Kapitulation vor der Kraft der Liebe
03. Oktober 2015
Ökumenischer Gottesdienst am 25. Jahrestag der Deutschen Einheit, Predigttext: Der barmherzige Samariter (Lk 10, 25 - 37)
Liebe Gemeinde,
jahrhundertelang waren die Christen die Diakone und Samariter der Gesellschaft. Sie haben Wunden verbunden, Kranke besucht, Gefangenen beigestanden und Armen geholfen. Sie sind dem Beispiel des Barmherzigen Samariters gefolgt, haben sich Menschen in Not zugewandt, die vor ihren Füßen lagen. Die mit Christus gewonnene und erfahrene Freiheit zur Liebe haben sie gelebt – ganz praktisch.
Auch jetzt wieder helfen Kirchengemeinden und viele andere Menschen guten Willens denen, die unter die Räuber gefallen sind. Flüchtlingen aus Syrien, Irak, Afghanistan und anderen Ländern, die nach oft schrecklicher Odyssee unser Land erreichen.
Ich habe zunächst Schwierigkeiten gehabt, diese Geschichte vom Barmherzigen Samariter mit dem Gedenken an die Wiedervereinigung zusammenzubringen: wer ist da eigentlich wer? Wer ist unter die Räder gekommen, wer der Samariter!? Man hätte sich damals zu Recht gewehrt, wenn man als Bild für das Zusammenkommen ausgerechnet das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter gewählt hätte!
Aber nun kann diese Geschichte stehen für eine große gemeinsame Herausforderung derer, die Freiheit geschenkt bekommen haben und zusammengekommen sind, zusammenwachsen immer noch. 25 Jahre Deutsche Einheit: Staunen und Dank für diese erkämpfte und geschenkte, bewährte Einheit der Verschiedenen drücken wir aus vor dem Hintergrund der Ereignisse, die uns seit Wochen beschäftigen. Die schier unübersehbare Menge an Menschen, die aus ihren Heimatländern vor Gewalt und Zerstörung, Bürgerkrieg und Terror, Hunger und drohendem Elend fliehen und bei uns Schutz und Schirm suchen. Und es ist jetzt dieses vereinigte Deutschland, das mitten in Europa vor dieser Herkulesaufgabe steht, Menschen in Not zu helfen, ihnen ein Dach über dem Kopf zu gewähren und viele von ihnen zu integrieren.
25 Jahre ist es her, dass Menschen in Scharen die damalige DDR verließen, um Freiheit zu suchen. Auch damals spielte Ungarn eine Rolle, eine deutlich andere, Gott sei Dank, als heute.
In der DDR boten Kirchengemeinden und kirchliche Einrichtungen Raum für Einzelne und Gruppen, die nicht der herrschenden Ideologie entsprachen, aber bleiben wollten. Kirchen und ihre Gemeinden waren, was sie sein müssen und wozu sie gerufen sind: Spielräume der Freiheit.
Auch in der friedlichen Revolution wirkte viel spontane Kraft. Gesammelt in Gottesdiensten. Danach ging es nach draußen. „Fürchtet euch nicht“!
Hier zeigten Christen aber noch eine andere Qualität: Die Fähigkeit, große gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen und mitzugestalten. Eine Qualität, die auch beim Barmherzigen Samariter durchscheint: in seinem Weitblick, seinem nachhaltigen Handeln. Nachdem er den unter die Räuber gefallenen, halbtot geschlagenen Menschen in die Herberge gebracht hat, ist für ihn seine Aufgabe noch keineswegs beendet. Dem Wirt gibt er Geld, damit der Verletzte genesen kann. Keineswegs nur: verbinden der Wunden. Dieser Mensch soll neu anfangen können. Auf die Beine kommen.
So fängt er an, Gedanken der strukturellen Nächstenliebe zu entwickeln. Genauso wie wir 1989, 1990 und heute wieder: Wie können sich Ost und West auf Augenhöhe begegnen, einander wertschätzen nicht trotz, sondern wegen der Unterschiede? Wir in der Nordkirche versuchen es. Wie können wir Zehntausende von Flüchtlingen integrieren?
Sollen Christen dem Einzelnen helfen oder Strukturen verändern? Sollen sie die politische Großwetterlage beeinflussen oder Regenschirme an die Unbehausten verteilen? Nächstenliebe: das ist ein starker Impuls, in der Nachfolge Jesu dem Einzelnen zu helfen und an einer Gesellschaft mitzubauen, in der alle dazugehören. Denn das ist doch das Evangelium, die gute Botschaft, die wir gemeinsam weiterzusagen haben, über alle Konfessionsgrenzen hinweg: der, der alles Leben geschaffen hat, der das Leben will, der will, dass alle teilhaben an der Fülle, die er schafft – der ist mit uns, der lädt uns ein, zu ihm zu kommen, dass wir uns erquicken lassen von seinem Wort, ermutigen lassen: „Fürchtet euch nicht! Denn siehe, ich bin bei euch alle Tage, bis an das Ende der Welt!“
Die deutsche Einheit ist mit einem Wunder verbunden: der friedlichen Revolution. Ein bis an die Zähne bewaffneter Staat schaut in die Gesichter von Menschen, die ihm brennende Kerzen entgegenhalten und singen. Da kapituliert er. Vor der Kraft der Liebe, die nicht nach dem Echogesetz handelt, die nicht dem „Wie du mir, so ich Dir“ folgt.
