25. August 2024 | Dom zu Lübeck

Gottesdienst am 13. Sonntag nach Trinitatis

01. Oktober 2024 von Kirsten Fehrs

Predigt zu Leviticus 19

Liebe Gemeinde im Dom,

„Was ist Ihnen heilig?“ Als ich diese Frage jüngst während eines Vortrags vor dem Hamburger Überseeclub den Anwesenden stellte, erntete ich zunächst verblüfftes Schweigen. Wichtig ist einem vieles, doch heilig? Hm. Das war für die nüchternen Hanseaten ein bisschen „drüber“. Doch dann sprudelte es auf einmal: „Heilig ist mir meine Familie“, rief ein Erster. „Der Urlaub“, rief eine Zweite. „Die erste Tasse Kaffee am Morgen.“ „Die Gespräche mit meinen Enkeln.“ „Die Liebe meines Lebens!“

Faszinierend fand ich, dass die Beiträge immer mehr in die Tiefe gingen und immer deutlicher wurde: Heilig – das ist mehr als gut und schön. Es ist auch etwas Geheimnisvolles darin, etwas uns Unverfügbares. Heilig ist den Menschen ein erfülltes Leben, sind die Kinder und ihr Glück, heilig ist die eigene Würde und die der anderen auch, ist es, Sinn zu erfahren und treue Freundschaft – alles also, was unbedingt schützenswert ist, sodass man dafür auch kämpft und sich einsetzt.

Heilig – da klang je länger, desto mehr jene Bedeutung aus dem Alten Testament mit: heilig gleich unantastbar. Wie Gott selbst.

Der Predigttext heute geht sogar noch weiter. Er mutet uns als Menschen zu, selbst heilig zu sein. Jede und jeder hier. Mann und Maus. Kind und Frau. Christin und Jude. Geflüchtete, Suchende, Singende, Heimatverlorene, bitter Gewordene, jeder Mensch ist heilig. Denn wir sind Gottes Ebenbild. Logisch. Und doch: Einmal so unverblümt geradeheraus gesagt zu bekommen, dass in uns Menschen so viel Licht und Kraft liegen kann, dass viel Gutes dabei herauskommt, ja Heilsames, das ist doch verblüffend. Ich lese den Predigttext aus Leviticus, dem 3. Buch Mose, im 19 Kapitel in Auszügen.

„Der HERR sagte zu Mose: ,Richte der ganzen Gemeinde Israel aus, was ich ihr zu sagen habe: Ihr sollt heilig sein; denn ich, der HERR, euer Gott, bin heilig. Jeder soll seine Mutter und seinen Vater ehren und meinen Sabbat, beachten. Ich bin der HERR, euer Gott! Wendet euch nicht anderen Göttern zu und macht euch keine Götzenbilder. Ich bin der HERR, euer Gott! [...] Wenn ihr erntet, sollt ihr euer Feld nicht bis an den Rand abernten und keine Nachlese halten. [...] Lasst etwas übrig für die Armen und für die Fremden bei euch. Ich bin der HERR, euer Gott! Vergreift euch nicht an fremdem Eigentum. Belügt und betrügt einander nicht. [...] Wenn jemand um Tageslohn für euch arbeitet, dann zahlt ihm seinen Lohn noch am selben Tag aus. Sagt nichts Böses über einen Tauben, der es nicht hören und sich nicht wehren kann, und legt einem Blinden keinen Knüppel in den Weg. [...] Wenn ihr als Richter über andere urteilt, darf allein die Gerechtigkeit den Maßstab abgeben. Wenn du etwas gegen deinen Bruder oder deine Schwester hast, dann trage deinen Groll nicht mit dir herum. Rede offen mit ihnen darüber, sonst machst du dich schuldig. Räche dich nicht an deinem Mitmenschen und trage niemand etwas nach. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Ich bin der HERR! [...] Unterdrückt nicht die Fremden, die bei euch im Land leben, sondern behandelt sie genau wie euresgleichen. Sie sollen bei euch wohnen wie die Einheimischen, und du sollst den Fremden lieben wie dich selbst. Denkt daran, dass auch ihr in Ägypten Fremde gewesen seid. Ich bin der HERR, euer Gott!“

Es ist eine sehr lange Rede, die Gott Mose in den Mund legt. Mose, der übrigens die Kanzel hier im Lübecker Dom trägt, schauen Sie mal. Es ist eine lange Rede und, wie ich finde, eine klare Rede, die trägt. Durch die Zeiten hindurch. Hier ist uns von allerhöchster Stelle gesagt, Mensch, was gut ist. Nein, heilig sogar. Denn was wir hier hören, so wie es auch das Volk Israel mitten in der Wüste, also in der Krise gehört hat, sind die zentralen Worte des Heiligkeitsgesetzes, so nennt man das 19. Kapitel im 3. Buch Mose. Und dieses steht exakt in der Mitte der fünf Bücher Mose, der Tora, also das heilige Buch der Jüdinnen und Juden. Und mit dieser Tora wiederum beginnt unsere Heilige Schrift.

