Landnahme der Liebe
17. Januar 2019
1. Sonntag nach Epiphanias 2019, Josua 3, 5 – 11.17
Liebe Dom-Gemeinde,
I
„Kommen Sie gut hinüber!“ – So lauten manche guten Wünsche, die ich höre an der Schwelle des Neuen Jahres, in dem mit dem Ruhestand ein neuer Lebensabschnitt auf mich wartet. Und ich dachte schon, ich wäre hindurch…
Noch liegt das neue Jahr vor uns wie unbekanntes Land. Wie kommen wir hindurch durch unsere geschenkte Zeit; wie wird der Wunsch nach Segen sich entfalten?
Der Predigttext für heute steht im Buch Josua im 3. Kapitel:
„Und Josua sprach zum Volk: Heiligt euch, denn morgen wird der HERR Wunder unter euch tun. Und Josua sprach zu den Priestern: Hebt die Bundeslade auf und geht vor dem Volk her! Da hoben sie die Bundeslade auf und gingen vor dem Volk her.
Und der HERR sprach zu Josua: Heute will ich anfangen, dich groß zu machen vor ganz Israel, damit sie wissen: Wie ich mit Mose gewesen bin, so werde ich auch mit dir sein. Und du gebiete den Priestern, die die Bundeslade tragen, und sprich: Wenn ihr an das Wasser des Jordans herankommt, so bleibt im Jordan stehen. Und Josua sprach zu den Israeliten: Herzu! Hört die Worte des HERRN, eures Gottes! Daran sollt ihr merken, dass ein lebendiger Gott unter euch ist und dass er vor euch vertreiben wird die Kanaaniter, Hetiter, Hiwiter, Perisiter, Girgaschiter, Amoriter und Jebusiter: Siehe, die Lade des Bundes des Herrn der ganzen Erde wird vor euch hergehen in den Jordan. So nehmt nun zwölf Männer aus den Stämmen Israels, aus jedem Stamm einen. Wenn dann die Fußsohlen der Priester, die die Lade des HERRN, des Herrn der ganzen Erde, tragen, in dem Wasser des Jordans stillstehen, so wird das Wasser des Jordans, das von oben herabfließt, nicht weiterlaufen, sondern stehen bleiben wie ein einziger Wall. Als nun das Volk aus seinen Zelten auszog, um durch den Jordan zu gehen, und die Priester die Bundeslade vor dem Volk hertrugen, und als die Träger der Lade an den Jordan kamen und die Füße der Priester, die die Lade trugen, ins Wasser tauchten – der Jordan aber war die ganze Zeit der Ernte über alle seine Ufer getreten –,da stand das Wasser, das von oben herniederkam, aufgerichtet wie ein einziger Wall, sehr fern, bei der Stadt Adam, die zur Seite von Zaretan liegt; aber das Wasser, das zum Meer der Araba hinunterlief, zum Salzmeer, das nahm ab und floss ganz weg. So ging das Volk hindurch gegenüber von Jericho. Und die Priester, die die Lade des Bundes des HERRN trugen, standen still im Trockenen mitten im Jordan. Und ganz Israel ging auf trockenem Boden hindurch, bis das ganze Volk über den Jordan gekommen war.“
II
Also, das habe ich mir oft gewünscht in den letzten Jahren als Leitender Geistlicher in unserer Kirche, dass es mir gegangen wäre, wie Josua: dass ich etwas ansage, und das Volk tut’s!
Aber im Ernst: Josua erinnert an Israels Zug durch das Schilfmeer. Eine dramatische Geschichte, die in unserem heutigen Predigttext äußerst moderat kopiert worden sein könnte. Erzählt von denen, die im 7. Jahrhundert vor Christus vertrieben worden waren und im Exil in Babylon saßen, in der Fremde, fern von ihrem Gott; die am Glauben irre zu werden drohten: sie erinnern sich an den Exodus, an Gottes Führung und Verheißung. Er lässt die Seinen nicht!
Ja: Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung, das weiß das Volk Israel. Und wir wissen: diese Geschichte des Exodus ist grundlegend für die Identität des Volkes Israel und immer wieder auch Resonanzboden für Konflikte, politische Auseinandersetzungen bis heute.
