – das würde ja bedeuten, Gott aus dem Spiel zu nehmen und unser menschliches Tun an Gottes Stelle zu setzen. Gott schafft Gerechtigkeit, aber er will uns als seine Mitarbeitenden an seinem Werk, das allen ein Leben in Fülle verheißt. Und Erlösung ohne Gerechtigkeit zu denken – das hieße, wir würden Jesus vergessen. „Das Wort wurde Fleisch“, Gott wurde ein wirklicher Mensch. Kommt zu uns. Wird solidarisch mit uns. Darum glauben wir an einen neuen Himmel und eine neue Erde.

Deshalb gilt: Erlösung ist kein rein spirituelles und individuelles Geschehen, sondern immer auch Erlösung aus ungerechten Verhältnissen. Alle Menschen sind dazu berufen, zu leben: frei, gemeinschaftlich und versorgt mit dem, was sie wirklich brauchen. Als Personen mit je eigener Würde und Größe vor Gott und in der Welt: frei, angenommen, wertgeschätzt, geliebt, freundlich angesehen. Nicht hilflos ausgesetzt dem Lebensfeindlichen und den Lebensfeindlichen.

Im ökumenischen Gespräch mit Schwestern und Brüdern lernen wir immer wieder, was diese Vision bedeutet: Kein Landraub mehr, kein vergiftetes Trinkwasser, nicht ohne Chance der Gewalt stärkerer Clans ausgesetzt sein oder der Willkür der Polizei, nicht den eigenen Eliten, den mit ihnen verbündeten Konzernen und der Gleichgültigkeit internationaler Politik.

Menschen dürfen nicht als Ware behandelt werden. Aber dass dies in vielen Ländern geschieht, darüber wurde auf der Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes (LWB) immer wieder berichtet. Wir fragten: Ist Sklaverei eine Sache der Vergangenheit? Oder wurden andere, subtilere Methoden gefunden, die untragbare Praxis der Ausbeutung von Arbeitskräften, von Kindern und Frauen fortzusetzen? Für viele bleibt der Menschenhandel ein Albtraum – der gerade an den Fluchtrouten nach Europa blüht und dort, wo diese geschlossen werden, noch schlimmer wird. Bischof Tamás Fabiny aus Ungarn sprach bewegt darüber, wie Frauen aus Südosteuropa verschleppt werden und was dies mit den Familien, ja mit der ganzen Gesellschaft in Ungarn und anderen Ländern tut. Wir hörten von sexueller Gewalt gegen Frauen, von Vergewaltigungen, die im Kongo und anderswo als Kriegswaffe eingesetzt werden. Und auch von religiöser Diskriminierung und Bedrohung von Menschen um ihres Glaubens willen war die Rede. Das alles steht im Widerspruch zu der befreienden Liebe Gottes, die dafür einsteht, dass Gerechtigkeit keine Ware ist, die meistbietend verkauft wird, sondern eine Lebensperspektive, die für alle offenstehen muss.

Und daraus ergibt sich wieder der Imperativ: Gerechtigkeit für alle ist Kriterium für die Gestaltung unserer Welt. Eine Gerechtigkeit, die nur Partikularinteressen berücksichtigt, ist mit uns als Kirche nicht zu machen, weil sie mit Gottes Gerechtigkeit nichts zu tun hat. Die nämlich ist immer radikal - universal. Gerade diesen kritischen Blick auf die Gesamtheit aller Betroffenen üben wir im ökumenischen Gespräch ein.

Wenn ich vor diesem Hintergrund auf die Situation in unserem Land schaue, dann ist es schmerzhaft wahrzunehmen, dass in Deutschland, auch auf dem Gebiet der Nordkirche, Diskriminierung von Minderheiten, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit immer noch und wieder verstärkt aktuell sind.

Dagegen stellt sich die Nordkirche und muss noch stärker aus dem Glauben an die Gottebenbildlichkeit jedes Menschen und an die Universalität der geschenkten Gnade bekennen: Christlicher Glaube schließt jede Form von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit aus – ganz gleich, ob sie sich auf Menschen anderen Glaubens, anderer kultureller Herkunft, anderer politischer Gesinnung oder anderen Verhaltens bezieht.

