Mensch, was tust du? Wofür lebst du?
14. August 2016
12. Sonntag nach Trinitatis, Predigt zu Apg 9, 1-20
Liebe Gemeinde!
Das ist wahrlich eine große Geschichte, die Lukas uns in der Apostelgeschichte überliefert hat: dieses lichtvolle und dramatische Damaskuserlebnis, diese totale Wandlung eines Menschen vom Saulus zum Paulus, der wie vom Blitz getroffen erst den tiefen Fall erleben muss, damit ihm die Schuppen von den Augen fallen. – Sie merken schon an diesem kurzen Resümee, liebe Gemeinde, wie etliche Worte dieser Geschichte Eingang gefunden haben in unsere Alltagssprache. Bildworte, die versuchen das Geheimnis einer „Bekehrung“ zu erfassen. Zu erfassen, was da wohl in einem Menschen stattfindet, dass er tatsächlich ein anderer wird. Mit anderen Meinungen, religiösen Überzeugungen, Gebeten, ja einer inneren Haltung, die wie bei Paulus jeden zuvor empfunden eifernden Hass mit Liebe befriedet.
Zugegeben, mich hat diese Geschichte immer auch ein wenig eingeschüchtert. Sie war so radikal. Und ideal. Zu groß, wenn man so will. Bis zu dem Moment, als ich in Rom Santa Maria del Popolo besuchte. In dieser kleinen dunklen Kirche hängt nämlich in einer kleinen Ecke ein ganz besonders kostbares Bild von Caravaggio: Die Bekehrung des Paulus. Um es auch nur annähernd erkennen zu können, muss man eine Münze in den Lichtkasten einwerfen, Sie kennen das. Ich stand da viele Münzen lang. Denn das Gemälde ist nicht nur dunkel gehalten, sondern faszinierend – einfach. Ja, glanzlos. Mit nur einem Lichtstreifen, der zunächst den Blick auf ein Pferd lenkt (das biblisch wohlgemerkt gar nicht vorkommt), wohl um zu zeigen: Die Fallhöhe des Saulus war hoch. Doch nicht feurig, schnaubend steht das Tier da, sondern mit demütig gesenktem Kopf. Vorsichtig dreht es sich um den Mann, der am Boden liegt. Jetzt erst entdeckt man Paulus. Wehrlos und blind liegt er im Dunkel. Helm und Schwert, Zeichen seiner alten Macht, sind ihm entglitten. Fast nackt liegt er da – mit geschlossenen Augen und mit offenen Armen wie ein Kind.
Und in dieser geradezu irritierend undramatischen Darstellung wurde mir auf einmal klar, dass es bei dieser Bekehrungsgeschichte eben nicht um das Äußere geht, sondern um das Innerste. Äußerlich ist hier nur zu sehen, dass ein Mann vom hohen Ross gefallen ist. Und derart unverstellt geht der Blick aufs Innere – auf diesen Augenblick höchster Konzentration, dem geistlichen Wendepunkt. Altes erlischt, Neues beginnt zu dämmern. Die Augen des Paulus sind geschlossen, doch sein Gesicht ist hell. Hellwach. In ihm, in diesem Getroffenen, Geworfenen, in diesem Gestürzten geschieht etwas Großes: In dunkler Stille verwandelt sich sein Leben. Es vollzieht sich heimlich, nicht vor den Augen der Welt.
Aus dem Bild spricht kluge Theologie, finde ich. Theologie, die den Glauben – mit all seinen Zweifeln, Fragen, den Wandlungen und dem Schmerz, den das auch bedeutet – der diesen Glauben ein Geheimnis sein lässt. Das ist die erste der drei Erkenntnisse, die ich für mich heute aus der Geschichte mitnehme. Der Glaube ist ein persönlicher Weg, für jede und jeden, es ist ein In-sich-gehen und manchmal auch Aushalten-müssen dessen, was man nicht von sich sehen mag. Was man an Brüchen erlebt und an Kränkungen zugefügt hat. Zugleich ist es die Erfahrung davon, dass die Liebe unseres Gottes größer ist als all dies. Dass sie einen im Zorn stillt, in der Trauer trägt, aber eben auch im Glück andere tragen hilft.
