24. DEZEMBER 2011 - ST. PETRI-DOM SCHLESWIG

Predigt an Heiligabend 2011

27. Dezember 2011 von Gerhard Ulrich

Liebe Gemeinde!
 Adi Preißler, ein Spieler bei Borussia Dortmund in den fünfziger Jahren, hat in einem Interview einmal das Geheimnis des Fußballspiels auf den Punkt gebracht: „Entscheidend is aufm Platz!“ – Und es ist, als hätte er damals den Werbeslogan eines Elektronikkonzerns schon gekannt.
 Das gilt für Weihnachten genauso: entscheidend ist nicht unterm Baum; entscheidend ist, was geschah – aufm Platz in Bethlehem. Als die Hirten, die Ärmsten der Armen, Licht sehen und die Angst ablegen. Als ein Kind geboren wird, in dem die Menschen Gott erkennen. Als Gott herunter kommt, hinein in das Dunkel der Welt, damit alles neu anfangen kann: 
„Die Hingabe des Herrn“ – so heißt das Gemälde des Hamburger Künst¬lers Wolf¬gang Klähn aus der Sammlung des Landesmuseums Schloss Gottorf. Eine Abbildung haben Sie in der Hand, in voller Größe ist es auf Schloss Gottorf zu bestaunen.
Auf den ersten Blick macht es einen chaotischen Eindruck: Verschlungen sind Formen und Farben. Irrsal und Wirrsal herrscht bei den Körpern.

Helle Farben vor dunklem Hintergrund. Hände wie Pflanzen, die die Lebensenergie tragen. Das Leben durchsichtig, wenn auch nicht durchschaubar. So empfinden wir das Leben, so erleben wir die Welt: als komplexe, immer weniger zu durchdringende Realität – alles hängt mit allem zusammen.
Wolfgang Klähn wurde 1929 geboren, in die Wirrnisse der Nazizeit hinein. Seine Hamburger Gymnasial-Klasse wurde evakuiert in das vom Deutschen Reich besetzte Böhmen. Vor der herannahenden Front flieht Klähn und sucht den Weg zu Fuß nach Hamburg. Und in aller Angst bewahrt er die Erinnerung an all die biblischen Geschichten, die seine fromme Großmutter ihm erzählt hatte, dem kleinen Jungen ins Ohr gesagt, von wo sie in seine Seele gewandert sind und ihm Kraft geben jetzt.
Naturwissenschaftler, Biologe wollte Wolfgang Klähn eigentlich werden, um den Anfängen des Lebendigen nachzuspüren. Alles künstlerische Schaffen hat Teil an der Schöpfung selbst. Aber jedem Willen des Künstlers muss etwas entgegenkommen, das nicht menschlicher Wille ist: „Am Anfang war die Wand“, sagt der alte Wolfgang Klähn heute – und erzählt, wie er 1952 den Auftrag bekam, Wände und Decke im kleinen Treppenhaus der Hamburger Kunsthalle zu bemalen; wie er nicht wusste, wie. Wie ein Gerüst aufgebaut wurde. Er also eingeklemmt im engen Treppenhaus direkt vor der Wand. Und wie plötzlich vor der leeren Wand all die aufgestaute Lebensenergie, alle Freude und Angst, Leid und Hoffnung sich entladen und in Form kommen, ganz von selbst. Lebensenergie, verkapselt und doch vital da.
Das ist wie die Weihnachtserfahrung der Menschen in der Heiligen Nacht, das ist unsere Sehnsucht: dass mancher Knoten im Leben platzt, dass Energie frei wird durch Sorge und Furcht hindurch.