Die Reformation war in ihrem Kern eine Frömmigkeitsbewegung. „…Reformatorische Theologie hat in ihrer Grundform die Gestalt eines Gespräches mit Gott und eines Nachdenkens über den Menschen und die Welt vor Gott…In dieser Haltung feiern wir Gottesdienst und begegnen wir unserem Nächsten.“ Und daraus folgt ein weiteres Merkmal der Identität, nämlich, so Horst Gorski weiter, „…dass der Glaube für die Reformatoren Teil der Weltgestaltung war. Man kann auch sagen, ihr Glaube war politisch. Und ohne politisch zu sein – also ohne Auswirkungen auf das Leben der Menschen zu haben – wäre er nicht ihr Glaube gewesen.“ (Dr. Horst Gorski, Zeitzeichen November 2017)

Das Evangelium ist immer öffentliches Wort, eines, das Erneuerung, Umkehr will; eines, das sich nicht zufrieden gibt mit dem, was ist; eines, das sich einmischt in innere und äußere Angelegenheiten; eines, das sich nicht zufriedengibt, Wohnstätte zu finden in den Herzen allein.

In Windhuk war ich gebeten worden, im Rahmen des Festgottesdienstes zusammen mit Zeuginnen und Zeugen aus anderen Teilen der Welt etwas zu sagen zur Bedeutung der Reformation aus meiner, deutschen und europäischen Sicht. Ich habe das getan und versucht, theologisch klar und abgewogen die für mich wesentlichen Erkenntnis der Reformatoren zu benennen: von der Freiheit der Christenmenschen; von der Rechtfertigung allein durch den Glauben; vom „fröhlichen Wechsel“ und davon, wie sehr die Reformation nicht nur die Kirchen in Europa, sondern auch die Gesellschaft insgesamt geprägt und verändert haben.

Nach mir redete eine sehr junge Theologin aus Namibia. Sie legte alle Zurückhaltung ab, legte ein begeistertes Glaubenszeugnis ab: wie Gott in ihr Leben getreten sei und sie ermutigt hatte, den Mund aufzutun. Wie insbesondere die Option für die Armen und Elenden, die Parteilichkeit Gottes für die Schwachen sie zu sich selbst geführt und ihr neues Selbstbewusstsein gegeben hätten; wie sie Mut gefasst hätte, aufzustehen gegen Unrecht und Gewalt. Und dann redete diese junge Frau, ohne jede Scheu und übergangslos den anwesenden Staatspräsidenten an: „In Jesu Namen, Herr Präsident: machen Sie ein Ende mit der Ungerechtigkeit in diesem Land; machen Sie ein Ende mit Korruption und Egoismus; machen Sie ein Ende mit Unterdrückung und Rechtlosigkeit besonders der Frauen. Sorgen Sie für Recht und Gerechtigkeit – weil Gott das will!“

Das war nicht nur ein flammendes, ansteckendes Bekenntnis des Glaubens. Das war ein Zeugnis dafür, dass das Evangelium niemals unpolitisch sein und verkündigt werden kann. Es ist immer radikal, das Wort von der Versöhnung, der Ruf in die Nachfolge. Wohin die Freiheit, zu der Christus befreit, tatsächlich führt, hat mir und uns diese junge Frau erneut gezeigt: in den Aufstand für das Leben.

Ich war so dankbar für diese Erfahrung – auch, weil ich immer wieder leide unter der Debatte, die wir vor allem gern in Deutschland führen über die Frage, wie politisch die Kirche sein darf! Das ist oft sehr kleingeistig und verzagt: bloß niemanden aufschrecken, verärgern, enttäuschen! Hier, im Stadion von Windhuk, bin ich erneut daran erinnert worden, dass das auch Verrat am Evangelium selber sein kann, wenn wir uns zu sehr heraushalten, nicht radikal auf die Konsequenzen verweisen, die das Evangelium herausfordert. „Friede mit Gott führt in den Unfrieden mit der Welt“, hat Jürgen Moltmann einmal formuliert. Die junge Frau in Windhuk und viele andere Christenmenschen aus den sogenannten „Jungen Kirchen“ sagen uns, was das heißt und wie befreiend das ist.

