22. September 2024 | Hauptkirche St. Michaelis, Hamburg

Gottesdienst am 17. Sonntag nach Trinitatis

24. September 2024 von Kirsten Fehrs

Predigt zu Galater 3,26-29

Liebe Gemeinde,

was glaubst du denn? Ja, was glaubst du denn? Zehntausende Menschen haben sich das gestern Abend fragen lassen, bei der 21. Nacht der Kirchen in Hamburg.

Und glauben Sie mir, bei diesem größten ökumenischen Fest des Nordens hat die Herzensweite geblüht. Ein einziges Zeichen von Zusammenhalt war das in diesen wunden Zeiten, in denen wir so viel Friedloses erleben. Über 80 Kirchen haben ihre Türen geöffnet und gesagt: Wir gehören zusammen. Vielfältig, international, interkulturell. 250 Veranstaltungen gab‘s, in der ganzen Stadt Musik, Kabarett, Vorträge, Gebet, Gesang und Gespräch.

Ein Fest für Neugierige und Fragende, für Alte und Junge, für Schwarze und Weiße, für Menschen mit und ohne Einschränkungen, für wissenschaftlich, kulturell und politisch Interessierte, für und mit Menschen, die in orthodoxer, katholischer, reformierter oder lutherischer Tradition glauben. Oder noch auf der Suche sind. Für Menschen mit und ohne Geld, denn alle Eintritte: frei. Eintritt frei für eine offene Gesellschaft!

Denn ja, was glaubst du denn, worauf es jetzt ankommt? Es ist doch klar, dass wir Herzensweite brauchen in diesen Tagen, die so verunsichernd sind und viel zu viel Abschottung nach sich ziehen. Und überhaupt: Was glaubst du – eigentlich? Oder noch? Sie merken, die Frage dieses Mottos lässt sich verschieden stellen. Mir gefällt das. Es eröffnen sich Denk- und Spielräume. Denn beim Glauben geht es gerade nicht um ein festgeschriebenes Bekenntnis, das jeder Mensch genau so und nicht anders übernehmen soll. Nein, der Glaube ist lebendig, bewegt, lässt dich fragen, suchen, zweifeln, ja, und lässt dich getröstet sein, geborgen und nachdenklich, ganz individuell.

Kurz: unser Glaube lebt den Geist der Freiheit. Entgegen aller Angst, die ja vom Wortstamm her von Enge kommt, spricht Christus uns Freiheit zu. Sie ist die mutige Gegenspielerin der Angst. Das ist die wichtige Glaubensbotschaft dieser Tage, wo Angst so vielfältig auf der Seele liegt, Angst vor Krieg, Klimakatastrophe, Hassreden, Rechtsextremismus.

Dahinein: Du bist ein würdiger, freier Mensch. Woher immer du kommst und wohin immer du gehst, oder gehen musst. Du bist so frei – zu vertrauen, dass der Eintritt in Gottes Wohngemeinschaft immer frei ist.

„Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus.“ So beginnt der Predigttext aus dem Brief des Paulus an die Galater. Einer der wichtigsten und schönsten Texte in den ganzen Paulusbriefen, finde ich, und eine gute Fügung, dass er heute im Mittelpunkt steht. Denn er ist ein einziges, hochmodernes Plädoyer für die Achtung der Freiheit, die ausnahmslos allen gilt. „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“

Eins in Christus, das ist der Maßstab der Freiheit. Das klingt erst einmal schlicht. Doch wie weitreichend und tief diese Botschaft in unsere aktuelle Situation spricht, dazu lohnt es, die Hintergründe ein wenig näher zu beleuchten. Paulus ringt in dem Brief nämlich mit den Konfliktfragen der Gemeinden seiner Zeit. Im Zentrum die Frage: Wer gehört unter welchen Bedingungen dazu? Und wer nicht? Wie soll das Verhältnis sein zwischen Juden und Heiden? Was und wie soll man zusammen essen? Welches Gesetz soll wie gelten?

Heute würde Paulus vielleicht darüber nachdenken, wie man Mitgliedschaft definiert, wie man zum Beispiel all die Menschen erreicht, die in aller Freiheit – und dankenswerterweise – Kirchensteuer zahlen. Oder ob man in der Kirche sein muss, um getraut oder bestattet zu werden. Oder warum ein AfD-Mandat ein kirchliches Amt ausschließt. Wer weiß. Kontroverse Fragen gibt es auch heute genug. Die Grundfrage bleibt: Wer gehört unter welchen Bedingungen zur Kirche Jesu Christi?

