11. November 2018 | Dom zu Schwerin

Nun danket alle Gott

11. November 2018 von Andreas von Maltzahn

Predigt zum Ende des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,

als der 1. Weltkrieg begann, war Jo ein Mädchen von 12 Jahren. Also nur ein, zwei Jahre jünger als ihr, liebe Konfirmanden,. Sommer 1914: Umjubelt zogen die Soldaten in den Krieg. Die Leute sangen „Nun danket alle Gott“. Allgemein wurde ein leichter, schneller Sieg erwartet. „Weihnachten sind wir schon wieder zurück“, riefen die Soldaten ihren Angehörigen zu. Es kam so anders…

Jo beobachtet wach, was geschieht. Sie besucht die Verwundeten im Lazarett und sieht, was Krieg anrichtet. In ihrem Tagebuch vermerkt sie am 20. Juli 1915:

„Abends bin ich mit einem Blumenstrauß ins Lazarett Rohleder gegangen. Da kennen mich schon viele Verwundete. Bei meinem Eintritt hoben sie die Köpfe und begrüßten mich. Als sie die Blumen sahen, wollten alle sie haben. Komisch, nicht? Männer wollten Blumen haben!
Eine Schwester legte einen Moment den Arm um mich und sagte: ‚Du kannst zum Abendsegen bleiben, wenn du willst. Um sechs werden wir die Kanzel aufstellen, da predigt Missionar Töpper aus Kiautschou.‘
Ich wollte aber nicht bleiben, weil ich immer noch auf die Religion böse bin. Hat man Worte: Sogar Kaiser Franz Joseph hat den lieben Gott aufgefordert, seinen Truppen den Sieg zu schenken. Wieviel Völkern soll Gott eigentlich den Sieg bescheren! Ich wär schon froh, wenn er wenigstens diesen Schwerverwundeten hier gesund machen würde. (Und damals den schwindsüchtigen Erich!)“

Schlimm ist, was Jo an Verstümmelungen und qualvollem Sterben im Lazarett mitansehen muss. Was aber an der Front geschieht, in den Schützengräben, übersteigt jede Vorstellung. Hören wir Ausschnitte aus zwei Briefen, die Soldaten damals von der Front nach Hause schreiben durften – zunächst einen Briefabschnitt des 20-jährigen Theologiestudenten Paul Boelicke, gefallen am 12. Oktober vor Verdun:

„Verdun, ein furchtbares Wort! Unzählige Menschen, jung und hoffnungsvoll, haben hier ihr Leben lassen müssen. Ihre Gebeine verwesen nun irgendwo, zwischen Stellungen, in Massengräbern, auf Friedhöfen. Kommt der Soldat morgens aus seinem Granatloch (viele sind ganz voll Wasser), so sieht er im hellen Sonnenschein die Türme des Douaumont oder eines anderen Forts, die ihre Augen drohend auf das Hinterland richten. Ein Schütteln packt ihn, wenn er seine Blicke rundum schickt: hier hat der Tod seine Knochensaat ausgesät. Die Front wankt, heute hat der Feind die Höhe, morgen wir, irgendwo ist hier immer ein verzweifelter Kampf. Mancher, der sich eben noch der warmen Sonne freute, hörte es schon irgendwo heulend und brüllend herankommen. Dahin sind alle Träume von Frieden und Heimat, der Mensch wird zum Wurm und sucht sich das tiefste Loch. Trommelfeuer-Schlachtfelder, auf denen nichts zu sehen ist als erstickende Qualm-Gas-Erdklumpen-Fetzen in der Luft, die wild durcheinander wirbeln: das ist Verdun.“

‚Dahin sind alle Träume von Frieden und Heimat, der Mensch wird zum Wurm…‘ Ähnlich erlebt es Andreas Probst. Am 5. Juni 1915 schreibt er noch einmal an seine Familie. Drei Tage später ist er tot:

„Liebe Eltern und Geschwister!

