LADELUND, 15. NOVEMBER 2009

Predigt am Volkstrauertag anlässlich des 65jährigen Gedenkens der KZ-Aussenstelle in Ladelund

19. November 2009 von Gothart Magaard

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch! Liebe Gemeinde in Ladelund! Wir sind hier heute zusammengekommen, zum Teil nach langer Anreise, um uns an die schrecklichen Ereignisse vor 65 Jahren zu erinnern. Jede Gesellschaft braucht eine Kultur der Erinnerung. In Deutschland wird heute der Volkstrauertag begangen in Erinnerung an die Opfer der beiden Weltkriege aus allen Völkern und in Erinnerung an die Opfer von Krieg und Terror in unserer Zeit. Ladelund ist ein besonderer Ort, führt er doch Menschen aus verschiedenen Ländern zusammen, vor allem aus den Niederlanden und Deutschland. Wir kommen zusammen, wir feiern Gottesdienst, wir gehen zu den Gräbern, legen Kränze an Gedenksteinen nieder, wir hören zu und schweigen und beten. Vergangenes wird ins Gedächtnis gerufen. Und damit wird dem Sog des Vergessens Einhalt geboten. 



Wir wissen alle, wie wichtig das ist. Im Takt der Generationen kann aus dem anfangs ganz breiten Strom der Erinnerung langsam ein schmales Rinnsal werden. Wer aber die Schrecken der Vergangenheit vergisst, mit ihren unsäglichen Taten und Untaten, mit ihren unsäglichen Schmerzen und Leiden, wer die Schrecken der Vergangenheit vergisst, der läuft Gefahr, sie zu wiederholen. Denn was sonst in der Welt bietet uns Schutz vor einer Wiederkehr von Nazi-Parolen und braunem Ungeist, von Rassismus und Menschen-verachtung, wenn nicht dies: dass wir eingedenk bleiben der Taten und Untaten unserer Väter und Vorväter, eingedenk ihre Opfer und Schmerzen - hier in Ladelund, in Putten und an all den vielen anderen Orten des Schreckens.

Erinnerung ist das Geheimnis der Menschwerdung. Wir ehren nicht nur die Toten, wenn wir, Ladelunder, Puttener und alle anderen, die heute gekommen sind, uns  hier und heute an das Geschehen vor 65 Jahren erinnern. Wir sorgen damit auch für uns selbst, für unsere eigene Menschwerdung und für die unserer Kinder und Kindeskinder.

Wie prägt man etwas so ein, dass es gegenwärtig bleibt? Für alle, die es miterlebt haben, ist an einem solchen Tag auf einen Schlag alles wieder lebendig, bestürzend lebendig auch nach Jahrzehnten noch, nach 65 Jahren. Den anderen muss man davon erzählen. Muss die Geschichten erzählen, die beispiellosen, beispielhaften Geschichten aus diesen beiden Monaten im Jahre 1944, und die beispiellosen und beispielhaften Geschichten aus den Jahren und Jahrzehnten von 1950 bis heute. Das war und ist Versöhnung über den Gräbern, das war und ist Vergebung ohne Vergessen. Das kleine Wunder von Ladelund und Putten.  

Ich bin dankbar dafür, dass wir in der vergangenen Woche einige Geschichten über Ladelund und Putten in den Morgenandachten im Radio hören durften. So sind viele Menschen in Norddeutschland aufmerksam geworden. Mich haben diese Andachten durch die Woche begleitet und erinnert an einen Besuch in Putten, den ich als Student 1982 mit einer Gruppe von Pastoren in Putten machen durfte, mit Pastor Richter. „Willst Du nicht mitkommen und diese besondere Geschichte kennen lernen?“, so war ich eingeladen worden. Die Gespräche, die Gastfreundschaft, die Kirche und viele Bilder wurden durch die Andachten im Radio wieder lebendig.  

