SCHLESWIG

Predigt am Neujahrstag über die Jahreslosung (Joh 14,1ff) im St. Petri-Dom

01. Januar 2010 von Gerhard Ulrich

Liebe Gemeinde! Das neue Jahr liegt vor uns wie ein unbeschriebenes Blatt Papier. Noch birgt es alle Möglichkeiten des Glücks, des Heils und des Friedens. Das ist gut so, befreiend und ermutigend. Neuer Anfang ist geschenkt. Aber wer jemals vor so einem leeren Blatt gesessen hat, einen Brief zu schreiben oder etwas anderes, der weiß, dass diese Leere auch eng machen kann: wie wird es sich füllen, mit welchem Text wird es beschrieben sein an seinem Ende?

Die Sache mit dem leeren Blatt ist deshalb eine so zwiespältige Angelegenheit, weil wir, die wir es füllen wollen und sollen, ja selber keine unbeschriebenen Blätter sind! Wir bringen ja mit uns unsere Geschichte der letzten Jahre, des letzten Jahres: bringen mit uns alles, was gelungen ist, alles Glück und alle Freude. Aber eben auch alles, was auf uns lastet: alles Leid, alles, was nicht gelingen durfte; die Abschiede von lieben Menschen oder Plänen für eine gute Zukunft. Wir haben in unserem Gepäck die Sorgen und Ängste. Und vor Augen haben wir die Krisen des letzten Jahres – die Wirtschafts- und Finanzkrise; die geschundene Umwelt. Wir haben in uns die Bilder von Kriegen und Katastrophen – fern und doch ganz nah. Die Fragen, die uns im gerade vergangenen Jahr umgetrieben haben, stellen wir natürlich immer noch, sind immer noch nicht beantwortet: was wird mit der geschundenen Umwelt? Werden Menschen Arbeit haben oder wieder finden? Was wird mit dem Gefälle zwischen Reich und Arm, Nord und Süd, West und Ost? All das sehen wir ja auch, wenn wir auf das unbeschriebene Blatt sehen, all das leitet unseren Blick nach vorn – wie auch die Hoffnungen uns leiten, dass Umkehr möglich ist und wie auch die Sehnsucht uns bestimmt, dass wirklich neu werde die Welt.