Paulus‘ Ringen um einen guten, gemeinsamen Weg endet in eben diesen kurzen Sätzen unseres Predigttextes, die Geschichte geschrieben haben: Eine Vision, eine Charta der Menschlichkeit, eine Grundsatzerklärung der noch jungen christlichen Gemeinde. Und siehe da: aktuell, herausfordernd, visionär bis heute.

Denn hier entwickelt einer im Blick auf die Kontroversen seiner Zeit die Vision einer Gemeinschaft, in der die Unterschiede zwischen Menschen, nein, nicht aufgehoben werden, sondern schlicht nicht mehr relevant sind. Denn: Vor und in Christus sind alle gleich wert und wertvoll. Es ist nicht entscheidend, woher jemand kommt, kulturell und religiös. Es ist gleich, ob jemand männlich oder weiblich ist, weiß oder schwarz oder farbig, fremd oder einheimisch, alt oder jung, krank oder gesund, im Osten lebt oder im Westen. Es ist gleich, welchen sozialen Status jemand hat. Kinder Gottes sind wir alle, durch die Taufe in Christus eins geworden, einzig-einig, Erben einer gemeinsamen Verheißung. Allein darauf kommt es an: das gemeinsame Vertrauen, der geteilte Glaube an die Kraft des Evangeliums. Die Unterschiede: einfach nicht wichtig, wenn es um den Kern christlicher Identität geht. So frei sind wir! Was für ein revolutionärer Gedanke.

Zwischenfrage: Was glaubst du denn? Was glauben Sie? Ist das möglich? Können Menschen leben, ohne sich gegenseitig zu bewerten oder abzuwerten? Können Menschen eine eigene Identität bilden, ohne sich von anderen abzugrenzen? Kann es statt des Entweder – Oder ein Sowohl – Als auch geben? Und nächste Frage: Willst du das überhaupt? Wollen wir das? Eine große Familie in Christus sein, zu der dann eben auch Esoterikerinnen und Fundamentalisten, Querdenker und Queere, Obdachlose und Rotarier, Russen und Ukrainerinnen, Klimaschützerinnen und Klimakrisenleugner gehören? Wirklich? Oha. Im Konkreten wird klar, was für eine Zumutung in dieser Vision des Paulus liegt. Wie viele Vorurteile, Meinungen und Standpunkte überwunden werden müssen, um wirklich sagen zu können: Wir sind eins in Jesus Christus.

In einer bis in die Grundfeste zerstrittenen Gemeinde in Dithmarschen gab es jüngst einen Bürgerdialog. Unversöhnliche Parteien, misstrauische Blicke, wütendes Murren, so fing der Abend an. Und schon die erste Frage der Moderatorin löste Bewegung aus: Wann haben Sie zuletzt eine Ihnen wirklich wichtige Meinung geändert? Stille. Dann: Reden Sie zu viert miteinander, jeder Mensch vier Minuten, die anderen hören zu und unterbrechen nicht. Es entstand Unruhe. Reden Sie mal vier Minuten! Und keiner unterbricht. Vorbei die Attitüde des: Das wird man doch mal sagen dürfen! – Ja, darf man, alles. Wir sind freie Menschen in einem freien Land. Gott sei Dank sind wir das! – Und dann: Zwölf Minuten zuhören, keine leichte Übung. Für niemanden ... Aber die Atmosphäre veränderte sich, wurde konstruktiver. Die Kraft der Besonnenheit siegte – und mit ihr der Wille, Lösungen zu finden.

Ja, es ist ein langer Lernweg. Individuell. Und menschheitsgeschichtlich. Was mich tröstet und ermutigt ist: Auch unser Jesus musste lernen, sein Herz zu weiten und die eigenen Ab-Grenzungen zu überwinden. Wir haben es im Evangelium von der kanaanäischen Frau gehört. Das war absolut kein Selbstgänger, sich einer Fremden zuzuwenden und zu helfen.

