Im Trost liegt die Zärtlichkeit Gottes
01. Januar 2016
Neujahrspredigt zur Jahreslosung „Gott spricht: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ (Jesaja 66, 13)
Liebe Gemeinde!
„Ein Mensch braucht Trost. Der Säugling, schreiend in seiner Wiege – der Greis, im Sterben eine liebe Hand umklammernd: der zur Welt kommt und der aus dem Leben geht, beide brauchen Trost. Anfang und Ende lassen ahnen, dass das Trostbrauchen zum Menschsein überhaupt gehört.“[1] Der Mensch muss getröstet werden. Zum Menschsein gehört das Angewiesen-Sein auf Trost hinzu. Wir sind von Gott so geschaffen, dass wir auf einen anderen Menschen hin angelegt sind. Als Mann oder als Frau suchen wir jeweils ein anderes Wesen, das uns ergänzt. Im Bedürfnis nach Trost und damit in Bezug auf ein Du sind wir Gottes Ebenbild. Ein Mensch, der ohne Trost leben könnte, könnte nicht lieben und bräuchte keine Liebe. Trost zeigt uns als ein Beziehungswesen.
Dabei kommt das Wort Trost in der Umgangssprache nicht gut weg. Wir gebrauchen es eher mit einem leicht abwertenden Sinn: „Der ist ja wohl nicht ganz bei Trost!“, so sagen wir, wenn jemand den Boden der Wirklichkeit verlassen hat. Ein Traumtänzer, einer der Wunsch und Wirklichkeit durcheinander bringt, der ist „nicht ganz bei Trost“. Orte und Situationen ohne etwas Schönes bezeichnen wir als „trostlos“. Ein „Trostpflaster“ ist nicht dazu da, wirklich zur Heilung beizutragen, sondern mit einem kleinen Geschenk über den Schmerz hinwegzutäuschen. [2]
Aber zu Unrecht ist der Trost sprachlich anrüchig geworden. Das Wort Trost kommt ursprünglich aus einer indogermanischen Wortgruppe und bedeutet „innere Festigkeit“. Dahinter steckt die Erfahrung, dass wir diese innere Festigkeit nicht aus uns selber bekommen, sondern im Miteinander erst gewinnen.
Um das Leben zu meistern, brauchen wir eine innere Festigkeit. Denn das Leben ist nicht perfekt. Es ist nur begrenzt planbar, hat Risse, Brüche und Verwerfungen. Die äußere Festigkeit zerbröselt im Laufe eines Lebens dann und wann. Um trotzdem durchzukommen, brauchen wir eine innere Stärke. Diese innere Stärke bekommen wir nicht, wenn wir uns wie Münchhausen selbst aus dem Sumpf ziehen, sondern indem wir einen oder eine Andere(n) haben, die uns mit ihrer Zuwendung zu uns stärken.
Wie man an und mit Gott stark werden kann, zeigt Johann Sebastian Bach in seiner Musik und den geistlichen Texten der von ihm ausgewählten Liederdichter. Ein besonders schönes Beispiel gibt uns die Kantate IV des Weihnachtsoratoriums, die wir gerade gehört haben. In den ineinander verschlungenen Teilen der beiden Rezitative und Arien wird schon durch die äußere Form zum Ausdruck gebracht, dass eins alleine nicht genügt. Erst im Miteinander von verschiedenen Stimmen wird die vollendete Form erreicht.
Unser Leben ist nicht in sich perfekt. Wir brauchen das DU, das kleine Du unserer Mitmenschen und das große DU Gottes, wie es in Jesus Christus für uns fassbar geworden ist. Wir sind auf Jesus Christus hin geschaffen. So singt der Sopran: „Jesu, du mein liebstes Leben, meiner Seelen Bräutigam, der du dich vor mich gegeben, an des bittern Kreuzes Stamm.“(38) In Austausch mit und in Ergänzung der eigenen Seele macht Jesus das Ich stark, vermittelt er seinen Trost. Und so heißt es im Stück Nummer 40:
„Jesu, meine Freud und Wonne,
meine Hoffnung, Schatz und Teil,
mein Erlösung, Schmuck und Heil,
Hirt und König, Licht und Sonne,
ach, wie soll ich würdiglich,
mein Herr Jesu, preisen dich?“
Folgt man Bach und seinem unbekannten Textdichter, so geht es im Gottesglauben nicht um einen allgemeinen Glauben, nicht allein um das Gefühl der Geborgenheit in einer unsicheren Welt, sondern um mehr. Es geht um eine persönliche Beziehung zu Jesus Christus. Häufig spricht das Weihnachtsoratorium von „meinem Jesus“. Dieses Gefühl der Geborgenheit in einer unbehausten Welt verschafft Stärke. Sie gibt Heimat, wo es kein Zuhause mehr zu geben scheint.