So wie Erlösung, Schöpfung und der Mensch nicht für Geld zu haben sind, können wir uns nicht freikaufen von der Verantwortung, auch hier in Europa die Ursachen für Flucht zu suchen, die unter anderem eine Folge ist der Ungerechtigkeit, der Verleugnung Gottes, der Verleugnung der Bedingungslosigkeit und des ökonomischen wie kulturellen Egoismus; wir können uns nicht freikaufen von der Verantwortung für Gerechtigkeit. Und wir können uns auch nicht davon freikaufen, mit der globalen Migration konfrontiert zu werden: Mit Flüchtlingen, Angehörigen von Minderheiten, Kindern und Jugendlichen, die ihre Heimat verlassen müssen, um sich vor Gewalt, Krieg und Not in Sicherheit zu bringen; die auf ihrer Flucht in Lebensgefahr geraten, an den Grenzen Europas und in Europa misshandelt werden und hier manchmal zum ersten Mal wieder offenen Armen und Herzen begegnen. Und dann aber auch schon wieder – hier bei uns -: Bollwerken der Ausgrenzung. Manchmal blankem Hass.  Oder auch nur überforderten Behörden-Mitarbeitenden, die jedes Kirchenasyl zum Beispiel als einen persönlichen Affront erleben – so gerade am Wochenende bei einem Besuch in der Kirchengemeinde Bad Doberan gehört.

Allen Seiten und Beteiligten gerecht zu werden: das ist eine Herausforderung einerseits; andererseits ist das das Selbstverständliche unseres Auftrags, die tatsächlich bedingungslose Liebe Gottes, die radikal allen Menschen gilt, abzubilden und zu leben. Das fällt oft schwer – gerade dann, wenn wir es zu tun haben mit Menschen, die uns diese Bedingungslosigkeit vorhalten oder vorwerfen – und die doch auch zu denen gehören, die bedingungslos geliebte Geschöpfe sind, Kinder Gottes sind.

Wir leben in einer Gesellschaft, zu deren Identität Vielfalt gehört. Wir sehen, dass es Menschen gibt, denen diese Vielfalt Angst macht. Auf sie gehen wir zu, wollen ihnen ihre Furcht nehmen und sie in unseren Kirchengemeinden begleiten auf ihrem Weg in eine gewandelte Gesellschaft. Deutlich „nein!“ sagen wir aber zu den Ideen jener, die es ablehnen, in einer Welt ohne Grenzen zu leben, die es für überflüssig halten, den Elenden zu helfen, egal wo sie sind und egal woher sie kommen, die die Anerkennung unterschiedlicher Lebensentwürfe in Misskredit zu bringen versuchen und die Freiheit missachten, die das Grundgesetz uns gibt.

Deutlich nein sage ich auch zu jenen, die sich von der Verantwortung freikaufen zu können meinen, indem sie einer Zwei-Reiche-Lehre-Interpretation folgen, die Gottes Wirken im Reich zur Linken missachtet.

Ich könnte – und müsste – viele Aktionen und Formen des Engagements aufzählen, in denen Menschen unserer Kirche sich – oft auch zusammen mit Menschen guten Willens aus anderen Bereichen der Zivilgesellschaft – für Gerechtigkeit und gegen Diskriminierung einsetzen: für menschliche Würde in der Arbeitswelt, für den fairen Handel in den zahlreichen Weltläden, für die Unterstützung von Projekten in unseren Partnerkirchen, für das Engagement zur Eliminierung von Armut durch Aktionen von Brot für die Welt, für die Beratung von Schuldnern, die Förderung und Verteidigung der Rechte von Frauen, für menschenwürdige Lebensverhältnisse von Menschen mit Unterstützungsbedarf und vieles mehr. Man möge mir nachsehen, dass ich hier nur ganz kleine Ausschnitte bieten kann.

 

Ein anderer Aspekt: Auf der Vollversammlung des lutherischen Weltbundes in Windhoek wurde sehr deutlich: Viele Teile der Welt sehen sich mit dramatisch-existenziellen Umweltproblemen konfrontiert. In Afrika schaffen es viele Kommunen kaum, ihre Einwohner mit sauberem Trinkwasser zu versorgen, während um sie herum riesige Flächen von kommunalem Land an den Meistbietenden verkauft werden. Wasser und Land – Ressourcen, die jahrhundertelang die Versorgung der Kommunen gewährleisteten und von den Bauern gemeinsam genutzt worden waren – sind zu Handelswaren geworden. Menschen, ganze Gemeinschaften, deren Existenz auf diesen Ressourcen beruht, werden zum Abwandern, zur Flucht gezwungen. Häufig enden sie in städtischen Elendsvierteln ohne staatliche Daseinsvorsorge,

