Gottesdienst zur Sterbestunde Jesu
18. April 2025
Predigt zu Johannes 19, 16-30
Liebe Gemeinde,
da liegt er nun, der Stein vor dem Grab. Groß und schwer. Scheinbar unverrückbar. Dahinter: Jesus. Wanderprediger, Sohn, Freund, Geliebter, Gottes Kind. Tot und begraben. Hinabgestiegen in das Reich des Todes.
Und die Welt steht still. Der Atem stockt. Unfassbar dieser Tod nach einem so grausamen, langsamen Sterben. Ein Foltertod am Kreuz, demütigend, einschüchternd. Eine Demonstration der Macht.
Ja, die Autokraten damals haben es nicht ertragen, dass da einer ihre Macht in Frage gestellt hat. Auch noch ein König der Herzen! Jesus Christus. Einer, der Menschen getröstet und aufgerichtet hat. Der sie verstanden hat in ihrer Not und sich ihnen ungeteilt zugewandt. Was willst du, dass ich dir tue, fragte er. Ausnahmslos jeden. Nicht, woher kommst du, was hast du geleistet, wie kannst du mir nützen. Bei ihm wäscht keine Hand die andere, bei ihm hält seine Hand die des Nächsten. Denn siehe, das ist der Mensch: ein von Gott geliebtes Geschöpf, je für sich ein Wunder, ausgestattet mit einer unverlierbaren Würde. Seht einander an! Seht, das ist der Mensch: eben kein Deal und keine Ware.
Und alle um diesen König der Herzen herum haben das gespürt, hautnah. Sie fühlen sich gesehen, geachtet, aufrecht und frei, ja sie fühlen sich heil in seiner Nähe. Aufgeweckt!
Unterschätzen wir nicht, was das für eine Wirkung damals hatte. Wer sich aufrichtet, sieht anders in die Welt. Der sieht über sich selbst hinaus. Heil gewordene Menschen hören und sehen, was Unheiliges geschieht in ihrem Dorf, in ihrer Stadt, in ihrer Welt. Sie werden Zeugen. Zeugen, wenn Unrecht geschieht. Wenn andere leiden. Sie nehmen das nicht Schulter zuckend hin. Sie sind mutig genug, das Unrecht und die Ungerechten beim Namen zu nennen. Das macht sie gefährlich für Despoten und Autokraten. Deshalb war Jesus gefährlich. Auch politisch gefährlich. Deshalb hat man ihm seine barmherzigen Hände mit Nägeln durchbohrt. Seine Stimme gebrochen, aber nicht seine Beine. Es ist diese Leidenschaft, die andere so aufbringt, seine Passion fürs Leben – ihretwegen stirbt er am Kreuz.
So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er uns seinen eingeborenen Sohn gab, hingab, dass wir nicht verloren gehen, sondern das Leben haben. Was für eine Geschichte. Grenzenlose Liebe, die auf grenzenlosen Hass stößt. Denn auch das ist der Mensch: verführbar vom Bösen. Machtbesessen. Grausam. Folterknecht. Mein Gott, was Menschen einander alles antun können!
Das Johannesevangelium – wir haben es eben gehört – wirkt demgegenüber fast wie ein historischer Bericht. Nüchtern. Sachlich. Detailgenau. Und wahrscheinlich ist es genau diese Sachlichkeit, die mir heute so auf die Pelle rückt. Das ist doch kaum auszuhalten. Dieses stundenlange Sterben am Kreuz. Diese Qual – das Weinen, Stöhnen, die abgrundtiefe Traurigkeit.
Und dennoch sind Sie, sind wir alle hier. Wir sind hierhergekommen, um die alte, bekannte Geschichte zu hören. Gehen den Weg zum Kreuz und umgehen es nicht. Setzen uns aus. Obwohl wir wissen, dass wir vom Sterben berührt werden. Von dieser Hingabe. Davon, dass einer für uns den Weg der unbedingten Liebe bis zum Äußersten geht. Denn das Schlimmste tritt ja tatsächlich ein. Keiner holt ihn da herunter vom Kreuz! O große Not - heißt es gleich im Choral - nicht allein die Menschlichkeit, Gott selbst liegt tot! Wir sind Gott los. Und diese Abwesenheit Gottes - sie ist in dieser Stunde so bedrückend anwesend.
Könnte es sein, liebe Geschwister, dass wir die Traurigkeit, die diese Stunden des Karfreitags stets umfängt, nicht nur erwarten, sondern irgendwie auch brauchen? Weil sie etwas von unserer Verletzbarkeit aufnimmt? Von unserem Verstörtsein. Unseren Momenten der Gottverlassenheit. Unserem Schmerz. Kann es sein, dass dieser Tag so wichtig ist, weil wir unsere Angst vor dem Tod und vor dem Leben zulassen können? Unsere Glaubenszweifel? Die Selbstzweifel allemal. Diese Ohnmacht auch, dass der tobenden Gewalt in der Welt keiner Einhalt gebietet. Dass es der Gekreuzigten heutzutage viel zu viele gibt?
