24. April 2016 | Hauptkirche St. Michaelis Hamburg

Musik ist Herzensprache

24. April 2016 von Kirsten Fehrs

4. Sonntag nach Ostern – Kantate, Predigt zu Kolosser 3, 12-17

Himmlische Musik! Sie zu erleben, darum geht es an Sonntag Kantate. Und da war Ihr Halleluja-Kanon eben, liebe Gemeinde, gar nicht so richtig schlecht (wie wir Hamburger, ganz Understatement, so sagen). Ein bei allen Regengüssen glaubenssonniges Halleluja, gemeinsam geschmettert, erlöst, gebrummt, getönt. Nur heraus damit! Es kommt heute nicht auf die richtige Note an, sondern auf den guten Ton. Heißt: Alle sind dran. Durchatmen, sich trauen, dem anderen sein Halleluja gönnen, ohne mit Wilhelm Busch zu denken: Achje, leider ist Musik immer mit Geräusch verbunden….

Kantate gehört allen. Damit wir einander näher kommen. Und Gott auch. Atmen wir doch buchstäblich einen, seinen Geist. Singen ist deshalb eine einzige Gemeinschaft. Und die ist heutzutage besonders wichtig, weil es echte Gemeinschaft in unserer Gesellschaft der Einzelnen und Smartphonisten immer seltener gibt. Also: Kantate! Alle für den EINEN. Oder, lieber Solist Joachim Duske, einer für uns alle.  

Himmlische Musik! Es ist schön, sie zu hören (vielen Dank, liebe Kantorei!), aber auch sie einmal „auszudenken“. Das fand vor fast 150 Jahren auch Richard von Volkmann-Leander, vielleicht kennen einige von Ihnen seine Märchen noch? Das von der himmlischen Musik sei kurz erzählt:

In alter Zeit ließ sich aus dem Himmel eine wunderschöne Musik hören. „Gott selber hatte dazu die Noten aufgeschrieben, und tausend Engel führten sie mit Geigen, Pauken und Trompeten auf. Wenn sie zu ertönen begann, wurde es ganz still auf der Erde. Der Wind hörte auf zu rauschen, und die Wasser im Meer und in den Flüssen standen still. Die Menschen aber nickten sich zu und drückten sich heimlich die Hände.“ Eines Tages – mag sein, Gott hatte so viele Kriege geschaut und Elend gesehen, so viel mehr als wir! – eines Tages sagte er: »Hört auf mit eurer Musik; ich bin zu traurig!« Nicht lange, da weinten auch die Engel und setzten sich jeder mit seinem Notenblatt auf eine Wolke und zerschnipselten die Notenblätter mit ihren kleinen goldenen Scheren in lauter einzelne Stückchen; die ließen sie auf die Erde hinunterfliegen. Und der Wind zerstreute sie in alle Welt. Als die Menschenkinder das sahen, erhaschten sie sich jeder einen Schnipsel, mal einen großen, mal einen kleinen, und hoben sie sorgfältig auf, um ja nicht diese wunderschöne Musik zu vergessen. Aber mit der Zeit begannen sie sich zu streiten, wer das beste und schönste Teil erwischt hätte; und zuletzt behauptete jeder, nur seines sei die richtige Melodie und der andere spiele falsch. So kamen noch mehr Streit und Unfrieden in die Welt. – Doch eines Tages, so endet das Märchen, wird Gott durch die Engel alle kleinen Schnipsel von seinem himmlischen Notenbuch wieder einsammeln lassen, selbst die ganz kleinen, auf denen nur eine einzige Note steht. „Und die Engel werden die Stückchen wieder zusammensetzen, und dann werden die Tore aufspringen, und die himmlische Musik wird aufs Neue erschallen, ebenso schön wie früher. Da werden die Menschenkinder verwundert und beschämt dastehen und lauschen und einer zum andern sagen: »Das hattest du! Das hatte ich! Nun aber klingt es erst wunderbar herrlich und ganz anders - nun, wo alles wieder beisammen und am richtigen Ort ist!«“

Ich glaube, liebe Gemeinde hier an diesem richtigen Ort, dass viele Menschen sich heutzutage nach einer verbindenden Sprache sehnen, die die Seele erreicht. Eine Sprache, die klug ist und das Herz versteht. Die Unfrieden und Streit beendet und Völker eint. Die eben gerade keine Floskeln produziert, sondern Gehalt hat. Wahrhaftigkeit. Musik ist so eine Sprache. Sie kann von tiefer Ehrlichkeit sein. Kann Kraft geben und Trost. Kann ausdrücken, was uns bewegt und bewegt in uns, was wir nicht sagen können. Kurz: Musik ist Herzensprache. Meint auch unser Predigttext, wenn er sagt: „Mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen“.

Musik ist gerade nicht das schmückende Beiwerk, das einen Gottesdienst so „nett“ macht und unterhaltsam. Musik vermag vielmehr selbst eine Sprache des Glaubens zu sein. Sie lässt einen buchstäblich aufatmen, weil sie etwas versteht von Unfrieden und dem Getriebensein durch die Zeiten. Der Komponist Martin Luther hat dies wunderschön beschrieben: „Musicam habe ich allzeit lieb gehabt. Wer diese Kunst kann, der ist guter Art, zu allem geschickt. Denn die Musik ist eine Gabe und ein Geschenk Gottes, nicht ein Menschengeschenk. So vertreibt sie auch den Teufel und macht die Leute fröhlich. Nichts auf Erden ist kräftiger, die Traurigen fröhlich, die Fröhlichen traurig, die Verzagten herzhaft zu machen, die Hoffärtigen zur Demut zu reizen, die hitzige und übermäßige Liebe zu stillen, den Neid und den Hass zu mindern.“

Die Verzagten herzhaft machen und den Neid und Hass mindern - das ist die Botschaft der Singenden. Unbedingt zu hören von den Ängstlichen und Verstörten unserer Tage. Aber auch unbedingt zu singen und zu sagen an die Adresse der Aufhetzer und Rechtspopulisten, die angeblich so besorgt sind um unsere christlichen Werte. Sie sollten sie wirklich hören, diese christlichen Werte. Von Luther ebenso wie vom Kolosserbrief pointiert: Er mahnt uns anzuziehen – hingehört! - „herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut und Geduld.“ Toleranz, nichts anderes und noch viel mehr.