Es gibt natürlich viele Dinge, auf denen zu recht steht „Zu verkaufen“. „For sale“. Es steht auf Häuser, Grundstücke, Kleidern, Kuchenstücken und vielem mehr. Doch seit Jahrzehnten werden es immer mehr Dinge, auf denen das steht. Menschen erleben: auf dem Wasser, das sie brauchen. Da steht: zu verkaufen. Oder an dem Versorgungsunternehmen, das es liefert. Es steht auf dem Land, das sie brauchen, an den Wäldern aus denen heraus sie existieren. An der Bildung, die sie brauchen. Kaufen und verkaufen gehört zu unserer Welt jenseits von Eden. Aber nicht auf allem davon darf stehen: for sale – zu verkaufen. Die Welt steht nicht zum Verkauf. Sie ist Gottes Eigentum, uns nur anvertraut. Darum sind die Dinge der Welt, die lebensnotwendig sind, die jeder haben muss, keine Objekte des Handelns. “The world is not for sale.“ Das Leben auf Gottes geliebter Erde steht nicht zum Verkauf. Das ist die Grundbotschaft der Vollversammlung des LWB in Windhoek im letzten Jahr. Und ob dieses Leben, unser Leben doch verkauft wird oder eben nicht und ob wir uns einem solchem Handelstreiben in den Weg stellen und uns als Kirche ihm verweigern – das sind Kriterien dafür, ob wir den Weg zu globaler Gerechtigkeit gehen oder nicht. Auf der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Busan in Korea im Herbst 2013 wurde angeregt, dass die Kirchen sich gemeinsam auf einen „Pilgerweg der Gerechtigkeit und des Friedens“ begeben mögen. In unserer Kirche haben das Zentrum für Mission und Ökumene und der Kirchliche Entwicklungsdienst dies aufgenommen und unter anderem vorgeschlagen, den Sonntag Judika als Sonntag der Gerechtigkeit zu gestalten, hier also Anliegen globaler Gerechtigkeit und Menschenwürde aufzunehmen. Dazu gibt es in jedem Jahr ein Materialheft und ich freue mich jedes Mal, wenn ich das Geleitwort dafür schreibe. Außerdem wird ein Austausch von Predigern und Predigerinnen über die ganze Nordkirche hin organisiert. In diesem  Jahr – am 18. März 2018 – ist als Thema „Gerechtigkeit und Vielfalt“ vorgesehen.

 

Ein anderer Aspekt: Die Weltklimakonferenz des letzten Jahres in Bonn hat erneut eindrücklich die Dramatik des Klimawandels unterstrichen. Im solidarischen Zusammenhang unserer ökumenischen Netzwerke lernen wir, wer den ökologischen Preis für das gute Leben in den Ländern des globalen Nordens bezahlt. Allen, die zunehmend wieder national oder gar nationalistische Einengungen dieser Wahrnehmung proklamieren, müssen wir energisch widersprechen. Auch im Miteinander der Schwestern und Brüder aus aller Welt in Windhoek wurde uns vor Augen geführt, was wir wissen, aber oft vergessen: Dass unser Lebensstil in Deutschland und im reichen Teil Europas und Nordamerikas Auswirkungen hat auf die übrigen Teile der Welt. Solange die Globalisierung ein Segen nur für einen Teil der Welt ist, solange Ressourcen ungerecht verteilt sind, solange Länder ihre Klima- und Energiepolitik ohne Rücksicht auf die anderen Teile der Welt machen, solange wird kein Friede sein und keine Gerechtigkeit. Im Abschlussstatement der Vollversammlung hieß es deshalb: „Das endlose Streben nach Wachstum und der Anhäufung von Reichtum wird häufig als letztes Ziel gesehen, aber wir glauben, dass das Wohl der Schöpfung Gottes Absicht und Ziel ist. Die Schöpfung ist für Geld nicht zu haben!“