Die Gesichter auf unserem Bild spiegeln das wider: Angst und Staunen, Zuversicht und Leid. Da ist Maria in der Mitte, dem Kind zugewandt. Und an demselben Körper ein zweiter Kopf, ein zweites Gesicht, sorgenvoll auf Jesus gerichtet, der als Zwölfjähriger im Tempel den Menschen das Wort auslegt, befeuert mit den Flammen des Geistes.
Und eine weitere Maria links am Bildrand. Sie schaut uns an, während ihre Hände das Kind umfangen: „Seht, da ist euer Gott“. Und oben rechts ohne Heiligenschein Josef, der besorgte irdische Vater: was soll werden aus dem Kind, das mit so großer Überzeugungskraft und Gewissheit in sich ruht, mit wachen Augen in die Welt schaut?!

Christus. Der Hingegebene. In ihm kommt das Bild zur Ruhe. Ganz besonders leuchtend der Knabe, der herunter gekommene Gott: Licht der Welt; Licht in der Finsternis der Menschen, die den Glauben aufgegeben und die Hoffnung fahren gelassen hatten.
So ist Weihnachten: Wie dieses Bild verstört und irritiert das Geschehen der Heiligen Nacht. Nicht zu verstehen nur mit dem Verstand. Gott wird Mensch, gibt sich hinein in die Welt, gehalten und gefangen in der Welt, wie alles Leben.

Hände bestimmen das Bild: Die Schöpferhände Gottes links oben und rechts unten – in Gelb gehalten, die Farbe, die der Maler Christus gibt, eine geistig-geistliche Hand – in Grün die biologisch-kreatürliche Hand des Schöpfers. Dazu Hände, die den Sohn Gottes halten und tragen – liebevolle Hände. Hände, die um Fassung ringen oder sich im Gebet zusammen finden: dieselben Hände!
Die, die zupacken und sich öffnen zum Teilen: dieselben Hände! Hände, die den toten Jesus vom Kreuz nehmen – hier lässt der Maler die Dämonen des Todesreiches nach Christus greifen. Und die Hände Jesu: das Kind reckt die Hände der Mutter entgegen, wie alle Kinder der Welt es tun. Der erwachsen gewordene Jesus segnet mit der einen Hand und empfängt selbst mit der anderen die Kraft aus der Höhe: „wie mich mein Vater gesandt hat, so sende ich Euch“. Hingabe bei Christus heißt: Sich hineingeben in die Welt. Sich hineingeben in ein Leben. Sich in die Hände von Menschen begeben, in die Wirrnisse und Irrsale der Welt. Selbst Teil davon werden.
Gott wird Mensch; uns gleich und anders zugleich.
Neben den Händen bestimmen die Augen das Bild. Augen, die staunend das Leben empfangen und entsetzt die Welt sehen: dieselben Augen.
So lehrt das Weihnachtsgeschehen uns, von Anfang an genau hinzusehen, wie alles zusammenhängt, wie alles aus allem wächst. Wie aus dem Kind Jesus ein Erwachsener wird, der mutig streitet, der nicht stillhält den Mächten, sondern Widerstand leistet. Der darauf besteht, dass nicht wir die Herren der Welt sind, sondern Gott der Vater allen Lebens ist.
Dieser Christus lehrt das Hinsehen, das Unterscheiden.
Ja, es ist zum Entsetzen, was sich unseren Augen bietet: die Armut, der Hunger der Millionen ist nicht hinnehmbar, kann uns nicht ruhig schlafen lassen! Es ist genug für alle da – aber es ist nicht geteilt. Gerechtigkeit geht anders!
Wenn ich auf dieses Kind schaue, dann darf es nicht bleiben, dass Menschen nicht wissen, wohin mit ihrem Geld, dass Rettungsschirme aufgehen über Banken und Staaten – und kein Schirm in Sicht ist für die Hungernden dieser Welt!
Es darf nicht sein, wenn ich auf dieses Kind im Stall schaue, dass es so bleibt, dass der Hunger nach Energie die Erde auslaugt und immer mehr Menschen nicht Wasser haben, abgeschnitten sind vom Urelement des Lebens, austrocknen an Leib und Seele – weil ökonomische Interessen die Welt regieren und bestimmen, wo es lang geht! Da gehen uns die Augen über und Hände ringen um Umkehr!
Weihnachtliche Augen sehen aber auch das andere, die Wirklichkeit Gottes in der Welt. Sehen die gar nicht selbstverständliche Fülle; sehen, dass Liebe und Frieden möglich sind; sehen, dass da einer vormacht, wie man Geknickte aufrichten und Hoffnungslose ermutigen kann; sehen, dass Schuldigen vergeben wird; sehen, dass Fremde aufgenommen werden und nicht gejagt oder umgebracht; sehen, dass Opfer von Gewalt und Missbrauch neu ins Leben finden. Sehen, dass Weihnachten eben nicht unterm Baum entschieden wird! Lernen, dass Gier eben nicht ins Leben führt, sondern ans Ende! Dass Fülle nicht die Erfüllung aller Wünsche bedeutet, sondern Licht und Leben für alle, nicht Nehmen nur, sondern Teilen. So, wie wir das versuchen, wenn wir einander beschenken. Weihnachten entscheidet sich am Geschenk des Einen für alle Menschen - umsonst!

