Predigt Heiligabend 2011 in Lübtheen
24. Dezember 2011
Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. AMEN.
Liebe Gemeinde!
„Es war einmal ein frommer Mann, der wollte schon in diesem Leben in den Himmel kommen. Darum bemühte er sich ständig in den Werken der Frömmigkeit und der Selbstverleugnung. So stieg er auf der Stufenleiter der Vollkommenheit immer weiter empor, bis er eines Tages mit seinem Haupt in den Himmel ragte. Aber er war sehr enttäuscht: Sein Himmel war dunkel, er wirkte leer und kalt. Denn Gott lag auf Erden in einer Krippe.“
Diese kurze Szene fängt ein, was Weihnachten geschieht: Himmel auf Erden! Gott kommt zur Welt! In einer gewöhnlichen Futterkrippe im unscheinbaren Bethlehem beginnt das Heil aller Menschen seinen Weg. Ein Zauber breitet sich aus in dieser heiligen Nacht. Und noch 2000 Jahre später spüren Menschen, dass man dieses Fest nicht „machen“ kann, sondern dass es ein Geschenk ist – ein Geschenk des Himmels.
Liebe Schwestern und Brüder, woran liegt es, dass Weihnachten durch die Jahrhunderte hindurch seine Leuchtkraft behalten hat? Es hängt wohl damit zusammen, dass die Geschichte von der Geburt Jesu Christi im Stall zu Bethlehem etwas anderes ist und viel mehr als ein Bericht von längst Vergangenem. In Wahrheit ist es unsere Geschichte. Denn sie erzählt den Anfang unserer Menschwerdung.
Bethlehem – wörtlich übersetzt „Haus des Brotes“ – ist weit mehr als die kleine Stadt 20 km südlich von Jerusalem vor zwei Jahrtausenden. Bethlehem ist überall da, wo Menschen erwachen zu der Menschlichkeit, zu der Gott sie berufen hat:
wo sie hungern und dürsten nach Gerechtigkeit
wo Menschen sich sehnen nach Frieden und Versöhnung
wo sie auf der Suche sind nach erfülltem Leben.
Um es mit Eugen Drewermann zu sagen: „Bethlehem scheint der Ort zu sein, wo man das Unscheinbare so sieht, als wäre es das Eigentliche, wo es möglich ist, in kleinen Kindern eine große Zukunft zu erkennen.“ Denn in der Gestalt eines Kindes kommt Gott in unsere Wirklichkeit, um uns Mut zu machen, gerade das Unfertige, noch Unerwachsene als schönstes Gleichnis Gottes wahrzunehmen.
Liebe Gemeinde, das berührt unser wahres Wesen. Denn „in jedem Menschen wartet Gott darauf, von neuem die Augen aufzuschlagen“. Er möchte neu geboren werden in uns. Er sehnt sich danach, unser Leben neu zu beseelen. Darum steht die Krippe von Bethlehem in jedem unserer Herzen. Hier will Gott zur Welt kommen.
Und er ist schon da: Unauslöschlich tragen wir das Bild Gottes auf dem Grund unserer Seele. Es mag verschüttet sein unter Alltäglichkeit, Sorgen und Zweifeln, aber es ist da – das Urbild eines Menschen, wie Gott ihn in uns hineingeträumt hat. Es braucht nur besondere Augen, um dieses Bild Gottes in uns zu sehen.
Von Claude Monet, dem großen impressionistischen Maler, wird eine schöne kleine Begebenheit berichtet: An seinem achtzigsten Geburtstag kam ein Kameramann aus Paris und wollte ihn fotografieren. Monet antwortete gelassen: „Kommen Sie im nächsten Frühjahr wieder und fotografieren sie meine Blumen im Garten – die sehen mir ähnlicher als ich.“
Ich liebe diese kleine Geschichte, denn hier hat ein Mensch wirklich etwas von seinem wahren Wesen verstanden: Trotz seiner achtzig Jahre sieht er das Blühende in sich, das Schöne, das noch werden will. Die Gartenblumen des Frühjahrs sind ihm tatsächlich ähnlicher als das Foto seines alt gewordenen Gesichtes. Entsprechend und in diesem Sinn wünsche ich Ihnen und mir an diesem Weihnachtsabend, dass wir uns sehen lernen, wie wir von Gott gemeint sind, dass wir hindurchdringen zu unserem wahren Selbst.
Gut möglich, dass wir dann einem zarten Wesen in uns begegnen, das endlich leben möchte – einem zarten verletzbaren Wesen, das endlich frei sein möchte von all den Zwängen unserer erwachsenen Rollen. Wäre das nicht ein wunderbares Geschenk zu Weihnachten, wenn wir uns gegenseitig mehr Freiheit gewährten – Freiheit für dieses kindlich unfertige Wesen in uns, dem noch so viel möglich ist? Wenn wir uns nicht mehr gegenseitig festlegten auf die starren Bilder voneinander, sondern uns stattdessen neu begegneten?