Das ist mir vor zwei Jahren dramatisch vor Augen geführt worden: „Das Elend begann, als die Diamanten und das Gold entdeckt worden waren“, sagte der Südafrikaner, der uns – eine Delegation von „Brot für die Welt“ und der Nordkirche - durch das Apartheid-Museum in Johannesburg führte. Danach war nichts mehr, wie es war und sein soll – vor allem nicht für die Einwohner Südafrikas. Eines der an Rohstoffen reichsten Länder der Welt versank in Rassenhass und Rendite-Wahn. Kolonialmächte stritten mit Waffengewalt um die Bodenschätze, ausgebeutet wird bis heute – zum allerkleinsten Teil von denen, die in diesem Land seit Jahrhunderten ihre Heimat haben. Der Goldrausch, kombiniert mit Diamanten- und Kohlerausch, hält an, auch nach offizieller Beendigung der Apartheid. Reichtum ist immer noch weiß, Armut nahezu immer schwarz.

Ich bin überzeugt, dass es einen Zusammenhang gibt, zwischen Globalisierung und Kolonialisierung, dass die ungesteuerte Globalisierung, die wir erleben, und der „autoritäre Kapitalismus“ – wie ihn der Sozialwissenschaftler Prof. Heitmeyer nennt, mit dem ich im vergangenen Juni eine gemeinsame Veranstaltung zum G20-Gipfel in Hamburg durchführte – das dieses beides eine Art zweiten Kolonialismus bilden, in dem sich der Westen – jetzt gepaart mit Kräften aus anderen Regionen – erneut den Erdkreis unterwerfen will: die Ökumene, das Haus, den oikos Gottes. Statt ihn zu einem Haus für alle in ihrer Verschiedenheit werden zu lassen, in dem genug für alle da ist.

Ganze Länder sind so wieder unter die Räuber gefallen – durch die zerstörenden Dynamiken eines entfesselten Kapitalismus und das Raubrittertum einer ungezügelten Globalisierung. Seit Anbeginn sind die Christen Diakone und Samariter der Gesellschaft. Sie verbanden Wunden und verbinden sie auch heute, besuchen Kranke, stehen Gefangenen bei und helfen Armen. Sie folgen dem Beispiel des barmherzigen Samariters. Kirche, die heute diesem Bild folgt, ist aufgerufen, Empathie zu entwickeln und strukturell zu denken, lokal zu handeln und global zu agieren.

 

Wenn es um Fragen einer Wirtschaft geht, die den Menschen dient, dann schaue ich gerne in Martin Luthers Schriften:

„Hier müsste man wahrlich auch den Fuggern und dergleichen Gesellschaften einen Zaum ins Maul legen. Wie ist's möglich, dass es göttlich und recht zugehen sollte, dass in einem Menschenleben so große, königliche Güter auf einen Haufen gebracht werden könnten?“, so schreibt er 1520 in seiner Schrift an den Deutschen Adel. Seine Kritik zielt auf den sich entwickelnden europäischen Kapitalismus, bei dem zu seiner Zeit die großen deutschen Handelshäuser den Ton angaben. Das größte unter ihnen – Fugger – tätigten ihre Geschäfte europaweit und in enger Verbindung mit den Herrschern der Zeit. Eine klare Kritik an den transnationalen Konzernen seiner Zeit.

Vor allem der Finanzmarkt ist Luther ein Dorn im Auge. „Aber das größte Unglück für die deutsche Nation ist gewiss das Kreditwesen. ...Es besteht nicht viel länger als 100 Jahre und hat schon fast alle Fürsten, Stifte, Städte, Adel und Erben in Armut, Jammer und Verderben gebracht. Würde es noch hundert Jahre bestehen, so wäre es nicht möglich, dass Deutschland einen Pfennig behielte; wir müssten uns gewiss untereinander fressen. Der Teufel hat es erdacht…“

Luthers wirtschaftsethische Äußerungen kann man nicht von ihrem zeitgeschichtlichen Hintergrund trennen. Doch seine dahinterstehende ethische Grundausrichtung ist relevant. Als biblischer Theologe ist er von dem geprägt, was wir heute die „Option für die Armen“ nennen. Das ist eine für die heutige globalisierte Wirtschaft relevante sozialethische Leitplanke, ein innerer Kompass, den wir für unsere Verhältnisse konkretisieren müssen.