Zugleich ist dieses Bild der Exodus-Gemeinde, derer, die ausziehen aus der Sklaverei und die Freiheit suchen; die hoffen und zweifeln, nach vorn gehen und sich zurücksehnen: zugleich ist dieses ein Bild für den Weg des Lebens selbst, für die Biografie eines jeden Menschen. Wir sind auf dem Weg, oft durch Wüstenstrecken. Und wir sind angewiesen darauf, dass wir gut geleitet, geführt, behütet sind. Und wir schauen auf das, was über den Jordan geht, den Bach hinunter vielleicht auch; was gut ans Ziel kommt, was auch nicht. Das wandernde Gottesvolk der Bibel:
Am Anfang und am Ende des jahrzehntelangen, mühsamen, entbehrungsreichen Marsches in die Freiheit, am Beginn und am Schluss des Exodus, da müssen sie eine vom Wasser markierte Grenze überwinden. Wie der Durchzug durch das Schilfmeer für die Israeliten einen neuen Abschnitt in ihrem Gottesverhältnis und so in ihrer Geschichte beginnen lässt, bedeutet auch der Weg durch den Jordan den Anfang eines neuen Lebens mit Gott im verheißenen Land. Doch wie unterschiedlich beide Wege sind: In großer Dramatik wird uns vor Augen geführt, wie die Israeliten von ägyptischen Kampfwagen gehetzt durch ein Meer den langen Weg in die Freiheit antreten müssen. Ihre Gefahr, ihre Furcht spüren wir hautnah und dann – die Verfolger werden abgeschüttelt: die Erlösung. Und schon im Kindergottesdienst waren nicht wenige davon geängstigt, wie gnadenlos die Ägypter von den reißenden Wassermassen verschlungen werden. Erste Erfahrung mit einem Gott, der rettet und vernichtet.
Wie anders, wie wohlgeordnet scheint es beim Gang durch den Jordan zuzugehen. Exakte Anweisungen, wie es sich verhalten soll, gibt Moses Nachfolger Josua dem Volk: Lasst die Lade mit den Priestern voranziehen, geht im gebührenden Abstand hinterher. Dann wird keine Gefahr auf der Wanderung drohen. Doch gerade, weil Angst mit im Spiel ist, sind Josua so penible Anweisungen wichtig. Das große Projekt darf nicht scheitern. Bevor er den Zug generalstabsmäßig organisiert, gibt er im ersten Kapitel an das Volk weiter, was Gott ihm selbst gesagt hat: „Habe ich dir nicht geboten: Sei getrost und unverzagt? Lass dir nicht grauen und entsetze dich nicht; denn der HERR, dein Gott, ist mit dir in allem, was du tun wirst“ (Vers 9).
Was erwartet uns Heutige auf der anderen Seite des Grenzflusses? Viele fragen sich: Was erwartet uns im neuen Jahr, an der neuen Uni, im neuen Job, nach dem Übergang in den Ruhestand? Was für Menschen, was für einer Kultur werden wir dort begegnen? Um es mit den Worten unseres heutigen Predigttextes zu sagen: Wie werden sie uns entgegentreten, die Völker mit den merkwürdigen Namen: Kanaaniter, Hetiter, Hiwiter, Perisiter, Girgaschiter, Amoriter und Jebusiter?
Und die auf der anderen Seite des Flusses hegen ähnliche Gedanken, äugen skeptisch-ängstlich herüber wie diese hinüber. Wer ist diese große Horde, angeführt von einem Josua? Migranten sind es, Armutsflüchtlinge auf der Suche nach besserem Leben, nach Prosperität, wirtschaftlicher Stabilität. Nehmen sie uns die Studienplätze weg, die Arbeitsplätze, gefährden sie die Sicherheit unserer Renten?
Und beiderseits des Flusses ahnen sie: Wir stehen an einer historischen Schwelle zum Übergang in ein anderes Land, ob wir es wollen oder nicht. Die, die zu uns kommen, werden dieses Land verändern, denken die einen – und wollen es nicht. Und die anderen: Wir wollen zu denen hinüber. Wir wollen es besser haben. Und furchtsam denken sie zugleich: Was werden die mit uns machen? Vielleicht ahnen aber auch einige auf beiden Seiten: Wir werden aufstehen und mitgehen und aufeinander zugehen müssen und dürfen. Sonst migriert alles über uns hinweg.
III
Schließlich gelingt den Israeliten, in das Land jenseits des Jordan einzuwandern. Die Historiker sind sich sicher: Sie taten es nicht mit Krieg und Gewalt, sondern durch wirtschaftliche und familiäre Bande, die sie knüpften: connubium et commercium. Erst viel später – als die Geschichte Israels durch Fremdherrschaft, Unterdrückung und Niederlagen gekennzeichnet ist – wird diese Landgabe im Buch Josua zur Landnahme stilisiert, um Mut zu machen und Identität zu schaffen.
