Ihr seid ein Brief Christi
28. Juni 2015
4. Sonntag nach Trinitatis, Predigt zu 2. Kor 3, 2-6 anlässlich der Ordination 2015
Ein Brief Christi
Der Apostel Paulus schreibt an die Gemeinde zu Korinth: „Ihr seid unser Brief, in unser Herz geschrieben, erkannt und gelesen von allen Menschen! Ist doch offenbar geworden, dass ihr ein Brief Christi seid, durch unsern Dienst zubereitet, geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf steinerne Tafeln, sondern auf fleischerne Tafeln, nämlich eure Herzen.
Solches Vertrauen aber haben wir durch Christus zu Gott. Nicht dass wir tüchtig sind von uns selber, uns etwas zuzurechnen als von uns selber; sondern dass wir tüchtig sind, ist von Gott, der uns auch tüchtig gemacht hat zu Dienern des neuen Bundes, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.“ (2 Kor 3,2-6)
Liebe Gemeinde, lieber Pastorinnen und lieber Pastor,
„Ihr seid ein Brief Christi!“ Das ist ein gewaltiges Wort - und wenn wir es auf Ihren Auftrag als frisch Ordinierte beziehen, so lässt es Sie vielleicht erschrecken. Sie sind ein Brief Christi. In Ihrem Dienst liest die Gemeinde, was Christus ihr mitteilen will. Aber wenn wir etwas genauer hinschauen, sehen wir, dass der Apostel Paulus nicht nur ein besonderes Amt anredet – etwa das Pastorenamt – sondern alle Christen. Paulus nennt die christliche Gemeinde einen Brief Christi. Ist die ganze Gemeinde ein Brief Christi, dann doch auch der Kirchengemeinderat und alle anderen, die zur Gemeinde dazu gehören und Aufgaben an den unterschiedlichsten Stellen wahrnehmen.
Das heißt dann: Christus will durch die Christen in den Gemeinden seine Botschaft herüberbringen. Die Kirchengemeinden in Altefähr und Rambin, in Jarmen, in Altentreptow, in Völschow und Kartlow, in Greifswald und Kemnitz sind dazu da, dass alle Menschen in diesen Orten wissen, was Gott ihnen sagen will.
Fühlen wir uns da nicht überfordert? Fragen wir uns nicht, ob Paulus uns damit zuviel zumutet? Ich möchte anhand dieses Predigttextes an die Wichtigkeit des christlichen Auftrages erinnern, sodann fragen, was der Inhalt dieses Auftrages ist, und schließlich andeuten, wie diese große Aufgabe bewältigt werden kann.
1. Eine Entscheidung auf Leben und Tod
Der Horizont, vor dem Paulus seine Aussagen macht, ist ganz umfassend. Es geht um eine Entscheidung auf Leben und Tod. Wenige Verse vorher reißt er diesen Horizont auf, wenn er sich und seinen Auftrag, das Evangelium zu verkündigen, als „Wohlgeruch Christi“ bezeichnet: „…diesen ein Geruch des Todes zum Tode, jenen aber ein Geruch des Lebens zum Leben. Wer aber ist dazu tüchtig?“ (2 Kor 2,15-16)
Wir machen uns ja gar nicht klar, wie nahe Leben und Tod einander sind und welche Kluft sie dennoch trennt. Es geht dabei nicht nur um die Alternative „ewiges Leben - ewiger Tod“. (Allerdings geht es auch um diese Alternative.) Aber gerade weil ewiges Leben und ewiger Tod auf dem Spiel stehen, sind zeitliches Leben und zeitlicher Tod nicht gleichgültig, sondern erscheinen erst recht in der ihnen eigenen Wichtigkeit und auch Begrenzung.
Da uns der Zusammenhang zwischen ewigem und zeitlichem Leben verloren gegangen ist, schwanken wir hin und her zwischen Vitalismus und Lebensverachtung. Die Haltung: „Ich will Genuss sofort!“ liegt nicht fern von der anderen: „Leben - nein danke!“ Es gibt Menschen, bei denen schnell dann, wenn das volle Leben nicht mehr möglich ist, der Wunsch zur Selbsttötung sich einstellt. Ein Beispiel für diese Haltung des Entweder – Oder; entweder vollen Genuss oder gar keinen, hat ja etwa der Selbstmord von Gunter Sachs gegeben. Sachs war sein Leben lang bekannt als jemand, der sein Leben voll ausgekostet hat. Als die Kräfte, auch die geistigen Kräfte nachlassen, vermutet er – bei einem Arzt ist er nie gewesen – dass er unter Alzheimer leidet und erschießt sich. Entweder Playboy oder tot. Dazwischen gibt es offensichtlich für eine extrem auf Lebensbejahung getrimmte Gesellschaft keinen Mittelweg.