 

Wir sehen aber auch – und das schafft Hoffnung – wie Menschen sich zusammenschließen. Wir haben viele Verbündete in der Zivilgesellschaft bei uns und in der Ökumene, die nach Alternativen zur Ausbeutung von allem Leben und zur Plünderung des Planeten suchen. Und wir sehen wie nicht nur wir, sondern viele andere auch lernen wollen, wie ein gutes Leben gelingt, das mehr und anders ist als bloßer Verbrauch von Waren und Dienstleistungen – sondern das ein Leben in Fülle für alle verheißt.

Die Frage der globalen Gerechtigkeit verbindet die spirituelle Dimension unserer Lebensentwürfe als Christenmenschen mit der Verkündigungsaufgabe der Kirche und den sozialethischen Herausforderungen der Weltgesellschaft. Gerade weil es nicht nur um technische Fragen, sondern auch um spirituelle Themen und letztlich Sinnfragen geht, sind wir als ökumenisch vernetzte Kirche ein wichtiger Gesprächspartner. Globale Gerechtigkeit so verstanden, ist nicht nur eine große Herausforderung für die Weltgesellschaft, sondern eine Gelegenheit für uns als Kirche, uns einzumischen und unsere Geschichten von Gerechtigkeit und vom guten Leben zu erzählen.

Nun wissen wir – Sie alle und ich auch – dass es durchaus unterschiedliche Vorstellung von Gerechtigkeit gibt. Manche sagen, gerecht ist, wenn jeder die Ergebnisse seiner Anstrengungen für sich genießt. Leistung soll sich wieder lohnen, hieß dazu der Slogan vor einiger Zeit. Ich will das auch überhaupt nicht ablehnen. Natürlich wissen wir, dass Ziele anspornen. Niemand soll um den Ertrag seines Tuns gebracht werden. Und es ist auch richtig: der Reichtum, der verteilt wird, muss erst einmal erwirtschaftet werden. Aber das ist eben nur die eine Seite der Medaille. Unsere Aufgabe als Kirche ist es, auch die andere Seite in den Blick zu nehmen: Was ist mit denen, die nicht mitkommen im Wettbewerb um die besten Positionen? Was ist mit denen, die aufgeben müssen, deren Startvoraussetzungen nicht ausreichen, deren Kompetenzen nicht mehr gefragt werden? Das ist ein Schicksal, das Einzelnen hier und anderswo widerfährt, aber auch ganzen Regionen und Ländern in der armen Welt.

Wir erleben das als ökumenische Kirche im weltweiten Kontext: den globalen Wettlauf um die besten Plätze in Wertschöpfungsketten, die nach unten eskalierenden Ketten von Preisdumping, Lohndumping und Sozialdumping – all das sind für uns als Kirchen nicht nur Zahlen oder Kurznachrichten im Fernsehen, sondern: Gesichter, Lebensgeschichten von Müttern, von Vätern, von Kindern und Gemeinschaften, die uns nahestehen.

Und schließlich die Frage nach den ökologischen Kosten unseres Wirtschaftens – das ist nicht neu, aber im Blick auf die Klimaveränderungen rückt uns die Brisanz dieser Frage heute näher denn je: Auch die Frage, welchen Preis bezahlt die Schöpfung für unseren Wohlstand – das bildet sich uns nicht nur in Tabellen und Bilanzen ab, sondern in den Lebensgeschichten der Geschwister aus unseren Partnerkirchen. Auch die große Frage von der Südhalbkugel an uns – „Warum bezahlen wir die ökologischen Kosten Eures Wohlstands?“ – hat für uns ganz konkrete Gesichter, Namen und Lebensgeschichten.

Sozialethische Fragen können im Zusammenwachsen der Welt immer weniger im nationalen Rahmen formuliert oder gar gelöst werden. Die Finanzkrise, beginnend mit dem Jahr 2008, die ökologische Krise im Kontext des Klimawandels und vieles mehr machen uns deutlich: Wir können Gerechtigkeit immer weniger in regionalen Verengungen denken.

Immanuel Kant hat als die vier Fragen des Menschlichen formuliert: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?