Ich bin überzeugt: Gott traut uns das zu. Gott traut uns zu, dass unser Herz zu einer Krippe wird und wir die Fähigkeit erlangen, auch in anderen Menschen den Widerschein Gottes zu erblicken. Wir können das, wenn wir das Gute und Schöne, das noch werden will, auch in uns selbst erkennen.
„Fürchtet euch nicht“, rufen die Engel in der heiligen Nacht. ‚Fürchtet euch nicht vor der Verwandlung, durch die Begegnung mit Gott.’
Liebe Gemeinde, manche, mancher unter uns wird vielleicht denken: Das ist mir zu süß und harmonisch. Mein Leben ist anders – härter, fordernder, gnadenloser. Wenn ich mich nicht hart mache, gehe ich unter in dieser Ellenbogengesellschaft. Und spricht nicht die brutale Wirklichkeit dieser Welt eben diese Sprache? Denkt doch nur an die Morde des rechtsextremen Terrors an ausländischen Mitbürgern – mitten in unserem Land! Morde, die aus dem braunen Ungeist erwachsen, der es sich herausnimmt, nach eigener Wahl Menschen, die bei uns wohnen, die mit uns leben, die gottgegebene Würde abzusprechen, sie als Menschen zweite Klasse herabzusetzen, sie zu jagen! Die schöne Botschaft der Engel: Sie taugt vielleicht für eine heilige Nacht, aber nicht für die Realitäten des Tages. So könnte man meinen.
Schwestern und Brüder, ich will diese Einwände nicht einfach vom Tisch wischen – verweisen sie doch darauf, dass Weihnachten alles andere ist als ein harmloses Fest: Wenn Gott in Jesus Christus zur Welt kommt, dann deshalb, weil es um Rettung geht, um ein Leben, das dem Tod standhält. Nicht nur, dass der kleine Jesus vom Beginn seines Lebens an gefährdet war, ins Ausland fliehen musste, weil ein Mächtiger das Recht in die eigene Hand nahm und die neugeborenen Jungen Betlehems töten ließ. Nicht nur, dass Jesus dann drei Jahre lang Asylant in Ägypten war. Nein, das ganze Leben Jesu stand im Zeichen seiner Bereitschaft, dem Tod nicht auszuweichen, sondern sich hinzugeben um des Lebens willen. Darum ist das zentrale Symbol der Christen das Kreuz. Es macht deutlich: Jesus, der Jude aus Nazareth, die Mensch gewordene Liebe Gottes, gab sein Leben, damit wir nicht in Gottesferne verloren gehen, damit wir versöhnt werden mit Gott. Diese Hingabe Jesu hat überwunden, was trennt – die Macht und die Knechtschaft des Todes. Sie kostete Jesus das Leben, aber sie brachte den Sieg des Lebens hervor. Nicht der Tod behält das letzte Wort, sondern Gott. Denn Gott hat Christus zu neuem Leben erweckt. Mit ihm sollen auch wir leben – über den Tod hinaus.
Ja, es geht um die harten Realitäten unseres Lebens: um Lebenschancen für alle – ohne Ausnahme, um Gerechtigkeit, um ein Leben, das wirklich Sinn hat. Dafür steht Gott ein, aber nicht als der große Zampano, der kurzerhand alles mit seiner Macht regelt. Nein, Weihnachten macht deutlich: Gott hat sich für den Weg der Liebe entschieden. Und er fragt dich und mich, ob wir uns mit ihm auf diesen Weg machen wollen. Es ist unsere Entscheidung.
Das Schöne an Weihnachten ist: Uns wird nicht einfach unsere Verantwortung vorgehalten. Gott nimmt uns vielmehr hinein in eine verlockende Geschichte – eine Geschichte voller Möglichkeit und Einladung:
Da steht ein Mann zu seiner Frau, auch wenn seine Ehre anderes verlangt hätte.
Einfache Hirten haben himmlische Visionen.
Weise verlassen ihr Zuhause und folgen sehnsüchtig einem Stern.
Mensch und Tier sind einander Freund.
Und ein Kind in der Futterkrippe wird zum Brot des Lebens.
Schwestern und Brüder, das ist die Einladung:
wie Josef zu unserer tiefen Liebe zu halten, auch wenn wir sie nicht immer verstehen,
wie die Hirten gelegentlich mehr dem Herzen zu trauen als dem bloßen Verstand,
wie die Weisen aufzubrechen aus Gewohnheit und Alltag und dem Stern ihres Sehnens zu folgen.
Wir sind eingeladen, mit den Tieren und aller Kreatur in Frieden zu leben.
Wir sind eingeladen, den Hunger unseres Lebens durch Gott zu stillen und anderen von unserem Brot weiterzugeben.
Das ist dann – Himmel auf Erden! Gott kommt zur Welt! Mitten in unserm Leben – „fürchtet euch nicht“, vor nichts und vor niemandem.
AMEN.