Erich Fromm hat diese - heute vielerorts anzutreffende - Tendenz, dass absolute Lebensbejahung in Lebensverachtung umschlägt, „Nekrophilie“ genannt, Liebe zum Tod. Übersteigerte Erwartung nach erfülltem Leben endet oft in selbstzerstörerischem Verhalten1. Wer alles von einem Leben diesseits der Todesgrenze erwartet, überfordert sich und räumt dem Tod eine Stellung ein, die diesem nicht gebührt. Dietrich Bonhoeffer spricht von dieser Lebenseinstellung als „Todesvergötzung“2. Der Mensch, der Gott verloren hat, vergöttert den Tod.
Doch auch Erfolg oder Reichtum können das Leben ersticken. Hier liegt in unserer Gesellschaft gewiss die größte Anfechtung. Die Werte, die zählen, sind materielle Werte und eine Technik auf der Höhe der Zeit. „In“ ist immer noch der neueste Autotyp, das neueste Smartphone und der Flachbildfernseher. Nur in „Esprit“, „Benetton“ oder „H u. M“ gekleidet, findet der Junge oder das Mädchen Zugang zu manchen Cliquen. Wobei einige dieser Textilket ten bereits alle sechs Wochen ihre Kollektion erneuern. Wer „in“ bleiben will, gerät in Konsumstress. Und der Gott des Konsumismus frisst seine Kinder. Konsum macht einsam, denn er richtet den Blick auf Sachen und lenkt ihn weg vom Menschen neben mir. Konsumismus fördert die Oberflächlichkeit.
Aber überzogene Lebenssteigerung bricht um in Lebensverneinung. Es gibt ein Sterben vor dem Tod. Wir stehen in unserem ganzen Leben vor der Entscheidung, ob wir jetzt das Leben oder den Tod wählen.
2. Ein Brief Christi
Wenn man vor diesem Horizont einer umfassenden Entscheidung von Paulus hört: „Ihr seid ein Brief Christi!“, so fragt man sich: Wird dann die Verantwortung, die auf uns liegt, nicht so groß, dass wir sie nicht mehr tragen können? Aber andererseits: Müssen wir uns den Schuh, den Paulus uns hinhält, überhaupt anziehen? „Ja – müssen wir!“ Denn was für die Gemeinde in Korinth galt, gilt durchaus auch für uns heute, wenn wir von der Verkündigung der guten Botschaft Gottes getroffen und in die Nachfolge Jesu gestellt sind. Durch die Taufe und mannigfach beschenkt Jesus uns mit seinem Geist. Wir haben eine Geschichte mit Gott, in der er uns sanft und sacht auf seinen Weg gebracht hat und immer wieder dorthin zurückbringen will. Gott hat an uns gewirkt und uns zu dem gemacht, was wir sind. Wir wären doch das, was wir sind, nicht ohne Gottes Führung!
Ich habe mich oft gefragt, warum Jesus, als er auf Erden lebte, nicht einen einzigen Satz aufgeschrieben hat, um ihn der Nachwelt zu überliefern. Das hätten wir doch gewiss anders gemacht. Wir hätten doch alles, was wir den Menschen mitteilen wollten, genau aufgeschrieben, damit auch nichts vergessen wird und jeder in allen Zweifelsfällen Bescheid weiß. Aber Jesus hat nichts aufgeschrieben, sondern alles nur mündlich verkündigt. So ist uns heute das, was Gott uns durch Christus mitteilen wollte, nur durch das Zeugnis der Gemeinde bekannt, die weiter erzählt hat, was sie von Jesus erfahren hatte. Deswegen kommen Missverständnisse auf, und über die Auslegung wird gestritten.