Heute erleben wir: Dieses „Ich“, das Kant noch denken konnte – es ist mittlerweile das globale „Wir“. Die Herausforderung an uns liegt auch darin, wie wir dieses „globale Wir“ sprach-, denk- und handlungsfähig machen. Und hier sind unsere Netzwerke von großer Bedeutung. Die Partnerschaften von Gemeinde zu Gemeinde, von Kirchenkreis zu Kirchenkreis, die Freiwilligendienste, die Dienste und Werke im Bereich der Ökumene mit ihren Partnern in Übersee und die globalen Netzwerke, die wir im Lutherischen Weltbund haben. Wir sind im Blick auf die Globalität der Gerechtigkeit noch nicht da, wo wir sein sollten, aber ich erlebe uns als Nordkirche und als internationale lutherische Kirche schon jetzt als einen kommunikationsstarken Akteur in diesem Feld. Das sind Netzwerke für eine andere Globalisierung, die die Kraft in sich trägt, gerechter zu sein.

Wenn wir heute nach vorne schauen, dann nehmen wir dies ermutigend mit. Ich beziehe mich noch einmal auf das Bild des Pilgerwegs für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Wir könnten fragen: Welchen Schwierigkeiten werden wir auf diesem Weg noch begegnen. Wir können aber auch umgekehrt bei dem guten Proviant anfangen, den wir in unseren Rucksäcken finden. Und das ist eine ganze Menge.

Fazit
Globale Gerechtigkeit als Herausforderung für unsere Nordkirche: Ich möchte abschließend vier Perspektiven für unser Handeln als Kirche in diesem Sinne aufzeigen.
Weltweite Gerechtigkeit – das heißt für uns als Kirche:

Anwältin der Schwachen sein: den Ungehörten Sprache verleihen, den Schrei der Rechtlosen hörbar machen bei uns und überall. Dieses prophetische Amt ist für mich der Kern des Gerechtigkeitshandelns überhaupt. Hier wird es in Zukunft darum gehen, immer wieder neu den Blick zu schärfen: wo marginalisiert, ausgegrenzt und stumm gemacht wird.

Solidarisch Hilfe leisten: teilen, was alle wirklich brauchen – Brot und Liebe, Gemeinschaft und Freiheit. Denen helfen, die unter die Räder gekommen sind – im umfassendsten Sinn des Wortes. Das diakonische Amt der Kirche werden wir auch in Zukunft auf seine globale Dimension beziehen.

Die spirituellen Fragen des Lebens stellen: Woher kommt der Drang nach immer mehr? Was brauchen wir wirklich zum guten Leben? Wie werden wir auch geistlich frei für eine Ethik des Genug, für nachhaltiges Wirtschaften? Wer wenn nicht wir als Kirchen haben dafür die Worte, die Sprache und die Geschichten.

Die Ökumene als guten Konfliktort nutzen. Hier dürfen wir nicht nur das Gemeinsame feiern. Sicher, es ist nicht immer leicht, die Anfragen des globalen Südens an uns auszuhalten. Ich erinnere an den Anfang meines Vortrags: die kritischen Fragen von Bischof Malasusa. Manche Anfrage an uns trifft uns, hinterfragt uns als Kirche, ob wir den Weg Jesu folgen. Aber auch das ist gelingende Ökumene: wenn wir uns gegenseitig zu Veränderungen anspornen, weil wir uns wechselseitig als lernfähig annehmen.

Festhalten an der Hoffnung und nicht wanken! Dieser Appell des Apostels Paulus führt uns an den Kern unserer Verantwortung. In die Realität der Welt hinein haben wir den Auftrag, die Realität Gottes zu verkündigen, auf ihn zu verweisen als den Geber guter Gaben und die Quelle gerechten Lebens. Unsere Verantwortung liegt nicht nur im Tun des Gerechten, sondern zuerst im Beten. Es ist Gott, der Gerechtigkeit schafft. Er ist es, der unsere Realitäten durchdringt und überwindet. Sein Reich kommt – es wird nicht durch uns gebracht. Geduld – Barmherzigkeit – Nicht-Verzagen gehören zu unserer Verantwortung angesichts aller Gnadenlosigkeit und Verzagtheit. Wir packen unsere Hoffnungsprojekte an, aber übergeben sie in Gottes Hände. „Lasst uns festhalten an der Hoffnung und nicht wanken; denn er ist treu, der sie verheißen hat.“ (Hebr. 10, 23)

Datum
25.01.2018
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Gerhard Ulrich
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