Und so haben wir in unserer Heiligen Schrift auch dieses Buch Josua, das nichts anders zu sein scheint als eine endlose Aneinanderreihung von Gewalttaten – angeblich in Auftrag gegeben vom Gott Abrahams. Über die Eroberung Jerichos heißt es: „So nahmen sie die Stadt ein und vollstreckten den Bann an allem, was in der Stadt war, mit der Schärfe des Schwerts, an Mann und Weib, Jung und Alt, Rindern, Schafen und Eseln“ (6, 21).
IV
Natürlich, es gibt diese düsteren Gottesbilder. Die, in deren Namen getötet, unterdrückt, geraubt und versklavt werden darf. Ja, sie bedrohen uns heute noch. Und da ist das menschliche Bedürfnis nach Rache und Vergeltung. Natürlich. Und Gott soll ihm entsprechen. Auch den biblischen Gottesbildern ist dies nicht fremd. Und Unheil richtet Religion bis heute an, wenn Fanatiker sich brüsten, Vollstrecker eines solchen Gottes, solch eines Götzen zu sein. Wir sehen an vielen Orten der Welt, wie sich immer noch die Logik der Gewalt durchsetzt – trotz des Wissens, dass diese Logik immer weiter ins Chaos führt, in Unfrieden, zerstört Land und Seelen.
Die Karikaturisten der französische Satire-Zeitung „Charlie Hebdo“ waren es, die ein Jahr nach dem furchtbaren Anschlag auf ihre Redaktion auf der Titelseite ihrer Sonderausgabe eine in ihrer Ernsthaftigkeit erschreckende Karikatur zeigten. Gott selbst scheint ein blutiger Mörder zu sein: Ein alter, blindwütiger Mann wird da gezeigt mit göttlichem Dreieck und allsehendem Auge über dem Kopf. Das weiße Gewand blutbefleckt. Feige flüchtet er. Auf dem Rücken die Kalaschnikow.
Ist es tatsächlich Gott, der da flieht? Nein, die irdischen Stellvertreter und Hinterherläufer eines Abgottes sind es. Eines Götzen, der Qual und Zerstörung, der Leid und Untergang liebt. Ein Freund des Todes, nicht ein Liebhaber des Lebens ist das. Der in Seelen entsteht, die eigene Ohnmacht nicht aussprechen können, sie in Macht verwandeln wollen. Die Enttäuschung zu Wut werden lassen, auf eine Gesellschaft mit Hass reagieren, die nicht so ist, wie sie wollen, und mit Fahrzeugen todbringend in sie hineinrasen: Islamisten in Ansammlungen von Deutschen, Fremdenhasser in Migranten-Gruppen.
V
Am Jordan geschieht aber Entscheidendes: Gott zeigt sich. Und wenn man genau hinsieht, ist die Erzählung der Durchquerung des Jordanflusses eine Geschichte nicht des Tuns, sondern des Lassens. Eine Geschichte des Innehaltens. Der Orientierung. Es ist Gott, der durch die Wasser führt. Mose, David: sie alle führen als Werkzeuge Gottes. Sie alle sind Leute, die ihre Kraft aus dem Hören beziehen, aus dem Hören auf Gottes gutes, Leben schaffendes Wort. Die wissen: wir befreien uns nicht aus eigener Kraft. Die Macht des Führens ist abgeleitete, geliehene Macht. Wächst nicht aus dem ständigen Reden, sondern aus dem Hören, dem Verstehen.
Die Lade spielt eine herausragende Rolle in unserem Text: der Ort, an dem aufbewahrt wird das Wort Gottes, seine Gebote, seine Weisungen und Verheißungen. Das Wort ist geschützt in dem Kasten, der die Gegenwart Gottes sichtbar macht und das Volk erinnert: ihr seid nicht eure eigenen Herren. Ein anderer ist es, der die Macht hat. Seht zu, dass ihr Land gewinnt; aber habt im Blick den, der euch leitet. Hört auf den, der zu euch redet freundlich. Der tröstet und aufrichtet. Der zum Frieden ruft.
Ein Moment der Stille ist verordnet von Josua, des Stillstehens. Immer wieder geht es darum auf dem Weg des Lebens, stillzustehen, innezuhalten. Zurück zu schauen. Sich erinnern. Immer ist das nötig, wenn sich vor uns auftut Unbekanntes. Bevor man aber Brücken baut, muss man erkunden den Boden.