Trotzdem gibt es nicht nur Briefe der Apostel, sondern auch einen Brief Christi. Christus hat der Welt einen Brief geschrieben - und das sind wir, das ist die Gemeinde. Das umwerfend Neue ist: Dieser Brief ist aus Fleisch und Blut (vgl. Hes 36,26). Es ist ein Herzensbrief. Er ist uns in die Herzen geschrieben (vgl. Jer 31,33). Diese direkte Art der Mitteilung ist der indirekten durch das Wort überlegen - im Hinblick auf die Intensität, nicht im Blick auf die Deutlichkeit. Gott teilt mit, indem er uns das Herz abgewinnt. Die Verständigung von Herz zu Herz geht tiefer, als das bloße Wort zu dringen vermag.
Wir haben uns nicht selbst gemacht, sondern wir werden gebildet - von Gott, aber mit Hilfe anderer Menschen. Paulus sagt: „Ihr seid ein Brief Christi - durch unseren Dienst zubereitet -, geschrieben mit dem Geist des lebendigen Gottes“ (V.3) Nur als solche, die wir Gott und andere Menschen an uns wirken lassen, werden wir zu einem Brief Christi, zu einer Mitteilung Christi an alle Menschen.
Die Veränderung der Herzen übersteigt menschliche Möglichkeiten, ohne auf menschliche Mitwirkung zu verzichten. Diese Einsicht hilft, den Eindruck der Überforderung zu überwinden. Sie wirkt der Resignation entgegen. Wenn ich mich dem Geist des lebendigen Gottes öffne, bin ich ein „Brief Christi“. Ich bin es auch gerade mit meinem Unvermögen. Wenn ich auch hinter meinen selbstgesteckten Zielen zurückbleibe, dort, wo ich „Vertrauen durch Christus zu Gott“ (V.4) habe, bin ich ein Brief Christi. Mit unserer Unvollkommenheit, mit unserem Scheitern dürfen wir ein Brief Christi sein. „Meine Kraft ist in dem Schwachen mächtig!“, sagt Paulus über unser Bemühen (2. Kor.12, 3). Das ist ein ganz kühnes Bild, wenn Paulus die Gemeinde, uns, einen Brief von Christus für alle Menschen nennt. Sie kennen vielleicht das Bonmot: „Die Christen sind die einzige Bibel, die heute noch gelesen wird. Aber leider ist das eine schlechte Übersetzung.“
Ein Brief Christi sind wir allerdings nie allein, sondern immer nur als Glied der Gemeinde Jesu Christi. Liebe Geschwister, Sie werden heute zum Dienst an Wort und Sakrament ordiniert. Aber Sie stehen nicht allein. Rechts und links neben Ihnen stehen Schwestern und Brüder - mit dem gleichen Auftrag, im gleichen Geist, mit denselben Anfechtungen. Christus teilt sich mit, indem er von ihm geprägte Menschen mitten in diese Welt schickt. Mit ihrem Leben und ihrem Reden sind sie Überbringer der Christusbotschaft. Durch Sie wird der Wille Christi öffentlich. Denn dieser Brief Christi wird „gelesen von allen Menschen“ (V.2). Trotzdem bleibt die Bekundung des göttlichen Willens unsichtbar und nicht beweisbar, denn sie ist „geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes“ (V.3). Dieser Brief Christi ist ein persönliches Gespräch, das den ganzen Menschen mit einbezieht, aber innen, am Herzen (vgl. V.3) einsetzt. Die Befähigung zu solchem Dienst erlangt man nicht durch Studium und Ausbildung, nicht durch Zeugnisse und Dokumente, überhaupt nicht aus seinen eigenen Möglichkeiten, sondern nur durch Gott.
3. Gott schenkt Fähigkeiten
Die Antwort auf die Ausgangsfrage, wer denn zu einem solchen auf Tod und Leben entscheidenden Dienst fähig sei (2 Kor 2,16), kann nur lauten: Nur die, die der Geist Gottes dazu befähigt hat. „Nicht dass wir fähig sind von uns selber, sondern dass wir fähig sind, ist von Gott“ (2 Kor 3,5). Wenn Christus in diesen Tiefenschichten des Menschen ansetzt, die mit dem Stichwort des Herzens bezeichnet sind, dann hat er unbegrenzte Möglichkeiten, am Menschen zu wirken. Er kann Gaben und Fähigkeiten schenken, auf die Menschen keinen Einfluss haben.