Gute Vorsätze oder gar eigene Umkehr?
Worauf können wir bauen, womit können wir gehen in das neue Jahr; mit welcher Haltung können wir hinein- und hindurch kommen?!
Immer ist der erste Satz auf einem leeren Blatt Papier der schwierigste überhaupt. Von ihm her wird der gesamte Text regiert.
Die ersten beiden Sätze auf unserem neuen Blatt sind uns abgenommen. Er ist die Losung für das neue Jahr 2010. Sie steht bei Johannes im 14. Kapitel:
„Euer Herz erschrecke nicht!
Glaubt an Gott und glaubt an mich!“
Ein Appell steht über dem neuen Jahr.
Appelle haben immer etwas Zwingendes, etwas sehr Autoritäres, finde ich. Appelle werden nötig, wenn Argumente nicht greifen, wenn die Sinne versperrt sind für die Vernunft, für Einsicht. Dann hilft der Ruf von außen: Erschreckt nicht!
Und das ist allemal einfacher gesagt, als getan. 
Erschreckt nicht – noch habe ich im Ohr das „Fürchtet euch nicht“ der Engel in der Heiligen Nacht. Nur steht dieser Appell Jesu nicht am Anfang seines Weges mit den Seinen, sondern an dessen Ende. Er stammt nämlich aus den so genannten Abschiedsreden Jesu an seine Jünger. Jesus kündigt den Jüngern an, dass er sie in Kürze allein lassen wird. Sein Weg an das Kreuz, in den Tod ist vorgezeichnet. Die Jünger reagieren mit Unverständnis: „wo gehst du hin?“, fragt Petrus, ich gehe mit, ich werde mein Leben für dich lassen. Nein, sagt Jesus, wo ich hingehe, kannst du mir nicht folgen, erst später wirst du nachkommen. 
„Euer Herz erschrecke nicht! Glaubt an Gott und glaubt an mich!“ Ich habe euch gesagt: in meines Vaters Haus sind viele Wohnungen. Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten. Ich komme wieder und hole euch zu mir. Damit ihr seid, wo ich bin.
Natürlich erschrecken die Jünger. Denn noch war doch der Weg nicht zu Ende gegangen. Auf ihn, Jesus hatten sie doch gesetzt – alle ihre Hoffnungen. An seiner Seite waren sie doch stark geworden, froh und gewiss. Sie hatten erfahren die Fülle und geteilt mit denen, die nichts hatten. Sie hatten erlebt, wie Kranke wieder auf die Beine kamen und Tote auferstanden, weil er, Jesus, Hand anlegte; weil er, Jesus, den Mund aufgetan hatte für die Verstummten; weil er, Jesus, zum Schweigen gebracht hatte, die immer vorneweg waren und immer wussten, was Recht und Unrecht ist. Gerade hatte es doch angefangen, dass alles anders werden konnte.
Und nun: „ich bin nicht mehr lange bei euch“, sagt Jesus.
Und da sollen sie nicht erschrecken? Da sollen sie einfach glauben?
Zweifel kommen da doch zuerst: haben wir auf den Falschen gesetzt? Waren all unsere Hoffnungen auf Sand gebaut? Wir hatten doch Pläne. 
Jede und jeder von uns kennt den Schmerz des Abschieds, wenn ein lieber Mensch geht oder ein liebes Geschöpf uns verlässt plötzlich, wenn mitten im Leben der Tod sich meldet und Grenzen aufzeigt, wo eben noch freies Feld, freier Lebenslauf war. Wir wissen, wie das erschrickt, wenn Wege sich trennen, wenn Pläne sich zerschlagen, wenn das Gemeinsame nicht mehr weitergeht. Nichts ist dann mehr, wie es einmal war. 
Verlassen sein, sich selbst überlassen bleiben, der Welt allein ausgesetzt sein – ohne den Hoffnungsträger: das erschrickt ja nicht nur die Jünger damals, das geht vielen in dieser Welt so. Wir wissen und sehen: diese Welt ist nicht in Ordnung so wie sie ist. Die Krisen sind vielfältig – die der Märkte, die Klimakatastrophe, die Armut in dieser reichen Welt – und nichts und niemand scheint ihren Lauf wirklich aufhalten zu können. Die Weltklimakonferenz im Dezember in Kopenhagen hat das vor Augen geführt: es geht um die Zukunft dieser Welt, die bedroht ist jetzt schon. Die Ärmsten der Armen spüren die Folgen einer Industrialisierung mit ihrem unendlichen Energiehunger hautnah und auch bei uns sind die Spuren der Erderwärmung mit Händen zu greifen – die Wasserspiegel steigen nicht nur im südlichen Pazifik! Umkehr ist nötig jetzt. Aber die Mächtigen bleiben seltsam stumm, haben nicht den Mut, voranzugehen, sich hinwegzusetzen über allzu augenscheinliche Interessen Einzelner. Und dem Hoffnungsträger des letzten Jahres schlechthin, Barack Obama, werden erbarmungslos die Grenzen aufgezeigt. Beim Frieden schaffen in Afghanistan und anderswo und bei der Erhaltung der Schöpfung, bei der Sorge um die Gesundheit seiner Mitbürgerinnen und Mitbürger…„Euer Herz erschrecke nicht!“
Das ist das Erste, was Jesus den Erschreckten und Verunsicherten sagt: lasst euch nicht in Angst versetzen. Lasst nicht zu, dass Furcht und Sorge euch verstummen lassen. Jesus redet das nicht nur so daher. Dies ist kein billiger Trost, keine Aufforderung, die Realität zu verdrängen, das Erschreckende klein zu reden. Er weiß: es gibt Grund, sich erschüttern zu lassen. Aber da ist auch noch etwas anderes. Da ist nicht nur die Realität der Welt. Da ist auch die Wirklichkeit Gottes in der Welt, mitten unter euch: „glaubt an Gott und glaubt an mich“.
Das Schreckliche dieser Welt droht nieder zu drücken. Wer erschrickt, sieht nichts außer dem, das den Schrecken erzeugt. Dem liefert sich der Erschrockene ganz und gar aus. Der Glaube ist die Macht gegen das Erschrecken! Denn der Glaube rechnet damit, dass diese Welt nicht aufgeht in dem, was sichtbar und erfahrbar ist, was ausrechenbar und verstehbar ist. „Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht auf das, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht“: – so erklärt unübertroffen Paulus im Hebräerbrief die Energie des Glaubens. Der Glaube ist die Sehnsucht, mit der wir uns ausstrecken über die Grenzen unserer eigenen Erfahrung hinaus. Der Glaube vertraut darauf, dass die Verheißungen Gottes größer sind als die der Welt. 