Der Jordan wird zum Ort des Innehaltens. Die Priester mit der Lade gehen ins Wasser. Und sie bleiben stehen. Stürmen nicht hindurch. Und das Wasser bleibt stehen. Niemand schlägt auf die Feinde. Keine vorlauten Kriegspredigten sind zu hören. Keine Angst machenden Tweets. Josua bezieht seine Autorität aus seiner Zurückhaltung, aus seiner Hingabe zu Gott, daraus, dass er, wie Mose vor ihm, Gott Platz macht. Sich nicht selbst für groß erklärt. Lauschendes, auf Gott hörendes Innehalten ist kein Zeichen von Schwäche, sondern die Bedingung für Zukunft, der Anfang vom Ende der Gewalt und der Angst.
Wenn wir im Chaoswasser stehen und nasse Füße bekommen: dann ist es Zeit, innezuhalten, zu erinnern, wem wir uns verdanken, wem oder was wir folgen wollen und können. Es werden wohl keine Trittsteine in dem Wasser liegen, durch das ich muss. Aber ich darf darauf vertrauen: „Wenn du durch Wasser gehst – spricht der Herr – will ich bei dir sein, und wenn du durch Ströme gehst, sollen sie dich nicht ersäufen“ (Jes. 43,2). Das steht nicht bei Josua. Das steht bei Jesaja. Einer der vielen Bibeltexte, die von der Schönheit und dem Schrecken menschlichen Lebens erzählen, die von der Ambivalenz, der Gefährdung unseres Seins berichten – und von Gottes Beistand für uns. Wir dürfen darauf vertrauen: Gott redet. Sein Wort ist nicht verborgen, ist Fleisch geworden in Jesus. In Christus begegnet Gott den Seinen. Öffnet sich denen, die ihn erwarten, sich ihm öffnen, sich stellen in das Kraftfeld seines Wortes. Dann weicht das Chaos und Hoffnung und Zukunft strahlen auf.
Als Jesus im Jordanwasser steht und sich taufen lässt, tut sich der Himmel auf und der Geist Gottes kommt auf ihn. Und er überlässt sich ihm, der alles so herrlich regieret. Mit ihm tritt der lebendige Gott ins Lebenswasser, der den Seinen vorangeht. Den Weg bereitet durch und in unbekanntes Land. Der hört, redet, tröstet. Ermutigt. Stärkt. Segnet. Der anfängt, aufzuhören mit der irren Gewalt.
In ihm tritt uns der Gott der Bibel entgegen, der jene annimmt, die keiner annehmen will, der Gedemütigte aufrichtet, Rechtlosen Würde und Rechte zuspricht. Die durch Krankheit Geschlagenen heilt. Und sie alle in die Gemeinschaft mit sich aufnimmt.
Das ist die endgültige Absage an den Gott der Rache und seine Helfershelfer. Kraftvoll in seiner Liebe und Gewaltlosigkeit, stark in seiner Schwachheit. So stark, dass er mächtiger als die, die ihn später ans Kreuz nageln werden, im Tod nicht festgehalten werden kann:
„Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.
Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit,
denn sie sollen satt werden.
Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.“
Darum brauchen wir die Geschichten einer gewaltsamen Landnahme nicht, um uns Mut zusprechen zu lassen. Darum vertrauen wir auf die Landgabe, die immer wieder geschieht: dass Gott uns und allen Menschen Raum zum Leben in Würde schenken will, dass er will, dass alle teilhaben an der Fülle des Lebens.
Gott will uns erreichen und unsere Herzen wenden und Vernunft einkehren lassen: sodass wir nicht leben auf Kosten anderer. Lassen wir uns von seinem neuen Bund umarmen, den er mit uns schließen will. Beginnen wir, uns einzulassen auf ihn, der voll der Liebe zu uns kommt. Lassen wir uns erwärmen von dieser Liebe miteinander und füreinander. Dann wird Gottes Landgabe zu einer neuen Landnahme – der friedlichsten, die es gibt: zur Landnahme der Liebe. Wenn wir einander in Liebe annehmen, wenn wir auch beginnen, den Fremden in seiner Fremdheit zu entschlüsseln und anzunehmen. Dann setzen wir auf diese Liebe, die keinen Unterschied macht, die heilt, wenn es Not ist! Die sieht in jedem Menschen das Antlitz Gottes selbst und in jeder Notleidenden den gekreuzigten Herrn. Dann fangen wir an, gemeinsam Liebe und Barmherzigkeit, Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit in die Gesellschaft zu tragen und fühlen uns selbst davongetragen.
Amen.