Predigt anlässlich des Buß- und Bettagsgottesdienstes mit Schleswiger Schülerinnen und Schülern im St.Petri-Dom
19. November 2009
"Buß- und Bettag" - das klingt etwas düster in unseren Ohren. Sagen wir lieber: Ein Tag der Selbstbesinnung und des Umdenken, ein Tag zum Nachdenken über Irrtümer im eigenen Leben oder in der Gesellschaft. Nicht nur die Verpackung sehen, die Oberfläche. Auch hinter die Kulissen schauen, auch in die Tiefe gehen. Die eigene Untiefe. Wir alle sind bequem. Gehen gern den Weg des geringsten Widerstandes. Drücken uns um die unangenehmen Sachen herum. Verdrängen die Wahrheit - manchmal auch die über uns selbst.
Dabei ist es gerade der andere Weg, der uns Menschen Ehre macht. Dass wir eben nicht vor uns selbst davonlaufen. Sondern die Kraft und den Mut aufbringen, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen und zu unseren Taten zu stehen und zu sagen:
"Es war meine Schuld. Ich habe etwas falsch gemacht. Ich sehe das ein. Bitte, gebt mir eine neue Chance."
Dieser Weg: innehalten, sich selbst ins Gesicht sehen, umkehren auf dem falschen Weg und einen Neuanfang suchen - das meint die Bibel, wenn sie von "Buße" spricht. Und sie macht uns Mut, diesen manchmal schmerzhaften Weg auch zu gehen. Was hindert uns daran? - Bequemlichkeit, Stolz vielleicht oder Trotz?
Ich bin richtig beeindruckt von den vielen Namen, die hinten auf der Gottesdienstordnung stehen. Das ist schon toll, wie viele von Euch mit großem Engagement, mit Lust und ganz viel Kreativität diesen Gottesdienst vorbereitet haben. Faszinierend finde ich die Deutung, die ihr den Bildern von Gert Lebjedzinski gegeben habt. Dieses Wortspiel - "Lebensmittel" und „Lebensmitte“.
Ich schaue mir noch einmal die Bilder an.
Das Gewand - es steht für das Materielle. Die Sachen, das, was uns wärmt und kleidet. Und wir wissen: Armut tut weh, Hunger erst recht - wenn Du nicht weißt, wovon Du bis zum 15. des Monats leben sollst, und schon wieder eine Rechnung gekommen ist und die Kinder dringend neue Schuhe brauchen, weil der Winter kommt und Du doch ohnehin schon drei Mieten im Rückstand bist. Und Du weißt aber auch: Kleider machen Leute, man muss sich eben richtig stylen, um anzukommen und Erfolg zu haben, und natürlich gilt: Haste was, so biste was. Mein Auto, mein Handy, meine neuen Schuhe usw. usw. Aber sollte das Haben alles sein? Muss es im Leben nicht mehr als alles geben? Nicht nur bloße Mittel zum Zweck, sondern eine Mitte, die das Ganze zusammenhält, damit es nicht in lauter Einzelteile, lauter Bruchstücke auseinander fällt?
Das Gesicht mit den großen Augen – es steht für die soziale Dimension, für Mit- Menschlichkeit.
Ein vertrautes Du, Nähe, Bejahung, Liebe. Könnten wir ohne sie leben?
Eine uralte Chronik berichtet: Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen wollte die Ursprache der Menschen finden. Er glaubte, sie entdecken zu können, wenn beobachtet werde, in welcher Sprache Kinder zu reden anfangen, mit denen vorher niemand gesprochen hat. Sie sollten Milch bekommen und gewaschen werden, aber keiner sollte mit ihnen sprechen oder anderen Kontakt suchen. Aber man mühte sich vergebens, weil die Kinder starben. Denn sie vermochten nicht zu leben ohne Kontakt durch das Händepatschen und das fröhliche Gesichterschneiden und Worte und Lieder ihrer Mitmenschen. Ohne Zuwendung, ohne ein Du verkümmern wir. Und auch das wisst ihr:
Manchmal, wenn Du ganz tief unten bist, und die Einsamkeit über Dir zusammen schlägt,
dann brauchst Du einen Freund, der Dich bei der Hand nimmt, oder eine Freundin, die Dich ins Leben zurückführt.
Du brauchst ihn oder sie dann nötiger als alles Geld, allen Erfolg. Der Mensch lebt eben nicht vom Brot allein, Worte sind die Nahrung unseres Gemütes. Sie sind das unsichtbare Haus, das uns schützt. Gute Worte können Menschen beflügeln und sie bis in den Himmel heben: Du, ich finde es richtig gut, wie du das machst, oder: Du, ich kann Dich gut leiden! Böse Worte können Existenzen vernichten und Menschen das Leben zur Hölle werden lassen. "Rufmord" nennen wir das oder Mobbing: Gerede, Gerüchte, Halbwahrheiten, Intrigen.