Die andere. Der andere. Nicht nur ich.
Ich bin beim zweiten Aspekt der Geschichte: Saulus wird zum Paulus nicht durch schlaue Schriften und lange Predigten. Sondern durch Begegnung. Mit den anderen. Und darin mit nur einer Frage, die so schlicht wie umwerfend ist für ihn: „Saul, Saul, warum verfolgst du mich?“ – Warum tust du das? Ja, was tue ich da eigentlich? So grundstürzend ist die Frage, dass sie alles umwirft, was selbstverständlich war. Und so antwortet Paulus nicht, sondern ist so verunsichert, dass er nur zurückfragen kann: „Herr, wer bist du?“ Gott, wo bist du? Bist du nicht mehr dort, wo ich dich vorher wusste? In meinen religiösen Überzeugungen und Traditionen? Bist du jetzt etwa, so fragt der gesetzestreue Jude fast ängstlich, bist du in Christus? - „Ich bin Jesus, den du verfolgt hast.“ Die Begegnung mit Christus gibt die Antwort. Und sie verändert alles. Erschüttert alles, was vorher gegolten hat. Das vorige Leben geht so nicht mehr. Und das neue Leben gibt es noch nicht.
Wandlungen – sie sind mit Schmerz verbunden. Verlusten. Phasen der Leere, Verwirrung und Angst. Wir kennen das ja auch. Wie viel Kraft das kostet – diese Momente, in denen etwas Neues in unser Leben einbricht und man eine Zeitlang bei sich selbst nicht mehr zu Hause ist. Wo man sich verliert oder wo man loslassen muss, den man geliebt. In solchen Zeiten sieht man nicht klar. So auch Paulus. Blind ist er und krank. Drei Tage kann er nicht essen und trinken, und er muss alles neu lernen, auch das Sehen. Ich finde es so eindrücklich, dass diese Bekehrungsgeschichte eben zugleich eine Heilungsgeschichte ist. Eine Heilung, die wiederum nur gelingt durch einen anderen. Durch Begegnung. Der Jünger Hananias erhält den Auftrag, sich um den Geblendeten zu kümmern. Er tut dies widerwillig, denn er weiß, dass Saulus ein übler Christenverfolger ist. Dennoch geht er zu ihm, legt ihm die Hände auf, sagt tatsächlich „lieber Bruder Saul“ zu ihm. Und mir sind gerade in diesen Tagen, in denen wir durch verblendete Gewalttäter verunsichert werden, diese Worte besonders nachgegangen: Den als Bruder ansprechen können, den man für seinen Feind halten muss! Sicher bedeutet das Überwindung wie bei Hananias. Aber es ist und bleibt Christi Friedensweg, so eindeutig wie radikal, nämlich sehen zu lernen, was einen Menschen zum Feind macht und einen Feind zum Menschen. - Nur durch diesen Geist des Verstehens eröffnet sich für den einstigen Gewalttäter Saul ein neues Leben: es fällt ihm wie Schuppen von den Augen, was er getan hat. Und zu wem er wirklich gehört. So lässt er sich taufen. Er wurde buchstäblich angerührt: Als Einzelner ist er gestürzt, aber durch die Gemeinschaft der Brüder und Schwestern wird er aufgerichtet.
Damit bin ich beim dritten, letzten Aspekt der Geschichte, der an Hananias anknüpft: Die Gemeinschaft derer, die „auf dem neuen Weg“ sind, so betitelt Lukas ja wunderbar unsere Gemeinde Jesu Christi. Sie verändert sich nämlich auch. In Damaskus. Aber auch ganz aktuell in unseren Gemeinden: Die Bekehrung des einen hat auch etwas Heilsames und Erhellendes für die anderen.