Freiheitssehnsucht, Festhalten an der Verheißung, Entdeckung der eigenen Stärke im Angesicht der Macht der Mächtigen, Entdeckung der Power: das hat die Menschen bewegt und ermutigt, loszugehen. Das hat die Mauer durchlässig gemacht. Grundlage der staatlichen Einheit ist die Einheit der Sehnsüchtigen, der Wütenden, der Aufstehenden, die glauben, dass nichts bleiben muss, wie es ist. Damals nicht. Und heute auch nicht. Grundlage ist die Einheit im Glauben an Gerechtigkeit und Freiheit. Dafür können wir dankbar sein. Die Einheit zu gestalten hat von vielen viel gefordert, aber auch Vielen viel Gutes gegeben. Es ist unsere Aufgabe, sie weiter zu gestalten. Weiter an den Strukturen der Freiheit zu bauen, die eng verbunden sind mit sozialer Gerechtigkeit. Und die es nicht gibt ohne Verantwortung füreinander. Und die Menschen, die Einzelnen, dabei zu begleiten, gerade auch die, die noch heute an erlittenem Unrecht leiden und die sich unbehaust fühlen durch die und in der Einheit, die nicht eingelöst finden in diesem Deutschland ihre Visionen.
Mit der deutschen Einheit ist auch das Ende des Kalten Krieges verbunden. Und damit die Gefahr eines gigantischen Krieges. Europa schien zum Kontinent des Friedens zu werden. Dass der Krieg mittlerweile wieder zurückkehren konnte nach Europa, ist eine Niederlage für uns alle. Wir müssen uns stärker einsetzen für Strategien friedlicher Konfliktbewältigung, für Konfliktprävention, Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe. Was der Export von Kriegswaffen in Krisengebiete bedeutet – das sagen uns die Flüchtlinge, die bei uns Schutz und Zukunft suchen. Und der nicht abreißende Strom von Menschen, die um ihr Leben fliehen, erzählt eben auch vom Scheitern der Weltgemeinschaft, Frieden zu schaffen und endlich anzufangen aufzuhören mit dem verrückten Kriegsgeschehen.
Der Barmherzige Samariter half einem, der unter die Räuber gefallen war und halbtot geschlagen wurde. Heute sind in Syrien und anderen Ländern ganze Regionen unter die Räuber gefallen, werden halbtot geschlagen oder gleich umgebracht. Ihnen gehört unsere Solidarität, unsere spontane und strategische Hilfe. Lasst uns fortsetzen, was wir 1989 anfingen: Freiheit und Frieden für alle.
Ich bin dankbar für die Vielen in Kirchengemeinden und zivilgesellschaftlichen Initiativen, die ihre Herzen und Türen öffnen für die Flüchtlinge. In den letzten Wochen habe wir immer wieder Mut machende Bilder von Willkommenskultur bei uns gesehen: Europäische Werte, gelebt als Kultur der Offenheit, nicht als Ideologie der Abschottung. Ich bin dankbar für alle, die teilen mit denen, die verzweifelt sind und nicht wissen, wohin; die nicht fragen nach sicheren Herkunftsländern, sondern sehen die Not.
Ich bin der Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern und den Kommunen hier dankbar, dass sie sich entschlossen der großen Herausforderung stellen, die Flüchtlinge zu integrieren. Ich bin unserer Bundesregierung dankbar, dass sie einen umfangreichen Maßnahmenkatalog beschlossen hat. Und dankbar bin ich für die Vielen in Wirtschaft, Politik und Behörden, die Visionen entwickeln.
Das ist eine Herausforderung an uns und eine Bewährungsprobe für die Einheit obendrein: schaffen wir es, eins zu sein angesichts der Vielen, angesichts auch der Sorgen, an die eigenen Grenzen zu gelangen? Die Vielen und Verschiedenen nicht zu fürchten, sondern als Bereicherung zu sehen des Zusammenwachsens?
Und: es ist jetzt das Vereinigte Deutschland, das Sehnsuchtsziel so vieler ist! Seit 25 Jahren gemeinsam die Verschiedenen – mit den verschiedenen Geschichten beieinander, bereichert, nicht ärmer geworden.
Die zu uns kommen – sie werden dieses Land verändern. Sie werden uns verändern. Wir werden aufstehen und mitgehen müssen und dürfen. Es kann unser Aufbruch werden. Menschen aus Asien und Afrika stehen an den Grenzen zu unserem Land. Wir schauen noch etwas ängstlich nach draußen, sie schauen voll Hoffnung zu uns herein. Und wir können auf die Verheißung trauen: es ist genug für alle da. Wachteln und Manna: es gibt sie auch bei uns.
Das gemeinsame Deutschland, in das Gott uns führen will, ist voll von Möglichkeiten, von Chancen und auch von Risiken. Von Perspektiven, die wir ergreifen können. Und wir sind nicht allein unterwegs. Da ist sein Versprechen: Ich bin bei euch. Ich lasse euch nicht. Der, der lebt, ist mit uns. Sichtbar. Spürbar. In jedem Menschen, der von ihm bewegt ist. In jeder Tat des Willkommens. In jedem Wort des Trostes. In jedem Projekt, das Ost und West enger verbindet. Darum können wir uns getrost, klug und mutig weiter auf den Weg machen.
Amen.