Der Karfreitag ist einer der wenigen Zeiten und Räume in unserer Gesellschaft, an dem all das Leiden und all das Unrecht, das wir sehen oder auch selbst erleben, beklagt wird – und mehr noch: Würde erfährt. Karfreitag würdigt unsere Traurigkeit. Die Ohnmacht. Unsere Fassungslosigkeit. Karfreitag würdigt, dass wir oft so wenig verstehen und uns mit dem ruhelosen „Warum?“ herumschlagen. Warum verrät einer seinen besten Freund? Warum bloß wählen so viele ihre eigenen Zerstörer? Warum nur habe ich das getan? Warum musste dieses Kind so grausam sterben?
Karfreitag würdigt in all dem unsere Grenzsituationen im Leben – und er würdigt das Unfassbare im Sterben. Denn der Tod Jesu, jeder Tod sprengt die Wirklichkeit, die wir leben. Er verschlägt uns die Sprache. Jedes Sterben, das wir begleiten und betrauern, setzt außer Kraft, was unser Leben sonst bestimmt. Insbesondere, wenn es ein gewaltsamer Tod ist. Viele Bilder gehen mir - und sicherlich auch Ihnen - durch den Kopf. So viel Krieg und Gewalt beherrschen derzeit die Welt! In so vielen Ländern betrauern Familien einen geliebten Sohn, eine geliebte Tochter, ihre Partner, Mütter und Väter, die durch Drohnen und Bomben, durch Gewehrkugeln und Minen aus dem Leben gerissen werden. Oder in Gefängnissen sterben. Die Trauernden leben mitten unter uns. Ukrainerinnen, Russen, Israelis, Palästinenser, Sudanesinnen, Äthiopier, Iranerinnen, ehemalige belarussische politische Gefangene, Syrerinnen… Und dann all die Kinder, die durch Hunger und Durst umkommen oder die mit den Traumata des Krieges versuchen zu überleben. Und ich frage mich, um wieviel größer dieses Leid noch werden wird, wenn Kriege und Handelskriege und die hemmungslose Bereicherung einiger Weniger weiter die Weltpolitik bestimmen.
Aber auch dort, wo kein Krieg herrscht, ist der Tod oft nah. Hautnah. Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen - so richtig sich das sagt, es wirft einen in eine Ausnahmesituation. Der Tod bleibt eine unfassbare Zumutung - auf ihn kann man sich nicht vorbereiten. Er zerreißt den Lebensfaden des einen und das Herz der anderen. So stark ist der Schmerz. Doch eines lehrt uns das Leid oft gerade dann, wenn wir nicht damit rechnen: Stark wie der Tod, nein: stärker als der Tod ist die Liebe.
Ich bin sicher, sehr viele unter uns haben dies schon erlebt. Dass ein geliebter Mensch so viel an Segen, Freude und Schönheit gewirkt hat, dass er in uns ganz fest verankert bleibt, in Herz und Seele, und nie verloren geht. Liebe bleibt das Band, das uns hält. Sie ist wie eine Brücke zwischen den Lebenden und den Toten. Auch wenn der Verlust entsetzlich ist und uns untröstlich zurücklässt.
Und genauso stehen wir heute am Kreuz, liebe Geschwister. Wir alle. Neben Maria, neben Jesu Freunden, neben den Soldaten, neben all den Trauernden und Verzweifelten und Ohnmächtigen unserer Tage sehen wir einen Tod, der uns in je eigener Weise berührt. Und der uns die Sprache verschlägt. Es sind dies eben die stillen Tage. Und wir begreifen mit unseren Sinnen, dass Jesus sich hingegeben hat, für jede und jeden von uns. Aus Liebe zu uns Menschen. Nicht für irgendjemanden. Oder allein für die, denen es schlecht geht. Für jeden und jede hier im Michel. Er hat alles, was auch in unserem Leben zum Weinen ist, was uns verzweifeln und trauern lässt, was so himmelschreiend ungerecht und gewalttätig ist, was uns an Schuld belastet, all das hat er mit ans Kreuz genommen. Unser Fragen, unsere Momente der Gottverlassenheit, das Elende an der Grenze des Todes: Alles, alles, alles hat er mit ans Kreuz genommen.
So sehr hat Gott die Welt geliebt.
So eine Liebe.
Bis in den Tod.
Stärker als der Tod.
(Stille)
Und Jesus sprach: Mich dürstet… Und als er nun den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht! Und neigte das Haupt und verschied.
Die Welt steht still.
Und wir gehen anders, als wir gekommen sind.
Das Kreuz vor Augen, das zum Hoffnungsbaum werden will.
Denn was Jesus schon jetzt, in diesem Moment mit sich nimmt, ist unsere Last.
Er liebt uns unendlich.
Und wir sind erlöst.
Gott sei Dank.
Amen