Gottesdienst an Neujahr
01. Januar 2025
Predigt zur Jahreslosung
Um gleich mit der offenen Tür ins Neujahrshaus zu fallen, liebe Gemeinde hier im Dom: Wann haben Sie zuletzt einmal eine Meinung geändert, von der Sie sehr überzeugt waren? Das ist jetzt keine alljährliche Frage nach guten Vorsätzen, auch wenn ich es durchaus als Stärke empfinde, wenn Menschen das können: dazu stehen, dass sie geirrt oder etwas unzureichend eingeschätzt haben. Sich prüfen und ehrlich machen, allemal öffentlich, das ist eher selten in diesen Tagen.
So also: „Wann haben Sie zuletzt einmal Ihre Meinung geändert?“ damit beginnt die Moderatorin den Abend bei einem der so genannten Verständigungsorte, die EKD und Diakonie gemeinsam initiiert haben. Wir befinden uns in einem Landgasthof in einem Dorf in Schleswig-Holstein – und die Menschen dort sind nicht gut aufeinander zu sprechen. Es liegt Konflikt in der Luft – und große Unzufriedenheit über diese Bürokratie, die Politik des Landes und – wenn wir schon dabei sind – über die Kirche im Dorf auch. So sitzt man sich missgelaunt an den Tischen gegenüber und grummelt vor sich hin.
Die Meinung ändern? Man merkt, wie die Frage etwas auslöst. Die Moderatorin erklärt unverdrossen, wie‘s geht: Jeder redet vier Minuten lang, keine unterbricht, und man bezieht sich nicht aufeinander. Klare Regeln – faszinierendes Ergebnis. Binnen kürzester Zeit ändert sich die Atmosphäre. Vieles kommt auf den Tisch. Und nach eineinhalb Stunden erscheinen erste Lösungen am Horizont. Zwar heiratet man einander jetzt nicht gleich – aber zumindest scheiden lassen möchte man sich nicht mehr.
„Prüft alles und behaltet das Gute.“ – Die Jahreslosung, die uns der Apostel Paulus im Brief an die Thessalonicher beschert, hat mich sofort an diese Situation erinnert. Denn nichts anderes fand in diesem Dorfgasthof statt: im Gespräch alles prüfen. Denn wenn das keine Prüfung ist: vier Minuten am Stück reden. Machen Sie das mal! Dann 20 Minuten zuhören. Andere Meinungen aushalten! Womöglich dann doch einlenken … und zugeben, dass doch nicht alles so schlecht ist. Etwa, dass man nie ausreden kann, dass die eigene Meinung keinen interessiert, dass „die da Oben“ tun, was sie wollen und man selbst ja doch nichts machen kann.
„,Da kann man nichts machen‘ ist ein gottloser Satz“ sagte einst eine kluge Theologin (Dorothee Sölle), und sie spricht mir in diesem neu beginnenden Jahr aus der Seele. Da kann man nichts machen, nichts ändern, nichts glauben, hoffen, lieben – das ist nicht nur resignativ bis nihilistisch, sondern Luxus. Diesen Luxus der Hoffnungslosigkeit können wir uns nicht leisten, liebe Geschwister. Politisch nicht, wirtschaftlich nicht, und kirchlich erst recht nicht.
Man kann jede Menge machen und bewegen – und denken, glauben, verändern, fühlen, hoffen. Prüft deshalb alles und das Gute behaltet. Wir sind nicht auf der Welt, nichts zu beschicken. Sondern alles uns Mögliche auf den Weg zu bringen, damit die Menschen nicht nur in diesem Land in Würde leben können, damit die verwundete Erde gesunden und unser Land ein freies, ein demokratisches bleiben kann. Prüfet alle, wie das gehen kann – damit es gut ausgeht mit uns.
Das ist doch mal eine Ansage zum neuen Jahr. Seht zu! Tröstet! Tragt die Schwachen! Betet! Seid fröhlich. Seid dankbar. Geistreich. Verachtet keinen. 14 Imperative in sieben Versen haben wir eben gehört. Junge, als nondirektiv kann man Paulus wahrlich nicht bezeichnen. Aber als klar. Als einer, der Orientierung gibt, indem er die Lebensklugheit der guten alten Gebote Gottes in die Mitte stellt und nicht sein Ego. Paulus ist kein Moralist. Der immer ganz besonders gut weiß, wie man‘s gut macht. Und sehr gern möchte, dass man das auch gut sieht.