Jesus ist „Hort“, ein Ort, an dem ich beschützt bin. Es geschieht etwas Unvergleichliches. Der, der über allem steht, der der Herr der Welt ist, hat sich ganz herabgelassen zu mir, steht mir bei, hat sich auf mein Niveau begeben. Jesus hat sich so tief herabgelassen, dass er sich sogar von Menschen abhängig gemacht hat: „Mein Jesus hat sich mir ergeben“. Er hat dies getan, um mir einen Raum der Freiheit zu eröffnen. Wenn mir Jesus vor Augen steht, dann kann ich freudig durchatmen, dann empfinde ich höchstes Glück, Momente der stärksten Freude. Bach spricht von „Lust“.
Er fährt fort: „Mein Jesus labet Herz und Brust“. Dabei muss ich daran denken, wie meine Mutter mir als Kind bei einer schweren Erkältung nach einem belebenden Bad mit einer mentholhaltigen Creme die Brust einrieb und ich danach wieder frei durchatmen konnte. Gott lässt uns wieder frei durchatmen. So sinnlich und so wohltuend ist die Beziehung zu Jesus Christus nach dem Weihnachtsoratorium. Jesu Trost, von dem wir in vielen Geschichten der Bibel erfahren, richtet Menschen auf, nährt sie und gibt ihnen neue Kraft.
Die Jahreslosung 2016 gebraucht für diese Art der Liebe, einzigartig in der Bibel, als Vergleich die Mutterliebe. Kennen wir sonst Gott als Vater, so wird hier die Besonderheit der Liebe Gottes in seiner mütterlichen Zärtlichkeit gesehen.
„Gott spricht: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet“. Was für ein intimes Bild, was für eine großartige Verheißung! Das ist kein Trost, der über den Kummer hinweg zu positivem Denken ermahnt, keiner, der reales Elend kleinredet. Vor 2500 Jahren hat ein Prophet diese Gottesworte in eine trostlose Situation hineingesprochen: die Juden hausten in Trümmern, die Babylonier hatten die Stadt mitsamt ihrem Tempel bis auf die Grundmauern zerstört. Tausende Menschen waren vertrieben worden und kehrten nach fast 60 Jahren aus dem babylonischen Exil zurück in eine fremd gewordene Heimat. Terror, Krieg, Vertreibung, die Zerstörung unschätzbarer Kulturgüter: Wir kennen Ähnliches aus den Erzählungen unserer Großmütter und Großväter und aus den Berichten der Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak. Und in diese Situation hinein sagt der Prophet: Gott weiß um deine Not und nimmt sie so sehr ernst, wie eine Mutter beinahe körperlich den Kummer ihres Kindes spürt.
Jeder kann sich an Situationen erinnern, wo er getröstet werden musste. Vielleicht hat sich am stärksten der Moment aus unserer Kindheit eingeprägt, als wir gefallen sind, es unendlich wehtat und die Mutter uns in den Arm nahm, uns hin und her wiegte, die Schürfwunden leicht anblies und dabei sagte: „Es wird ja alles wieder gut!“ So tröstet eine Mutter.
Ich erinnere mich im Blick auf unsere Kinder an einen besonderen Trost, den nur eine Mutter geben kann. Wenn ein Säugling Hunger hatte, dann schrie er. Anfangs konnte man ihn noch ablenken. Auch ich als Vater konnte mit ihm sprechen, ihm etwas zeigen, ja sogar an meinem Finger lutschen lassen. Das half. Doch je stärker der Hunger wurde, desto schriller wurde das Schreien. Am Ende war das ganze Kind, rot angelaufen, ein schreckliches Geschrei. Nichts konnte dann mehr das Schreien stillen. Nur eines half: Wenn die Mutter kam und das Baby an der Brust anlegte. Eine Mutter kann trösten wie niemand anderer.