Sie, liebe Schwestern und Sie lieber Bruder, sind durch Ihren Lebensweg schon vorbereitet worden auf Ihren Dienst als Pastorin oder Pastor. Sie haben erzählt, wie es bei Ihnen gewesen ist, bei jeder und jedem irgendwie anders. Aber Gott hatte seinen eigenen Weg, Sie auf den Weg des hauptamtlichen Dienstes zu ziehen.
Wer in unserer Zeit heute den Menschen von Gott erzählt, hat keine einfache Aufgabe gewählt. Gerade angesichts der schier unendlichen Herausforderung dürfen wir darauf vertrauen, dass Gottes guter Geist die Befähigung zum Dienst schenkt. „Solches Vertrauen aber haben wir durch Christus zu Gott“ (V.4). Dieses Vertrauen ist kein Selbstvertrauen, sondern Gottvertrauen. Es ist ein Vertrauen auf das Wirken des Geistes Gottes in uns.
Als Christen leben wir in einer Spannung: Wenn wir auf uns und unsere Möglichkeiten schauen, dann sehen wir unsere Schwächen und Grenzen und trauen uns kaum etwas zu. Wenn wir aber auf Gott schauen, dann sehen wir die Möglichkeiten Gottes und dürfen uns deswegen auch Großes zutrauen. - Im Jahre 1980 lernte ich die damals neunzigjährige Kaiserswerther Diakonisse Schwester Bertha Harz3 in Jerusalem kennen. Das Gespräch mit der alten Dame war immer anregend und zugleich eine anschauliche Darstellung der Geschichte des Nahen Ostens vom Osmanischen Reich bis heute. Seit 1910 (!) lebte Sr. Bertha - mit kleineren Unterbrechungen - im Orient und leitete jahrzehntelang die Evangelische Mädchenschule Talita Kumi - durch fünf Kriege hindurch und in schweren Zeiten. Als ich sie einmal fragte, woher sie die Kraft gewonnen habe, dreimal mit ihrer Schule wieder am Nullpunkt anzufangen, antwortete sie: „Es gab für mich nichts, was ich nicht konnte.“ Ich ertappte mich bei dem Gedanken, ob sie wohl senil sei. Aber sie fuhr fort: „Denn Gott kann ja alles.“ Und ich verstand, dass sie mir nicht von ihrer Selbstsicherheit, sondern von ihrer Gottesgewissheit erzählen wollte.
Dagegen sind wir doch manchmal feige und mutlose Leute. Angesichts festgefahrener Situationen, angesichts der kleiner gewordenen Zahl von Christen fehlt uns so ein überzeugtes: „Gott kann ja alles!“ Er kann in der Tat aus jeder Sackgasse herausführen und uns Fähigkeiten zuwachsen lassen, die wir uns selbst niemals zugetraut hätten. Aber wir haben diese Kraft nicht aus uns selbst (vgl. V.5). Nur als die in gemeinsamer Schwachheit Stehenden bleiben wir vor Misstrauen bewahrt und vor Menschen glaubwürdig.
Entscheidend ist darum, dass Sie nicht als perfekter Mensch erscheinen wollen, sondern als einer, der zu seiner Schwachheit steht, sie vor Gott bringt und von ihm neue Kraft schöpft. Diese Ermutigung will Gott durch seinen Geist gern geben. Der Geist Gottes macht lebendig. Jesus Christus ist von den Toten auferstanden und hat damit ein völlig neues Leben ermöglicht. Die zarten Anfänge dürfen wir hier schon erleben - auch Sie in Ihrem Dienst – jeden Tag. So sind Sie ein Brief Christi.
Amen.
1 Vgl. E. Fromm, Anatomie der menschlichen Destruktivität, Stuttgart 1974, S. 299-334.
2 Vgl. D. Bonhoeffer, Ethik, hg. v. E. Bethge, München 81975, S. 83ff.
3 Sie starb am 17.10.82 in Talita Kumi bei Bethlehem. Zu Sr. Bertha vgl. S. Hanselmann, Deutsche Evangelische Palästinamission. Handbuch ihrer Motive, Geschichte und Ergebnisse, Erlangen 1971, S. 144, und Evangelische Gemeinde Jerusalem, Gemeindebrief 11/12(1982)-1(1983), S. 24-29.