Nein, er ist vor allem eines: ein freier Christenmensch. Aufrecht. Der sich selbst überprüft, heißt: der sein Gewissen prüft, ob es wahrhaftig ist, was er redet, denkt, tut. Das ist Kern unseres Glaubens, Ziel und Weg seiner Existenz: Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Und deshalb gilt sie allen, diese Freiheit! Ihr seid alle frei zu entscheiden, liebe Geschwister, um täglich Gutes zu bewegen. Und – das gehört ja dazu – das Böse zu erkennen und zu benennen, um es mit dem Guten zu überwinden. Jeden Tag können wir das.
Aus diesem Geist der Freiheit heraus schreibt Paulus seinen Brief an die Thessalonicher etwa 50 nach Christus. Die Gemeinde in der aufstrebenden Metropole und Hafenstadt Thessaloniki wächst, allerdings mit ihr auch die Konflikte. Noch ist der Zusammenhalt groß – gar nicht selbstverständlich, sitzen sie in den Gottesdiensten doch oft auf engstem Raum zusammen: Hafenarbeiter neben Bankier, Prostituierte neben dem Knaben aus gutem Hause, die Schlechtriechenden neben den Parfümierten, Juden, Griechinnen, unzählige Ethnien und Lebenskulturen. Eine Gemeinde in einer Einwanderungsgesellschaft eben, divers ohne Ende, damals schon.
Konflikte gibt‘s, klar. Wie heute. Paulus rät zur Besonnenheit. Und er sagt etwas sehr Schönes: Seid dankbar füreinander. Allein Wertschätzung ist das Prinzip, das den Menschen zum Guten, zum Leuchten bringt. Geduld braucht’s dafür. Den Blick für die Schönheit im anderen. Also eine Haltung, den Unterschied zu achten, um sich mit ihm zu befreunden. Erst in dieser Aufmerksamkeit füreinander lebt und entsteht Freiheit. Und diese christliche Freiheit ist alles andere als beliebig. Nein, sie ist parteiisch. Positioniert – für die anderen.
Eben gerade nicht gepöbelte, dauerempörte Abwertung des Fremden oder Anderen, was vielen Angst macht und die Schwachen schwächt. Im Gegenteil. Paulus will, dass die Menschen sich Zeit nehmen, um an Tischen zu reden. Sich zu versöhnen. Dass sie sich des Lebens freuen, miteinander beten und der Gnade Gottes gewahr werden. Das ist das Gegenteil von „We want you to panic.“
Aber auch das Gegenteil von: nach uns die Sintflut. Mit seinem „alles prüfen“ – mutet Paulus uns vielmehr zu, lebensbejahend und vertrauensvoll weit zu denken. Eben herzensoffen und neugierig wahrzunehmen, mit einer unaufgeregten Gelassenheit und inneren Distanz, was es so alles gibt in der Welt. Das Gewöhnliche und das Ungewöhnliche, die Verhaltenskreativen, die an den Rändern und die in der Mitte sowieso. Aber auch die Verlorenheit so vieler Menschen und die Traurigkeit dieser Tage, dieses Leid in der Welt, das so furchtbar sinnlos scheint.
Man stelle sich mal vor, wie das wäre: nicht gleich über alles Bescheid zu wissen. Sondern erst einmal zu prüfen. Nicht von Äußerlichkeiten auf das Innere zu schließen. Nicht von vornherein alles besser zu wissen. Und auch nicht zu wissen, was gut ist für die anderen. Oder viel zu einfache Lösungen für komplexe Probleme zu haben.
Sich Zeit nehmen. Zuhören. Verstehen wollen. Tiefer durchdringen, um was es eigentlich geht.
Und dann gemeinsam das Gute behalten. Paulus hat immer die Gemeinschaft im Blick. Prüft und behaltet. Plural: gemeinsam! Tja, wie kann das in einer Gemeinschaft gelingen? Allemal in einer so individualisierten, hochdifferenzierten, vielstimmigen, bisweilen missstimmigen Gesellschaft wie der unsrigen? Wo viele überhaupt nicht einsehen, ihre Meinung zu ändern. Und zwar weil die eigene Meinungsfreiheit, meine Freiheit die einzig gültige ist. Die der anderen ist mir herzlich egal.