So verstehen wir die Jahreslosung für 2016: „Gott spricht: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet“ (Jesaja 66,13). Eine Mutter weiß, was dem Kind wirklich fehlt. Eine Mutter möchte für ihr Kind das Beste.
Um Gottes Handeln an uns Menschen zu umschreiben, reichen deswegen die geläufigen, eher männlich bestimmten Eigenschaften Gottes nicht aus. Gott ist nicht nur machtvoll und bestimmend. Als Herr der Welt ist er das auch, und zu seinem Wesen gehören Allmacht und Gerechtigkeit. Das erwartet man von Gott. Dass Gott auch zärtlich und tröstend ist, ist überraschend.
Doch der Gott, der sich auf den Weg zu seinen Geschöpfen gemacht hat, der selbst ein Kind geworden ist, der gelitten hat, der hat auch Mitleid und Erbarmen. Jesus hat uns die Zärtlichkeit Gottes gezeigt. Seine Mutter Maria ist ein Beispiel für die liebevolle Art Gottes. Diese mütterliche Seite Gottes haben wir in den letzten Jahrhunderten eher übersehen.
Gott tröstet, wie eine Mutter tröstet. Wunderbar – aber kommen nicht sofort Einwände? Was ist mit den Menschen, die weder von ihrem Vater noch von ihrer Mutter Trost und Geborgenheit erfahren haben? Können die diesen Zug an Gott überhaupt verstehen? Gibt es nicht Menschen, denen ihr Schicksal ein positives Gottesverhältnis verstellt? Ja, manche Menschen haben es schwerer, zu Gott zu finden als andere. Aber es ist gut, dass Gott überhaupt ist.
Manche seiner Züge lassen sich besser verstehen, wenn wir auf männliche Sprachspiele verweisen, manche besser, wenn wir weibliche Vergleiche benutzen. Gott selbst ist aber nicht Mann oder Frau. Er ist beides und noch mehr. Gott steht über der Geschlechterpolarität. Und darum ist Hoffnung auch für alle, die vielleicht mit ihren weltlichen Vätern oder Müttern schlechte Erfahrungen gemacht haben. Gott tröstet alle, die Trost von ihm erwarten. Selbst diejenigen, die anderen Trost haben entbehren müssen. Trotzdem wird die Art des Trostes Gottes nirgendwo so anschaulich, wie im Trost einer liebenden Mutter.
Und was ist mit den Menschen, die offensichtlich Gottes Trost nicht erfahren, wie – ich nenne ein aktuelles Beispiel – die über 3000 Christen im Irak aus den 35 Dörfern am Ufer des Flusses Chabur, die am 23. Februar 2015 von Kämpfern des sogenannten IS überfallen wurden und die heute entweder tot oder vertrieben sind? Seit beinahe 2000 Jahren lebten ihre Vorfahren in dieser Gegend. Und nun ist die Welt Zeuge des an ihnen geschehenen Unrechts und tut nichts. Gilt für sie die Jahreslosung 2016 nicht? Wo bleibt der mütterliche Trost Gottes?
Trost heißt nicht, dass wir Anspruch darauf hätten, dass alles so bleibt, wie es ist. Das Unglück geschieht. Und – es ist wahr – die Weltgemeinschaft hat zugeschaut. Aber es gibt doch Hoffnung. Viele der als Geisel Genommenen sind frei gekommen. Die Mehrheit lebt nun in Übersee, auch in Deutschland, ja sogar hier in Greifswald ist mir einer bekannt. Es gibt für viele Einzelne eine Zukunft. Was wir nicht wissen, wofür wir aber beten können, ist, dass diese orientalischen Christen auch in ihrer Heimat wieder eine Zukunft bekommen. Es geht nicht alles glatt, aber Gott tröstet.
Weil auch im Jahr 2016 nicht alles glatt gehen wird, werden wir Gottes Trost brauchen. Vielleicht weil ein Mensch stirbt oder eine Beziehung zerbricht, vielleicht weil ein Unglück geschieht oder ein Traum zerplatzt. Es lohnt sich auch 2016 mit Gott zu leben. Er schenkt Orientierung für den Weg in die Zukunft und Trost angesichts des unvermeidlichen Elends. Gott tröstet eben, wie einen seine Mutter tröstet. Amen.
[1] Rudolf Bohren, Trost. Predigten, Neukirchen-Vluyn, 1981, 11.