Wir hörten im  Radio bewegende Geschichten. Etwa die von von Willem Torsius.
"Fünfzehn Jahre nach der Befreiung kam ich zum ersten Mal nach Ladelund. Und auf welche Weise? Das Herz voller Zweifel und mit Hass gefüllt. Einer meiner besten Freunde kommt zu Besuch und bringt einen deutschen Pastor mit. Er lud mich ein, nach Ladelund zu kommen. Ich bin gegangen, aber je näher ich an den Ort des Konzentrationslagers kam, desto stiller wurde ich. Ich hatte eine Heidenangst. In Ladelund wohnte ich als Gast im alten Pastorat. Nach dem Essen haben wir bis tief in die Nacht hinein geredet. Ich habe viel erzählt, der Pastor nicht; er hörte zu, korrigierte nicht, unterbrach nicht. Das hat sich mir unauslöschlich eingeprägt.“ Später, erzählt Wilhelm Torsius, sei es an der Zeit gewesen, zusammen zu beten. „Wir haben erfahren, dass die Macht betender Christen gewaltig ist“, schreibt er, und weiter: „Der Gang der Geschichte wird umgekehrt. Tatsächlich findet so eine echte Befreiung vom Hass statt. Hoffentlich lernen wir das alle und feiern auf diese Weise miteinander das Fest der Befreiung.“  

Beispiellos und beispielhaft auch der Weg von Pastor Johannes Meyer im Jahr 1944. Auf dem Friedhof  hat er mit den Gefangenen gebetet und die Toten aus dem Lager beerdigt. In einer Kammer in der Kirche führte er Gespräche mit den Häftlingen und versuchte, ihnen Essen mit zu bringen. Immer wieder hat er KZ-Vorgesetzte und Wachen darauf hinweisen müssen, dass er Hausherr auf dem Gelände sei. Pastor Meyer berichtete: „So wollte ein SS-Mann auch verbieten, ein schlichtes Holzkreuz auf das Massengrab zu setzen. Die Toten seien für ihn tot, meinte er. Aber für mich noch lange nicht, entgegnete ich. Es werde doch einmal Friede werden und der Hass unter den Nationen aufhören, dann würden bestimmt Angehörige kommen, um nach den Gräbern der Ihren zu sehen.“ Später schrieb er Briefe an die Angehörigen und die ersten Begegnungen folgten1950/51.  Die Zeitungen kommentierten die Entwicklung mit Staunen: „In der Gemeinde Putten, wo jedes Haus eine Anklage gegen die Deutschen ist, hat gestern Abend ein deutscher Pastor vor vielen Hunderten von Puttenern gesprochen. Gott hat das Unmögliche möglich gemacht.“  

Was mag Johannes Meyer, Parteigenosse wie viele Amtsbrüder, geleitet haben, - damals im November und Dezember 1944?  

War es eine Erinnerung an seine humanistische Bildung, das Beispiel der Antigone, die das Gesetz des Staates übertritt, um den toten Bruder zu beerdigen - "nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da"?  

Hatte er das Buch Tobit studiert, eine Spätschrift des Alten Testaments, deshalb nicht in allen Bibel enthalten? Sie erzählt von dem gottesfürtigen Tobit, der auch im Exil treu nach den Geboten der Schrift lebt: "Ich gab den Hungernden mein Brot und den Nackten meine Kleider; wenn ich sah, dass einer aus meinem Volk gestorben war und dass man seinen Leichnam hinter die Stadtmauer von Ninive geworfen hatte, begrub ich ihn."  

Oder war es so wie heute, und Pastor Johannes Meyer hatte an einem der Novembersonntage 1944 über das Gleichnis vom Weltenrichter zu predigen und las und hörte diese Worte, die wir heute als Evangelium hörten:  

„Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben? oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen? oder nackt und haben dich gekleidet? Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen?Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch:  Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“
(Matthäus 25)  

Und dann ist mir, als würde ich ihn sehen, den Pastor Johannes  Meyer in seinem Amtszimmer im Ladelunder Pastorat, wie er, die Heilige Schrift im Licht der Lampe auf dem Schreibtisch vor sich, diese Worte langsam meditiert, ihnen nachgeht, sie nachdenkt - nicht nur mit dem Kopf, auch mit dem Herzen.  