Ein Lebenszeichen sollt ihr haben, kaum zu glauben, dass da noch ein Mensch leben kann, denn es sind furchtbare Kämpfe. Pfingsten Fronleichnam und andere Tage waren grausam. Die Franzosen stürmen in Massen an. Das ist kein Krieg mehr, sondern Massenmord, viele unserer Kameraden mussten wieder dran glauben. In drei Tagen habe ich keine Minute geschlafen, denn es war keine Zeit da. Wir hielten aus, alles war in einem Graben, Franzosen und Deutsche, jedoch haben wir uns aufs Äußerste gewehrt. Zerfetzt und voll Dreck, ganz erschöpft kamen wir in Ruhe. Es war furchtbar, dieses Krachen und Zittern, Tosen, einfach alles ging drunter und drüber, förmlich verschüttet waren wir, viele sind noch verschüttet, das ist hart; da darf bald eine bessere Zeit kommen, denn was dieses Opfer kostet ist unbeschreiblich.  

Massen von Leichen liegen umher und dieser Geruch bei der Hitze, wenig zu trinken gibt es, viel Durst, viele Steine und wenig Brot. Aber sie sollen nicht durchkommen mit ihrer Überzahl.

Doch hatte ich wieder großes Glück und danke unserem Herrgott. Ihr dürft Gott danken, dass der Feind nicht in unserem schönen Vaterland ist, denn diese Verwüstungen, trostlos.

Ihr habt tatsächlich den Himmel, in einer Hölle kann es nicht ärger zugehen wie dieser Tage bei uns. Geht nur in die Kirche, betet, dass baldiger Friede kehrt. So kann es nicht fortgehen. Hoffen das Beste und vertrauen auf Gott
Für heute herzliche Grüße
Euer Andreas“

‚Ihr habt tatsächlich den Himmel, in einer Hölle kann es nicht ärger zugehen wie dieser Tage bei uns.‘ Himmel und Hölle – wie verhielten sich da jene, die eigentlich von Himmel und Hölle Ahnung haben sollten als Theologen, Kirchenführer und Prediger? Hatten sie Gottes Vision schlichtweg vergessen von den Schwertern, die zu Pflugscharen umgeschmiedet werden sollten? Hatten sie nicht vor Augen, dass Jesus selbst erklärt hatte: „Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen“?! (Mt 5,9)

Zur Schande unserer Kirche muss gesagt werden: Das Friedenszeugnis der Bibel spielte in den allerwenigsten Predigten eine Rolle! Es ging unter im Taumel nationaler Begeisterung, bald in blindem Siegeswillen, Siegenswahn. Es ertrank elendig in verführter Bereitschaft, sich an etwas Großes, Wesentliches hinzugeben. Was in Wahrheit die Hölle war, wurde zur heiligen Pflicht erhoben. Auch die Nägel am Westportals unseres Domes zeugen vom kirchlich unterstützen Spendenprogramm für neue Kanonen.

Die junge Jo war da viel wacher, geradezu unbestechlich. Inzwischen 18-jährig notiert sie kurz vor Ende des Krieges:

„Weißt du was, Tagebuch? Es könnte doch sein, dass Gott uns längst die große Strafe geschickt hat, und wir haben es nicht gemerkt: Die Strafe ist der Krieg. Vielleicht hat Gott von Anfang an erwartet, dass wir den Krieg beenden, und wir haben es nicht getan, sondern noch obendrein wie am ersten Kriegstag gesungen: ‚Nun danket alle Gott.‘ Wenn das so wäre, dann haben wir bloß immer gesündigt.“

Wie recht Jo hatte: Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein! „Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.“ (Mt 5,5)

Wie aber konnte es geschehen, dass Kirche und Volk sich der Kriegslust ergaben? Das frage ich nicht aus rein geschichtlichem Interesse, sondern weil auch wir heute verführbar sind. Was macht Menschen anfällig für Gewalt und Krieg?