Und dann dieser erste Satz, sozusagen als Überschrift: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, spricht Gott.“ Da kann man zunächst erschrecken und es hören wie einen uneinlösbaren Anspruch. Allemal, wenn man dann der Aufzählung lauscht, was da alles von uns verlangt wird. Die Zehn Gebote sind hier ins richtige Leben übersetzt. Sagenhaft konkret. Ohne Geschwurbel. Da kann man nicht ausweichen. Sondern es tun – oder eben nicht tun.

Das Schöne am Predigttext nun ist, dass er anders gehört sein will. Und zwar als Zusage, nicht Ansage. Dir ist alles zuzutrauen, Mensch, an Gutem! Weil du an der Nähe Gottes Anteil hast – das ist hier gemeint. Du bist heilig, weil Gott heilig ist. Deshalb sollen wir Gottes Nähe suchen! Um nachzumachen, zu imitieren, was er uns vormacht und vor Augen stellt. Und deshalb sollen wir seine Worte in uns aufnehmen, damit wir eine Vorstellung davon bekommen, wie das geht, dieses Nachmachen. Denn der Text sagt: Jedes Gotteskind kann das, Kinderübung. Nachmachen.

Und so kommen wir von der Mitte der Tora zur Mitte unseres Evangeliums; wir haben sie eben gehört, die vertraute Geschichte vom barmherzigen Samariter. Und damit kommen wir zu Jesus, Gottes Sohn, der mit seinem ganzen Leben und eben auch seinen Gleichnissen eine lebensnahe Vorstellung davon gibt, wie wir Gott nachmachen können. Deshalb ist Gott in Christus Mensch geworden. Dass wir nicht vorbeigehen an denen, die unter die Räuber gefallen sind – nein, kümmern! Dem Unheil mit Nächstenliebe begegnen! Wo auch immer.

Unser alter Predigttext bietet zahllose Beispiele dafür und aktuelle Anknüpfungspunkte. So etwa gilt es, den Wanderarbeitern, den Tage- und Stundenlöhnern unserer Tage das zu geben, was ihnen zusteht. Heißt: all die bulgarischen, rumänischen und albanischen Migranten, die früh morgens auf dem Arbeitsstrich (so heißt der wirklich) stehen und für Hungerlöhne auf Baustellen und in Lagerhallen arbeiten – damals wie heute: Das ist unheilig!

Wir müssen gegenhalten. Denn allen, so Leviticus, allen soll Gerechtigkeit widerfahren, auch denen, die (vor Gericht) Recht suchen. Dabei sollen die Armen nicht übervorteilt werden, aber auch die Reichen nicht beschämt. Man könnte heute sagen: Eine Hymne auf den Rechtsstaat hören wir hier, der das Recht pflegt, die Rechtssuchenden hört und die Schwachen schützt. Und immer wieder wird mir dankbar bewusst, gerade im Blick auf die vielen diktatorischen Staaten, welch Errungenschaft die Demokratie in unserem Land ist, in der Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit gelten.

Und dann steht es schon vor 2.500 Jahren da: kein Hass. Keine Fake News. Keine üble Nachrede. Stattdessen: Liebe! Es ist das Gebot aller Gebote, die Mitte der Mitte: den Nächsten lieben! Unbedingt. Die Kinder wie die Alten, die Anstrengenden und Klugen, die Orientierungslosen und Dementen, und – ausdrücklich! – die Fremdlinge, die Migranten, die Geflüchteten. Man muss es immer wieder in Erinnerung rufen, gerade wenn wir uns die Bilder von Hetze und Hass jüngst in England vor Augen führen: Geflüchtete sollen leben können wie die hier Geborenen.