Wir brauchen mehr denn je die religiös Musikalischen in diesen Zeiten. Die, die nicht unbedingt bibelfest sind, aber dennoch ganz genau darum wissen, dass es im tosenden Weltkonzert und inmitten der Kakophonie der Streitenden darum geht, den Ton der Mitmenschlichkeit durchzutragen. Gemeinsam verbunden zu bleiben im Glaubenslied der heutigen Zeit. Gesungen von allen Menschen guten Willens, seien es Muslime, Juden und Christen: „Vergebt euch untereinander, wenn jemand Klage hat gegen den anderen“, so die christliche Fassung des Liedes im Kolosserbrief.

Musik als Sprache, die versöhnt und heilt, das habe ich vor ein paar Tagen erlebt. An einer Klagemauer, von Kindern gebaut. Sie steht auf dem Roman-Zeller-Platz in Schnelsen. Jedes Jahr am 20. April findet dort ein Gedenken von Kindern für Kinder statt. Da sieht man an die zweihundert Grundschulkinder der 4. Klassen, die mit Kerzen, Blumen und Liedern die Ermordung von zwanzig jüdischen Kindern beklagen – und dies in Anwesenheit von Angehörigen und tatsächlich noch Zeitzeugen, die Auschwitz überlebt haben. Kurz zur Geschichte: Wenige Tage vor der Befreiung im Mai 1945 wurden in der Schule im Bullenhuser Damm zwanzig jüdische Kinder von den Nazis erhängt, um die grausamen medizinischen Menschenversuche zu vertuschen, die sie an ihnen durchgeführt hatten. Die Jungen und Mädchen waren zwischen 5 und 12 Jahre alt, waren deportiert aus Frankreich, den Niederlanden, Polen, der Tschechoslowakei. Von den meisten – jetzt auch dem 19. Kind – weiß man nach jahrelangem Forschen die Namen – und kann sie damit erinnern. Die Geschichte ist eigentlich kaum auszuhalten; doch die Kinder setzen sich damit beeindruckend auseinander! Fühlen sich ein in die gepeinigte Kinderseelen. Schreiben Gedichte, Briefe an die Ermordeten. „Lieber Walter, wie furchtbar, dass du keine Kindheit hattest - vielleicht gibt es ja im Himmel auch Briefmarken zum Sammeln?“ Oder: „Wir sind traurig, liebe Lea, dass wir so wenig von dir wissen, aber du wirst in unseren Herzen bleiben.“

Am Ende der Zeremonie, als die Kinder ihre Blumen an die Klagemauer legen, singen sie: „Hevenu Schalom aleichem“; „Wir wollen Frieden für alle.“ Sie sangen so schön. Nicht virtuos, ehrlich. Nach und nach stimmten die Angehörigen ein. Auf Hebräisch, Englisch, Französisch: Schalom! Aleichem. Versöhnte Gemeinschaft der Singenden.

Das war himmlische Musik, liebe Gemeinde. Wie ein gesungenes Gebet. Unerhört dicht. Gott so nah. Und ich hatte ehrlich mit den Tränen zu kämpfen. Fassung bewahren, dachte ich, Contenance. Da merke ich, wie mich jemand sanft stupst. Steht einer von diesen sagenhaften Viertklässlern neben mir, zwinkert und flüstert: „Komm, lass es raus!“

Noch seltenhat sich mir der Sinn des Evangeliums an Sonntag Kantate so unmittelbar erschlossen. Komm!, sagt Jesus. Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Kantate ist eine einzige Erlaubnis, offen mit Mühsal und dem drückenden Gewicht auch einer schweren Geschichte umzugehen. Die Erlaubnis, herauszurufen, dass es so tiefes Unrecht gibt und zuzulassen, dass es einem die Fassung raubt.

Damit das Joch leicht wird… Dazu braucht es manchmal ein Halleluja der besonderen Art. Eines, das im Angesicht des Schmerzes dennoch nicht aufhört, mit den Wundern Gottes zu rechnen. Ein Halleluja, das bereits Auftakt ist der himmlischen Musik, die uns wieder zusammen wachsen lässt - und zwar hin zur Liebe, sagt der Kolosserbrief, die das Band der Vollkommenheit ist. Und diese Liebe verbietet es jetzt schon, liebe Gemeinde, dass wir uns abfinden mit der Drangsal und Not so vieler Kinder, auch ja in unserem reichen Land. Und sie rebelliert dagegen, jetzt schon, dass den Mühseligen und Beladenen immer größere Lasten aufgelegt werden, auch weltweit.

Noch ist Streit und Zwietracht unter den Menschen. Aber im Hören und im Singen der Botschaft bricht schon eine andere Welt an. Musik hält die Sehnsucht nach ihr wach. Das Sehnen nach Liebe, die einen gewiss macht – bis zum Ende. Das Sehnen danach, zärtlich gehalten und verbunden zu sein mit einer Kraft, die nicht aus mir selbst kommen kann. Das glaube ich. Und deshalb singe ich. Sehr gern mit Ihnen. Halleluja!

Und: Friede sei mit euch! Er bewahre unser aller Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.

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