Herr, wann und wo habe ich dich hungrig gesehen, ausgemergelt und entkräftet? Wann und wo war das, an welcher Stelle, bei welcher Gelegenheit?  

Wann und wo habe ich dir zu essen gegeben, etwas von meinem Brot gebracht, eine Kanne Tee?  

Wann und wo habe ich dich nackt gesehen, mit nackten Füßen in der Pfütze stehend, nur klammer, grober Drillich am Körper, in der Hand die Schaufel mit Klei?  

Wann und wo habe ich dich krank gesehen, mit blutigen Striemen am Körper, gefangen hinter dem Lagerzaun, hingekauert auf den Pritschen in heillos überfüllten Baracken?

Lange sitzt er da, Pastor Johannes Meyer. Einmal steht er auf, nimmt ein theologisches Lexikon aus dem Regal. "Barmherzigkeit" heißt das Stichwort, das er aufschlägt. Von sieben Werken der Barmherzigkeit liest er da - die ersten sechs sind die, von denen er gerade im Evangelium gelesen hat:  

Hungrige speisen
Durstige tränken
Fremde beherbergen
Nackte kleiden
Kranke pflegen
Gefangene besuchen  

Das siebente ist von einem der Kirchenlehrer zur Zeit der Christenverfolgung hinzugefügt worden. Es ist genauso schlicht: Tote bestatten.  

Und dann steh da noch ein kurzes Gebet der frühen Christenheit:
„Lasst uns, solange es noch Zeit ist, Christus besuchen, Christus heilen, Christus nähren, Christus bekleiden, Christus beherbergen, Christus ehren.“  

Der Pastor Johannes Meyer stellt das Buch zurück ins Regal. Er hat genug gelesen und gedacht. Er weiß jetzt, was er morgen in der Kirche zu predigen und übermorgen auf dem Friedhof zu tun hat.  

Das Bild verschwindet vor meinen Augen.
Und ich sehe jetzt, 65 Jahre später, den kostbaren Kelch, der auf dem Altar steht.
Und ich erinnere mich, wie  Pastor Friedrich  am Donnerstag im Radio seine Geschichte erzählt hat:  

"Der Kelch steht für den Leidensweg der niederländischen Opfer. Er ist wie eine Aufforderung, alles sichtbar, durchsichtig zu machen, was geschehen ist. Die Überlebenden zu hören, die Zeugen zu befragen und so viel aufzuklären wie möglich. Der Kelch ist so durchsichtig wie die Tränen, die die Puttener Witwen und Waisen weinten. Er könnte ein Kelch voller unsichtbarer Tränen sein. Der Kelch ist immer leer gewesen, und er muss wohl auch weiter leer bleiben, weil der Albtraum des Lagers wie der Nazi-Diktatur Gott sei Dank vorbei ist. Er war für so viele mit Leid gefüllt bis an den höchsten Rand. Jetzt aber ist es ein Auferstehungskelch geworden, durchsichtig, licht, klar.  Woraus werden wir trinken am Tisch des Herren eines Tages? Vielleicht aus einem Kelch aus Glas, klar und rein, offen für das himmlische Licht. Dann wird gelten, woran die Menschen in Putten in aller Traurigkeit immer festgehalten haben: „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen“. Offenbarung  21 Vers 4. Auch das steht auf dem Kelch, den die Puttener der Ladelunder Kirchengemeinde 1951 geschenkt haben."    

Liebe Gemeinde,
wir können heute Gott dankbar sein, der Menschen in Putten und Ladelund bereit gemacht hat, sich die Hände zu reichen, sich gemeinsam zu erinnern und sich zu stärken für unser Leben in der Gegenwart. Wir können dankbar sein für die Menschen in Putten und Ladelund, die unermüdlich die Geschichten weitererzählen und dem Versöhnungswerk neue Impulse haben und geben – wie gut, dass es jetzt auch den Jugendaustausch gibt! Putten und Ladelund sind zwei kleine Orte, von denen aus das Licht der Hoffnung weit leuchtet! Amen    

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