Entscheidend ist aufm Platz: „Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude!“ Für die, die das hören zuerst, beginnt das Leben neu, als sich plötzlich der Himmel auftut.
So fängt es an, wenn die Liebe Platz greift, und wenn die Ärmsten, die Schwächsten in den Mittelpunkt rücken. So fängt das neue Leben an! Und alle, die beglückt und beschenkt sind in dieser Weihnacht; alle, die ergriffen werden von dem Gesang und dem Licht aus der Höhe und die mitsingen „O du fröhliche, o du selige: Gnaden bringende Weihnachtszeit“ – die werden auf die Beine kommen wie die Hirten damals, und gehen und suchen nach den Spuren Gottes in der Welt und finden den Jesus, der Friedfertige selig preist. Die werden hinaus gehen wieder wie die Hirten und den Mund auftun und dem Hass und der Gewalt die Stirn bieten, wie an vielen Orten dieser Welt in diesen Tagen. Und werden wissen, dass der Kreislauf von Geld und Macht und Abhängigkeit nicht alles ist, und werden fragen nach Gerechtigkeit für alle. Und werden die Hände öffnen und teilen mit denen, die nicht haben, was zum Leben nötig ist.

„Fürchtet euch nicht“: Gutes und Schlimmes - und Gott mittendrin. Gottes Sohn dazwischen mit klarem Blick und fester Haltung: hingegeben der eine in jeder Phase seines Lebens, bis ans Kreuz und darüber hinaus. Überall nahe.
Gott in meinen Tagen, wenn es mir zu bunt wird, wenn ich nicht mehr recht weiß, wie alles geschafft werden kann.
Gott in Euren, in Ihren Lebenswelten, in dem bunten Treiben und an den tristen Tagen, wenn etwas gut geht, wenn was danebengeht, wenn nichts mehr geht oder alles möglich wird – da sind wir mit Gott verstrickt – und darum nicht allein.
Das ist doch unsere Sehnsucht: dass einer den klaren Blick behält, dass einer das Verwirrte entwirrt; dass einer sagen kann, wo es lang gehen kann mit der Welt, mit uns. Dass einer Licht in das Dunkel bringt. Dass einer ein Ende weiß für alle Angst; dass wir nicht allein bleiben, nicht ausgeliefert bleiben all dem, was gierig nach uns greift:
„Fürchtet euch nicht, denn siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren ist. Denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr…“ Entscheidend is also aufm Platz: mitten ins Dunkel hinein – ein Licht.
Mitten in die Trübsal hinein: Freude.
Mitten in die Gewöhnung hinein: neues Leben.
Mitten in die Gottlosigkeit hinein: Seht, da ist euer Gott.
Frohe Weihnachten: es gibt mehr als alles, was wir uns vorstellen können, mehr als wir verstehen, mehr als wir begreifen können – Gott sei Dank! Aufm Platz hat er sich entschieden: für uns, damit wir Leben haben die Fülle!
Amen.

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