Interreiligiöse Andacht zum Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“
13. Januar 2021
Liebe interreligiöse Gemeinde,
ich freue mich sehr, heute hier sein zu können. Wir könnten das Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ nicht besser eröffnen als mit einer interreligiösen Andacht. Solche Andachten haben hier in Rostock eine gute Tradition. Oft sind wir zusammengekommen, nicht selten im Vorfeld von rechten Aufmärschen. Wir haben gezeigt und wir zeigen heute: Wir gehören als Religionsgemeinschaften dieser Stadt und in diesem Land zusammen. Wir lassen uns nicht auseinander dividieren. Besonders sind wir eins im Einsatz für die Menschenwürde, Frieden und Gerechtigkeit.
Dieses Jahr feiern wir die Mutter unserer monotheistischen Religionen, das Judentum. Das Judentum hat uns Christinnen und Christen und auch die Musliminnen und Muslime gelehrt, dass Glaube und religiöses Leben auf einer Heiligen Schrift basiert. Unsere Religionen sind allesamt Schrift-Religionen mit Bibel oder Koran als grundlegenden Fundamenten.
Das Judentum hat dafür ein wunderbares Fest: Simchat Tora, das Tora-Freudenfest. An diesem Tag wird die Schrift gefeiert, die Torarolle geht von Hand zu Hand, sie wird geküsst, alle tanzen und sind ausgelassen. Das Wort Gottes, geschrieben im menschlichen Wort, ist der größte Glaubensschatz. Und die Tora ist ein solch großer Schatz, dass sie nicht genug meditiert werden kann. In einem Jahr wird sie in den Synagogengottesdiensten komplett durchgelesen, jeden Schabbat eine Perascha, einen bestimmten Abschnitt. Und an Simchat Tora sogar zwei: zunächst den letzten aus dem 5. Buch Mose; dann wird die Rolle wieder feierlich zurückgerollt auf Anfang und es geht wieder von vorn los, buchstäblich, mit Beräschit, „Im Anfang“, dem ersten Abschnitt aus dem Buch Genesis.
Gemeinsam sind wir Schriftreligionen überzeugt: Wir können Gott am ehesten erkennen, wir können ihm am unmittelbarsten begegnen in den Worten der Heiligen Schrift. Wie die Toralesung der Höhepunkt des Synagogengottesdienstes ist, so die Evangeliumslesung im christlichen Gottesdienst und die Koranrezitation im muslimischen Freitagsgebet. Unser Glauben, unser Beten, ja unser ganzes Leben, ist inspiriert und bestimmt von den Worten aus Bibel oder Koran.
Die Perascha, der Toraabschnitt für diese Woche, ist „Schmot“, „Namen“. Die biblischen Bücher heißen im Judentum nach ihrem ersten Wort, und das Buch Exodus, das zweite Buch Mose, beginnt mit dem Wort „Schmot“, nämlich den Namen der Söhne Jaakovs, die in Ägypten im Exil waren. Auch die Perascha dieser Woche beginnt also mit diesem Wort. Und dieser Torawochenabschnitt enthält die wunderbare Offenbarung Gottes an Mosche, Mose, beim brennenden Dornbusch. Gott beruft Mosche, die Israeliten aus dem Exil in die Freiheit zu führen, in das gelobte Land, in dem Milch und Honig fließen.
Das ist so etwas wie die Urbotschaft der Bibel. Gott führt uns Menschen aus unseren Gefangenschaften heraus in die Freiheit. Dieser lange und beschwerliche Wüstenweg endet in einem fruchtbaren Land, in dem alle in Frieden und Wohlstand leben dürfen.
1700 Jahre jüdische Geschichte in Deutschland erzählen, wie sehr Jüdinnen und Juden deutsche Kultur geprägt haben, Musik, Literatur, Kunst und Wissenschaft. Sie erzählen aber auch von ungezügelter Judenfeindschaft in unserem Land, antisemitischer Ausgrenzung und Verfolgung bis hin zur Vernichtung in der Schoa.
Heute sind wir hier, um zu sagen: Jüdisches Leben ist integraler Bestandteil nicht nur unserer deutschen Geschichte, sondern unserer gelebten Gegenwart. Wir sind dankbar für unsere jüdischen Gemeinden in Schwerin/Wismar und Rostock, für die jüdischen Kulturtage hier in Rostock, für das Wirken von Rabbi Wolff, der vergangenes Jahr verstorben ist, von Landesrabbiner Kadnykov und allen Jüdinnen und Juden, die unter uns leben. Als Christ möchte ich Euch nicht nur weiter begegnen, sondern weiter von Euch lernen: von Eurer Hochschätzung der Tora, von Eurer Diskussionsfreude über die Schrift, von Eurer treuen Befolgung der Gebote, von Eurer Liebe zum Ewigen.
Möge er Euch stärken, möge er unser Festjahr segnen und allen Kraft geben, die sich für den Frieden einsetzen!