Sehr eindrücklich habe ich das kürzlich in einer Gemeinde in Hamburg erlebt. Dort hatte ich die große Freude, bei der Taufe von 13 Geflüchteten aus dem Iran bzw. Afghanistan mitzuwirken. Wohlgemerkt nach einem halben Jahr intensiver Auseinandersetzung mit unserem Glauben. Sie wollten klar sehen, wie das ist mit dem Christentum, und haben dabei oft den Pastor ins Schwitzen gebracht. Beantworten Sie mal Fragen auf Farsi wie: Wieso hat die Bibel so viele Bücher und nicht nur eins? Wie kann es sein, dass der eine Gott zu dritt ist? Warum nur betet einer vorn, wenn doch alle etwas auf dem Herzen haben? Solche Fragen haben wir uns schon lange nicht mehr gestellt, will mir scheinen. Endlich kam dann die ersehnte Taufe. Und die war so feierlich! Innig. Alle aufgeregt. In den besten Kleidern. Dann: Lesung auf Farsi, das Evangelium auf Plattdeutsch. Verleih uns Frieden und persische Musik. Interkulturelle Öffnung norddeutsch.
Als ich später die Täuflinge fragte, was sie in dem Moment der Taufe empfunden haben, sagt einer: „Freiheit, das war das erste Gefühl! Es ist wie ein neues Leben. Religion hat nichts mehr mit Zwang und Strafe zu tun wie in der Heimat.“ Seine Frau ergänzte: Die Taufe war ein Weg. Auch mit Schmerz. Sie haben sich trennen müssen – von den Eltern. Von muslimischen Freunden. Die Gemeinde sei nun ihre neue Heimat. - Eine dritte rührte uns alle an: In dem Moment der Taufe sei ihr die Würde wieder zurückgegeben worden.- Und schließlich der vierte: „Als Pastor Andreas mir mit dem Wasser das Kreuz auf die Stirn zeichnete, hatte ich plötzlich keine Angst mehr.“ –
Die Motive der Täuflinge mischen sich und sind ganz vielfältig, so wie das Leben selbst. Aber eines ist mir sehr klar geworden: So ein Schritt in eine neue Religion ist eine so tief greifende Veränderung – den hat keiner von ihnen leichtfertig getan. Und genau dieser
heilige Ernst hat auch bei den anderen Gemeindegliedern etwas ausgelöst. Sie haben sich ihrerseits gefragt, wie es mit ihrem Glauben steht. Wie sind sie/ Sie zum Glauben gekommen? War es ein Bekehrungserlebnis wie bei Paulus? Oder ein Weg wie bei der Iranerin? Ich jedenfalls bin nicht in den Glauben hinein gestürzt, eher hinein gewachsen – dank Mutter und Pastor, durch Fragen und Suchen, Nachdenken und Singen, Beten und Kirchentage, die Gemeinschaft im Abendmahl gerade hier im Dom nicht zu vergessen. Aufregend spektakulär ist das nicht, nicht immer, aber es ist etwa Schönes. Vertrautes. Verlässliches. Getragen durchaus auch von Gewohnheit.
Offenbar ging‘s etlichen ähnlich dort in Steilshoop. Und im Gespräch beim anschließenden Mittagessen mit diesen neugetauften Frauen und Männern, die so viel hinter sich haben, kam auf einmal auch für die anderen mehr in den Blick, was sie hinter sich haben. Wie es war, als sie selbst gefallen sind, vielleicht sogar vom hohen Ross, wie sie Verletzung und Trennung überlebt haben, wie es war, als ein Schlag so hart war, dass sie meinten, Gott selbst schlüge in ihr Leben.
Mensch, was tust du? Wofür lebst du? Wen liebst du? An wen glaubst du? Letztlich waren es genau diese Fragen, die die Menschen in ihren Krisen gerettet haben. Genau diese Fragen Christi, die sie haben innehalten lassen und von denen sie wie Paulus einen Moment so geblendet waren, dass sie die Augen schließen mussten. Um zu sich zu kommen. Und dabei ihm, Christus, zu begegnen, der in Frage stellt, aber uns zugleich auch Antwort ist. Die Begegnung mit Christus geschieht. Wunderbar. Aufwühlend. Tröstlich. Vielleicht begegnet er auch Ihnen. Gar heute. Meist geschieht es ganz still und leise. Im Verborgenen, für andere nicht zu sehen. Und besonders schön, ja wie ein kleines Wunder ist es, wenn wir, Alltagsmenschen und Glaubensgeschwister, ihn selbst hören, wenn er uns antwortet: „Ich bin das Licht der Welt und wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern das Licht des Lebens haben.“ Geht gesegnet, liebe Gemeinde, und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.