Oft wird gesagt: Viele suchten damals einen Ausweg aus der Armut und Enge ihres Lebens. Bei anderen jedoch wurde gerade das zum Einfallstor, was zur Schönheit von uns Menschen gehört. Eine Äußerung Stefan Zweigs lässt das deutlich werden. Zweig hatte sich ja nicht nur als Schriftsteller einen Namen gemacht, sondern auch als überzeugter Pazifist. Doch im Sommer 1914 sehnte er sich wie viele andere nach dem Krieg, kann ihn kaum erwarten. Es ist der Sommer seines Lebens, und noch im Rückblick schreibt er von dieser Zeit:

„Als jeder aufgerufen war, sein winziges Ich in diese glühende Masse zu schleudern, um sich dort von aller Eigensucht zu läutern. Alle Unterschiede der Stände, der Sprachen, der Klassen, der Religionen waren überflutet für diesen einen Augenblick von dem strömenden Gefühl der Brüderlichkeit. Fremde sprachen sich an auf der Straße, Menschen, die sich jahrelang auswichen, schüttelten einander die Hände, überall sah man belebte Gesichter. Jeder einzelne erlebte eine Steigerung seines Ichs, er war nicht mehr der isolierte Mensch von früher, er war eingetan in eine Masse, er war Volk, und seine Person, seine sonst unbeachtete Person hatte einen Sinn bekommen.“

Das ist das Perverse: Unsere besten Regungen können missbraucht werden. Unsere Sehnsucht ist korrumpierbar. Wer wollte nicht für etwas Gutes, Großes, Wesentliches leben!? Die Trumps, Orbans und Höckes dieser Welt missbrauchen das, indem sie Nationalismus schüren.

Ich weiß: Auch für Euch Konfirmand/innen ist es ein gutes Gefühl, dazuzugehören, nicht Außenseiter zu sein. Aber nicht um den Preis, andere zu Außenseitern zu machen! Nicht um den Preis, andere im Netz an den Pranger zu stellen! Es liegt kein Segen darauf, dazuzugehören um den Preis, andere zu mobben. Wo Menschlichkeit auf der Strecke bleibt, können wir uns nicht zu Hause fühlen – hat Jesus von Nazareth doch gesagt: „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.“(Mt 5,7)

Es wird heute häufig davon geredet, Deutschland habe international ein größeres politisches Gewicht. Unser Land müsse daher seine gewachsene Verantwortung auch in Kriegseinsätzen wahrnehmen. Ich kann nur sagen: Es ist die bleibend aktuelle Erfahrung unseres Volkes, dass der Griff zu den Waffen Unheil mit sich bringt! Zwei Weltkriege haben uns das gelehrt. Darum wünsche ich mir auch für die Zukunft, dass wir misstrauisch bleiben, wenn Probleme militärisch gelöst werden sollen. Gewiss, in einer unerlösten Welt können Einsätze der Bundeswehr ethisch vertretbar, vielleicht sogar geboten sein – etwa um drohenden Völkermord zu verhindern. Doch sie können nur das allerletzte Mittel sein – und die eigentliche Lösung muss auf politischem Wege erreicht werden. Das sind wir auch den Angehörigen der Bundeswehr schuldig.

Es ist wahr: Deutschlands Verantwortung ist gewachsen. Lasst sie uns wahrnehmen als Vorreiter in Sachen Ökologie, Gerechtigkeit und Frieden! Ihr Jugendlichen, die ihr euch in Projekten des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge engagiert und uns nachher davon noch erzählen und etwas zeigen werdet, habt unseren Respekt für diesen Einsatz! Sich hier oder in der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste starkzumachen, hilft die Erinnerung wachzuhalten – an menschliche Verblendung, die nicht wieder über uns kommen soll, an unsagbares Leid, das wenigstens darin Sinn finden soll, dass wir heute andere Wege suchen. Das ist alles andere als hoffnungslos: Wer hätte nach zwei Weltkriegen gedacht, dass die Erzfeinde Frankreich und Deutschland wenige Jahrzehnte später so freundschaftlich verbunden sein könnten – und doch hat geduldige Versöhnungsarbeit dies geschafft. Dass Menschen nicht wieder zu Würmern werden und die Hölle erleben – dafür lohnt es sich, zu leben und zu arbeiten.
Amen.

Und der Friede…

Einladung: Bekenntnis zu Frieden und Gerechtigkeit, wie die Weltversammlung der Christen in Seoul es 1990 formuliert hat

 

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