Ja, und schließlich das Bild mit dem angeschnittenen Brot. Es ist ein Lebensmittel und steht zugleich für das Religiöse. Es war das Verdienst Martin Luthers, die Brotbitte im Vater unser auf das alltägliche Brot zu beziehen. Und auf alles auszudehnen, was wir notwendig zum Leben bedürfen: Essen und Trinken, Kleider, Schuh, Geld, Gemahl, Kinder, Friede, Gesundheit usw. Dazu kommt aus meiner Sicht folgender Grundsatz: Wer um das tägliche Brot bittet, kann es nicht nur für sich allein erbitten, sondern für nur alle Menschen. Und damit wird diese Bitte politisch relevant in einer Gesellschaft von Überfluss und Kinderarmut! Erst recht, wenn wir den wachsenden Hunger weltweit sehen.
Auf dem Bild sehe ich ein Kreuz auf dem Brot, wie man es manchmal auch noch heute in Brotlaibe vor dem Backen einritzt. Das Zeichen des Kreuzes, das eine ganz klare Mitte hat - da, wo die beiden Achsen, die Horizontale und Vertikale zusammenstoßen. Ist das der Dreh- und Angelpunkt? Geht es da um Beides, um das Brot als ein "Mittel" zum Leben und genauso auch um das andere, um die "Mitte" des Lebens und vielleicht sogar die Mitte der Welt?
Ich denke zurück an die Lesung aus dem Johannesevangelium, wo Christus sagt:
Gottes Brot ist das, das vom Himmel kommt und der Welt das Leben schenkt. Dann die Bitte der Zuhörer: Herr, gib uns allezeit solches Brot. Und danach dieser geheimnisvolle Satz: „Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, wird niemals wieder Hunger leiden; und wer an mich glaubt, wird nie wieder Durst haben.“
Er selbst - der Mann, der das Kreuz trug und am Kreuz starb: er soll das Brot sein, das allen Hunger und Durst nach Leben stillt? Die Mitte des Lebens und die Mitte der Welt?
Und ich schaue auf das große Kreuz über der Leinwand mit den Bildern.
Und je länger ich hinschaue, desto klarer sehe ich den Dreh- und Angelpunkt des Lebens. Ich sehe, wovon wir Menschen leben und woran wir Menschen sterben.
Das Kreuz und der Gekreuzigte hält uns einen Spiegel vor. Ich sehe, was passieren kann, wenn ein Mensch in die Hände von Menschen fällt, welche Scheußlichkeiten da begangen werden, und wie der Sadismus des Menschen gegen seine Artgenossen keine Grenze kennt.
Aber ich sehe noch mehr. Wie in einer Überblendung, wo die Bilder ineinander übergehen, sehe ich plötzlich auch das Bild eines ganz menschlichen Menschen. Der aufrecht durchs Leben geht und mir ganz offen, mit ausgebreiteten Armen entgegenkommt. Im Kreuz zeigt Gott: Du bist mir recht, auch mit deinen Fehlern und deinen Schwächen und auch mit deiner Schuld. Denn: ich liebe dich. Ich weiche nicht zurück.
Es ist paradox. Was zunächst nach Niederlage und Schandmal aussieht, wird zum zentralen Symbol für das Heilshandeln Gottes. Christus wird buchstäblich auf die Haltung festgenagelt, die er als einzige beansprucht hat - mit weit offenen Armen, voller Vertrauen, Offenheit, Liebe. Und genauso kommt er an den Platz, der tatsächlich sein Ort ist, an das Kreuz: in die Mitte zwischen Himmel und Erde, zwischen Gott und Mensch. Als der Mittler, der den Dreh- und Angelpunkt bezeichnet, die Mitte des Lebens und die Mitte der Welt, wo kein Abstand mehr ist zwischen Mensch und Gott und Gott und Mensch: Wo Du aufrecht sein kannst, offen und verwundbar.
Und so sehe ich Christus, den Gekreuzigten. Er ist und bleibt ein Spiegel und eine Anfrage für mich: „Wo stehst du selbst? Wofür stehst du unbedingt ein, was zählt für dich?“ Gibt es solche Überzeugungen für Dich - oder bist du unentschieden oder zu feige? Stehst du für die Liebe oder den Hass ein? Oder kennst Du gar keine Mitte mehr in Deinem Leben, nur noch irgendwelche Lebensmittel?“
"Buße" ist Selbstbesinnung, Einsicht, Selbstprüfung. Nicht nur die Oberfläche sehen. Auch sich der eigenen Untiefe stellen. Und das kann gut tun, weil es einen Neuanfang ermöglicht. Was hindert Dich also, diesen Weg zu gehen? Christus ermutigt dazu und so befreit er uns zur Menschlichkeit. Und könnte es nicht sein, dass er uns so vertrauensvoll ansieht wie auf diesem Bild?
Amen