Gegenüber allen Menschen also: Liebe! Nicht romantisierende Liebe ist hier gemeint, eher respektvolle und achtsame Zuneigung. Das ist ein an Klarheit nicht zu überbietender Maßstab, das Leben zu gestalten. Alle, alle können wir uns entscheiden, diesem Maßstab gerecht zu werden. Wir können es zumindest versuchen. Wissend, das ist ja klar, dass wir fehlbar sind und eben nicht ständig liebevoll, gütig und jedem, auch dem Feind gegenüber achtungsvoll. Wir erleben uns auch ängstlich, verletzt, unsicher und gebrechlich, neidisch und gemein, wütend und ungerecht. Wir müssen immer auch mit unseren Schattenseiten rechnen. Weswegen das Heilig-Sein so seine Grenzen hat. Und weswegen auch Böses entsteht.

Und dann denke ich unmittelbar an Solingen. Wie sich da richtiggehend Abgründe des Bösen aufgetan haben. Was für ein kaltblütiger Mord, dieser Messerangriff, bei dem von einem Moment auf den anderen drei Menschen aus dem Leben gerissen und etliche verletzt wurden und der tiefes Leid über Familien bringt. Weil dem Täter, aus welchem Motiv heraus auch immer, das Leben anderer alles andere als heilig war. Mich entsetzt diese abgrundtiefe Grausamkeit, zu der Menschen fähig sind. Wir haben dies ja wahrlich auch andernorts vor Augen in diesen Tagen. Verstörend dabei doch auch die unerhörte Anmaßung, die in jeder Form von Terror und Gewalt liegt, wenn ein Mensch dem anderen sein Leben, sein Heilsein, seine Würde oder seine Liebe nimmt.

Wir können inmitten dieses Unheils nur die Ohnmacht teilen. Seelen trösten. Um Frieden bitten. Mitgefühl zeigen. Und aufpassen, nicht alle geflüchteten Menschen mitzuverhaften. Wir können so Gott nur nachmachen, Jesus nachfolgen. Aber, das ist hier so eklatant wichtig, wir sind nicht selbst Gott. Sind, Gott sei Dank, eben nicht Herren über Leben und Tod!

Wir sind allenfalls Nachahmer des Guten. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wir können uns entscheiden, täglich neu, Freunde und Freundinnen des Friedens, der Gerechtigkeit, der Wahrheit zu sein. Wir alle können das. Denn, das ist im Kern des Heiligkeitsgesetzes auch angelegt, die Nähe Gottes gilt allen. Es gibt nicht die einen, die heiliger sind als andere, auch wenn sie es von sich glauben ...

Nein, alle im Volk können Anteil haben an Gottes Nähe. Eine schöne Vorstellung. Die Nähe Gottes wird hier demokratisiert. Unser Predigttext markiert genau diesen Quantensprung in der Glaubensgeschichte. Alle können Gott nah sein, nicht nur eine Priesterkaste. Geradezu evangelisch hört sich das an, wie das Priestertum aller Glaubenden. So schon hier: Alle werden Leviten – Leviticus eben. Alle werden Leviten und können die Leviten lesen, und auch mal gelesen bekommen. Damit wir uns stets erinnern, dass es allein die Liebe ist, die die Kraft hat, den Hass in dieser Welt zu überwinden. Täglich sollen wir uns erinnern, dass wir genauso in der Lage sind heilig zu sein. Auch im Unheil.

Auf originelle Weise erinnert in Hamburg eine Straßenkünstlerin mit Namen Frau Jule daran. Kürzlich nämlich ging ich an einem Kuchenteller vorbei, mit Gold und Rosen verziert, der an einer Hauswand in Altona hing. Zugegeben ein etwas ungewöhnlicher Ort für einen Kuchenteller. Wunderbar dabei die Aufschrift: „Liebe ist ein Tuwort“. Na bitte. Verblüffenderweise habe ich dann überall Kuchenteller entdeckt. An Haustüren und Toreinfahrten: „Solidarität und Sahnetorte“ prangte auf dem einen. Und „Sharing is caring“, schön! Und auf einem Teller mit einem kleinen Sprung stand: „Broken, but still strong.“

Ja, manchmal sind wir ein bisschen angeschlagen, broken. Es ist halt brüchig, unser Leben. Aber das heißt nicht, dass wir nicht zugleich stark sein können. Strong, sagt Frau Jule und erinnert in diesen kritischen Zeiten mit ihren Mutbotschaften daran, dass uns jede Menge Gutes zuzutrauen ist.

Im Vorbeigehen und im Alltag so die Leviten gelesen zu bekommen, das hat mich froh gemacht und hoffnungsmutig. Wir können heilig sein, weil Gott es so will. Liebe ist ein Tuwort. Nun denn: Gehen wir hin und tun desgleichen. In seinem Frieden, höher als alle Vernunft. Er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

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