Also auch wir: Auf der Suche, wie es gehen könnte, dieses Miteinander ohne Schubladen und Entwertungen. Dieser neugierige, offene Umgang miteinander, der nicht urteilt, sondern hinhört, zuallererst. Es hilft ja nichts: Der einzige Weg ist, miteinander zu reden. So einfach, so schwer.

Unsere Kirche, unsere Kirchen sind, das muss man selbstkritisch sagen, deutlich entfernt von dieser großen Vision des Paulus: in vielfältigen Kontroversen verstrickt, milieuverengt und durchaus nicht einladend für alle. Aber mitten in all der gesellschaftlichen Sprachlosigkeit, der Vereinzelung, der Wut, der Entwertung, bleibt Kirche ein Ort, wo Menschen unterwegs sind auf dem Weg der Verheißung. Wo Menschen miteinander ins Gespräch kommen können, wo sie versuchen können, einander zu verstehen. Wo Menschen miteinander um den richtigen Weg ringen, aber eben auch zusammen singen und tanzen, essen und feiern und so Gemeinschaft leben, auch wenn wir uns in der Sache noch nicht einig sind und uns der eine oder die andere fremd ist und bleibt.

Und dass dies eigentlich auch ganz freudvoll sein kann, habe ich jüngst in der Gemeinde St. Georg-Borgfelde erlebt: Fernsehgottesdienst mit der afrikanischen Gemeinde. Mit Gospelchor und Band, mit einer alten, weißen Frau mit Halskrause, nämlich mir, und vielen jungen, begeistert glaubenden Christenmenschen aus Deutschland, Ghana, Sierra Leone, sonstwoher. Nun ist ein Fernsehgottesdienst ja nach Sekunden getaktet; das verträgt sich nicht mit jeder Kultur. Das ZDF rechnete schlicht nicht damit, dass nach jeder Rede (oder auch dazwischen) eine enthusiastische Gemeinde einstimmt mit „Amen“, „Halleluja“ und Applaus. Nun gut, den Segen zu sprechen, haben der Pastor und ich gerade noch in der Sendezeit hinbekommen. Was dann aber in der Begeisterung keiner merkte war, dass wir zwar nicht mehr auf Sendung waren, die Aufnahme des ZDF aber weiterlief. Wunderbar, was man da im Abspann sehen kann: eine einzige frohgemute, bunte, tiefgläubige Hoffnungs-WG, die sang und tanzte, bis sich die Kirchenbalken bogen. Ganz vorn dabei der Vater des Pastors, ein Stammeshäuptling in seiner afrikanischen, unfassbar bunten Tracht. Stolz, aufrecht, frei und gleich.

„So seid ihr nun alle Gottes Kinder, denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen.“ Wir haben Christus angezogen, liebe Geschwister. Sein Kleid, bunter geht‘s nicht, ist die Liebe, die die Unterschiede zwischen den Menschen und die Vielfalt der Lebensformen und Traditionen für eine Stärke hält. Das ist die Verheißung, deren Erben wir sind. Alle! Und das heißt doch: nicht müde werden, liebe Geschwister. Anstrengend, aber auch inspirierend bleibt es, dieses Miteinander einzuüben und die kulturellen, ethnischen, sexuellen, politischen oder sozialen Grenzen überwinden zu lernen. So können wir auch frei und offen mit all denen in Kontakt sein, die aus anderen religiösen Traditionen kommen oder die meinen, Religion sei für sie ganz unbedeutend.

Diese Vision ist der christliche Beitrag der Hoffnung angesichts einer politischen Lage im Land, in der der Umgang miteinander verroht, die gegenseitige Ab- und Ausgrenzung aggressiver wird und die Spaltung nun auch die Parlamente erreicht hat. Wenn wir heute Abend die Wahlergebnisse aus Brandenburg erfahren, lassen Sie uns Paulus nicht vergessen. Seine Vision ist 2.000 Jahre alt. Die AfD gerade mal elf ...

Übrigens: Gestern war parallel zur Nacht der Kirchen das Reeperbahnfestival. Das größte Clubfestival Europas, drei Tage, 850 Veranstaltungen, 70 Spielstätten. Zwei davon: die St. Pauli-Kirche – und hier – der Michel. Auch so kann es gehen. Musikalisch. Unermüdlich. Miteinander. Friedvoll. Amen.

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