Wie in so einer Gesellschaft der Egos zusammenkommen? Wie gelingt mehr Zusammenhalt inmitten der Meinungsverschiedenheit? Das ist ja allerorten das Programm, in Politik und Kultur, aber auch bei uns als Kirche mit unseren Spannungen und der dringenden Aufgabe einer Kulturveränderung. Wie kommen wir alle dahin? Hin zu einem deutlich gnädigeren Ton, größerer Sachlichkeit und einem achtungsvollen Miteinander, das Lösungen findet, auch wenn man unterschiedliche Meinungen vertritt.
Nimmt man Paulus ernst, kann solch Zusammenhalt – hier genauso wenig wie in Thessaloniki – bedeuten: Vereinheitlichung von kulturellen, inhaltlichen und religiösen Unterschieden. Wie und warum auch? Wenn sie alle das Leben auf ihre Weise lieben und es schützen? Denn, so Paulus, der Liebe, der Menschenfreundlichkeit Gottes auf die Erde zu helfen, das ist universal zu allen Zeiten und an allen Orten der Maßstab.
Nächstenliebe heißt das, fern oder nah, gegenüber Klein oder Groß, schwach oder vermögend – das ist gut, schreibt Paulus gleich in den ersten Versen seines Briefes. Ich danke dem Herrgott dafür, dass es euch gibt in eurer Vielfalt. Mit eurer Herzlichkeit. Und eurer Fähigkeit Brücken zu bauen. Und in all dem Christus zu lieben. Gut so.
Summa: eine gute Jahreslosung, gerade auch für ein Wahljahr. Man prüfe genau, wer zur Menschenfreundlichkeit fähig ist – und ordne es ein, wenn Extremisten Nächstenliebe nur fürs eigene Volk fordern. Ja, eine gute Jahreslosung für überhaupt diese krisenhaften Zeiten, in denen das Böse, nicht zuletzt in Magdeburg, unserer Seele so zusetzt. Und ich höre Paulus: Besonnen bleiben, liebe Geschwister, nicht der Angst und der Wut die Macht überlassen! Sondern mit Offenheit und in. christlicher Freiheit die Fülle menschlicher Möglichkeiten prüfen. Das ist doch etwas unerhört Ermutigendes, dieses Zutrauen in die Tischgespräche unseres Lebens und die Entscheidung für das Gute! Die klare innere Orientierung an Jesus Christus! Das alles empfinde ich als so hilfreich und tröstlich für dieses Jahr, das frisch vor uns liegt, und kein leichtes werden dürfte. Es bleiben viele Probleme, ja, doch Kopf in den Sand ist keine Lösung. Und auf einer einmal gefassten Meinung beharren, wider alle Vernunft, auch nicht.
Also braucht es mutige Menschen, auch beherzte Christenmenschen, die Aufbrüche wagen und hoffnungstrotzig all ihre Gaben zur Verfügung stellen, und das geschieht dankenswerterweise in Kirche und Diakonie allerorten, damit die Ausgebombten Hoffnung, die Obdachlosen ein Zuhause, die Hungernden Brot, die Geflüchteten Schutz, die Kranken einen Arzt, die Kinder eine Lehrerin, die Geschlagenen eine Zuflucht und die Unzufriedenen eine Zuhörerin bekommen. Man kann so viel machen. Jeden Tag neu.
Am heutigen Tag übrigens ist in Hamburg, direkt vorm Rathaus, vor einer Stunde (um 16.30 Uhr) an dem großen Chanukkaleuchter der jüdischen Gemeinde die letzte der acht Kerzen entzündet worden; dieses Jahr feiern wir ja mit Weihnachten und Chanukka unsere Lichtfeste christlich-jüdisch nahezu zeitgleich. Und wie an jedem der vergangenen Tage wurde laut und fröhlich gesungen und gebetet, begleitet von Segensworten des Rabbiners für die Stadt.
Es ist gut, sagte er jeden Tag, dass wir zusammenkommen. Dass wir uns nicht zurückziehen und uns als jüdische Menschen vor Angriffen fürchten. Und es ist gut, betonte er, dass alle Religionen zusammenstehen und einander zurufen: Shalom. In diesen Zeiten! Wir feiern die Hoffnung und das Leben, unbeirrt, und – seht sie, die achte Kerze – das Licht wird über die Dunkelheit gewinnen. In seinem Licht und seinem Frieden – prüfet alles und das Gute behaltet.
Ich wünsche Ihnen von Herzen ein gutes, lichtvolles, gesegnetes neues Jahr 2025 – und Shalom. Amen.