Der Glaube ist kein blindes Vertrauen. Er speist sich aus der Geschichte Gottes mit den Menschen, aus den Erfahrungen der Menschen mit Gott, der rettet, der erlöst, der führt aus der Sklaven-Gefangenschaft in das Gelobte Land; aus der Hoffnungslosigkeit ins Leben zurück; aus der Schuld in neuen Anfang. Glaube ist nicht nur passive Hingabe. Glaube ist aktive Lebenshaltung. Denn wer glaubt, lässt sich ansprechen, lässt sich auf die Beine bringen wie die Hirten in der Heiligen Nacht; lässt sich ermutigen, den Mund aufzutun für die Schwachen und Elenden. 
Der Glaube ist eine unbequeme Haltung: er gibt sich nicht zufrieden mit dem, was immer schon so war. Der Friede mit Gott führt in den Unfrieden mit der Welt, hat einmal der Theologe Jürgen Moltmann gesagt! Der Glaube beruhigt nicht, sondern führt in konstruktive Unruhe. Glaubende sind unruhige Geister.
Glaubt an mich und glaubt an Gott. 
Jesus belässt es nicht bei dem Appell. Er erinnert an den Weg zu Gott: „In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen. Wenn’s nicht so wäre, hätte ich dann zu euch gesagt: Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten?“
Das ist ein wunderschönes Bild: Gottes Haus mit den Wohnungen für uns alle. Für jede und jeden ist Platz bei Gott. Bei ihm dürfen wir zu Hause sein, uns einrichten mit unseren Stärken und Schwächen. Bei ihm dürfen wir uns geborgen fühlen, angenommen. Und Jesus: unser Platzhalter bei Gott. Sein Leben: ein Einrichtungsprogramm für eine wohnliche Behausung – voller Friede, Klarheit und Wahrheit; voller Barmherzigkeit und Zuwendung.
Nicht erst in der Ewigkeit sollen wir wohnen bei Gott und unser Leben einrichten bei ihm. Schon jetzt hat angefangen der Einrichtungs- und Umzugsplan. „ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater, denn durch mich“, sagt Jesus. Der Glaube also ist zwar eine Zuversicht auf das, was man hofft und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht. Aber in Jesus selbst, in seiner Weise den Menschen zu begegnen, die Schwachen aufzurichten, die Armen zu erhöhen und den Mächtigen ins Rad ihrer Macht zu greifen, wird etwas sichtbar von dem, wohin unsere Hoffnung sich ausstreckt. „Euer Herz erschrecke nicht! Glaubt an Gott und glaubt an mich!“ – lasst euch bestärken, redet, bezeugt, vertraut – nicht auf das Endzeitgerede der Welt, das erschrecke euer Herz nicht. Vertraut auf mich, sagt Jesus, der ich euch zusage, dass ich bei euch bin alle Tage, bis an das Ende der Welt. Ich werde euch nicht lassen, Gott wird diese Welt nicht sich selbst überlassen.
Bis er wiederkommt, vertraut er auf die, die weiter sehen, als das Auge gucken kann; vertraut er auf die, die glauben, festhalten und in seinem Namen den Mund auftun für die Schwachen und Elenden, für die Unterdrückten, gegen das Wüten der Gewalt. Euer Herz erschrecke nicht: diese Welt braucht unerschrockene Herzen! 
Wir haben im zu Ende gegangenen Jahr der friedlichen Revolution, des Falls der Mauer 1989 gedacht. Und wir haben noch einmal die Bilder gesehen der Menschen, die unerschrocken der Macht widerstanden haben, die den Sturz der Diktatur und den Anfang menschenfreundlicher Gesellschaft möglich gemacht haben im Vertrauen auf das Licht der Welt, das der ist, der den Weg vorangegangen ist, damit wir sicher wohnen sollen. 
Die Menschen hätten etwas gelernt aus den Krisen des letzten Jahres, schreibt ein bekannter Zukunftsforscher an der Schwelle zum neuen Jahr. Man hätte aus der Wirtschafts- und Finanzkrise gelernt, dass nicht nur Gewinn und Immer-Mehr und Haben-Müssen das Leben sinnvoll machen; man habe aus der ganz persönlichen Lebenstragödie des Robert Enke gelernt, dass nicht nur Leistung zähle, nicht nur Perfektion. Man würde im neuen Jahr wieder mehr auf die alten Werte setzen und erhoffe sich eine soziale Gesellschaft, in der Achtung vor den Schwachen herrschen und Nächstenliebe, Wärme und Geborgenheit. Diesem Wunsch muss nun die Bereitschaft folgen, selber hinzugehen zu denen, die am Rande stehen; zu widerstehen und zu widersprechen der Ungerechtigkeit und die Bereitschaft, zu teilen, was wir zum Leben haben! Dazu müssen  wir bereit sein, auch unseren persönlichen Lebensstil kritisch zu hinterfragen und ggf. zu ändern!
Der Glaube entdeckt neu das Staunen über die Schönheit und den Reichtum der Natur und die Fülle des Lebens! Und daraus leitet sich dann das Umdenken und Umhandeln her. Wir brauchen eine Kultur der Selbstbegrenzung, eine Ethik des Verzichts! 
 Dann sind wir auf dem Weg dessen, der der Weg und die Wahrheit und das Leben ist! Ob das neue Jahr ein gutes wird; ob die ersten Sätze eine gute Geschichte ergeben: das hängt an unseren unerschrockenen Herzen, an Herzen, die sich erreichen und erschüttern lassen, bewegen und öffnen. Herzen, die erfüllt sind von der Gewissheit, dass der Friede Gottes höher ist als unsere Vernunft. Denn dem Schrecklichen in der Welt begegnet man nicht mit Erschrecken, sondern mit beherztem Glauben, dass nicht der Schrecken das letzte Wort hat, sondern der, der sagt: siehe, ich mache alles neu.

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