Predigt über ein Gemälde aus dem Bilderzyklus "Das Leben Christi" von Emil Nolde
24. Dezember 2010
Liebe Gemeinde! „Stille Nacht, heilige Nacht“ – welch ein Zauber! „Vergiß es, Alter, vergiß es! Gibt dir keine Mühe: Zauber? Stille Nacht? Einlullende Töne sind das. Es gibt kein Zauber: Rauhe Wirklichkeit da draußen. Kälte – nicht nur im Schnee. Da ist Gewalt, Unfrieden, Ungerechtigkeit.
Kein holder Knabe rettet da: wer stark ist, hat Macht, wer reich ist, bestimmt den Gang der Dinge. Rette sich, wer kann, musst du singen. Nicht Lieb aus deinem göttlichen Mund: Ansage brauchen wir, klare Ansage, wo es lang geht: kannst du vergessen, die Klänge! Weihnachten brauchen wir nicht!“Nein, mein Lieber, du irrst: das kannst du vergessen in dieser Nacht: dein Wehklagen, dein Gegrummel. Denn da ist Ansage, klare Ansage:
„Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht; und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell“!
Weltenwende wird da angesagt: Licht im Dunkel. Den Verzagten, den Müden, denen mit wankenden Knien ruft der Prophet Gottes Verheißung in´s Gedächtnis. Alles, was ihr mit Trauer anschaut: Elend, Zerstörung, Morden, Ungerechtigkeit – alles das wird nicht mehr sein! Denn da kommt einer, der anders ist und anders herrscht als die Welt das kennt und gewohnt ist: Da kommt der Wunder-Rat, der Friede-Fürst.
Fürchtet euch nicht, sagt der Engel: Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr.
II
Da kommt etwas in einer Selbstverständlichkeit daher, was sich so ganz und gar nicht von selbst versteht. Und darum ist es ja richtig, sich hin und wieder die Frage zu stellen, brauchen wir den, der da kommt eigentlich? Oder anders gefragt: Brauchen wir Weihnachten?
Selbstverständlich brauchen wir Weihnachten!
Um Gottes willen und um der Menschen willen brauchen wir Weihnachten!Um Gottes willen: Denn Gott, wie er uns in der gesamten Bibel erzählt wird, bleibt nicht irgendwo im Himmel. Er wollte und will herunter kommen und dabei sein! Er will den Menschen die power seines göttlichen Geistes einhauchen, damit sie beflügelt werden zum guten Leben. Der Gott der Bibel bringt Glaube, Liebe und Hoffnung in die Welt – und ohne Glaube, Liebe und Hoffnung ist alles – nichts!Um der Menschen willen brauchen wir Weihnachten: Bei allem Gerede von Säkularisierung und Gottvergessenheit nehme ich wahr eine tiefe Sehnsucht bei vielen Menschen. Und ich spüre sie bei mir selbst. Eine tiefe Sehnsucht nach Liebe und Hoffnung für das Leben und für die Welt. Eine Sehnsucht und ein Fragen nach dem, was eben nicht aufgeht in dem, was wir wissen, berechnen und erklären können. Viele fragen nach dem Sinn des Lebens, viele fragen nach einer guten Zukunft der Welt.“Fürchtet Euch nicht“, ruft der Engel den Hirten zu, denen, die im Dunkel sitzen, die nicht wissen, wohin sie gehören und die sich nichts zutrauen. Sie lassen sich treffen von der frohen Botschaft, kommen auf die Beine, gehen hin zum Stall und von dort wieder in den Alltag zurück. Sagen weiter, was sie gesehen haben: da ist einer, der will, dass alle gleichermaßen teilhaben an dem Reichtum dieser Welt; da ist einer, der nicht will, dass Völker mit Gewalt beherrscht und Menschen in die Flucht geschlagen werden; da ist einer, der nicht will, dass Menschen von der Hand in den Mund leben; da ist einer gekommen, der eintritt für die Schwachen und Elenden. Das sehen die Menschen in dem Kind im Stall; das erleben sie mit ihm, als sie mit ihm unterwegs sind bis hin zum Kreuz auf Golgatha: einer, der die Verheißungen Gottes, dass die Welt sich verwandeln kann, dass nichts bleiben muss, wie es ist, einlöst und mit seinem Leben dafür einsteht! Und der uns hilft, den Mund aufzutun: einzutreten für Gerechtigkeit; aufmerksam zu machen auf den Graben zwischen Reich und Arm; der uns hilft, die Hände aufzutun, damit wir endlich teilen das, was uns zum Leben gegeben ist. Da ist einer, der nicht will, dass wir in Angst leben vor Terror und Grausamkeit, Verachtung und Einsamkeit. Da ist einer gekommen, der alle Angst beiseite lieben kann: wir sind wertvoll bei Gott, nicht weil wir so tolle Dinge leisten, sondern weil wir seine geliebten Geschöpfe sind. Und zwar alle gleichermaßen. Auch die Fremden aus welchen Kulturen auch immer. Wer dieses Kind im Stall sieht, der kann sich nicht zufrieden geben mit Gewalt gegen Kinder und große Menschen; der kann nicht hinnehmen, dass man aus „gutem Hause“ sein muss, um teilzuhaben an Bildung und Kultur. Der Friede aus der Höhe, der himmlische Frieden macht ein Ende mit Hass und Verfolgung – und er will anfangen bei mir und bei dir: fürchte dich nicht!
Weihnachten steht für eine Vision, die Gott und Mensch verbindet: „Friede auf Erden – und den Menschen ein Wohlgefallen!“ Das ist eine göttliche Botschaft, die ihre dynamische Kraft entfaltet – seitdem damals im Stall von Bethlehem Gott auf diese Erde kam.
Also: Vergiß ihn nicht, den Zauber. Hol ihn dir hinein in dein Leben – mit den Kerzen, den Tannebäumen, den Geschenken, den leuchtenden Kinderaugen: „…Lieb aus deinem göttlichen Mund, da uns schlägt die rettende Stund’…“
III
Ich schaue auf das Gemälde von Emil Nolde auf der Karte, die Sie alle bekommen haben. Viele von Ihnen, so vermute ich, werden ebenso wie ich schon vor dem Original gesessen haben, im Keller des Hauses in Seebüll. Das Gemälde ist ein Teil des Bilderzyklus „Das Leben Christi“.
Verstörend direkt stellt Nolde ins Zentrum, worauf es ihm ankommt – Maria und das Kind. Josef dunkel im Hintergrund links – doch auch auf sein Gesicht fällt ein Schimmer des Glanzes aus der Höhe. Der Esel dunkel rechts am Bildrand, friedlich fressend. Ein Zeichen für die biblische Hoffnung, dass Mensch und Tier friedlich beieinander wohnen werden, Zeichen für den Frieden dieser Nacht.
Im Türausschnitt sind die herbei eilenden Hirten zu erkennen. Sie haben sich aufgemacht, um zu sehen, was die Engel ihnen da unglaubliches zugerufen oder eingeflüstert hat: „Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird…“ Auf den ersten Hirten fällt bereits ein Schimmer des Glanzes aus der Höhe. Die anderen stolpern noch hinterher – aber auch sie haben sich in Bewegung gesetzt – sie wollen sehen, ob sie stimmt, diese welt-wendende Geschichte.Und da ist die Dynamik der Bewegung bei Maria – ihr Kind hält sie strahlend in die Höhe, hinauf zu dem Stern dort oben rechts. Eine doppelte Bewegung, eine Dynamik des Miteinanders von Gott und Mensch, von Himmel und Erde. Maria hält ihr Kind direkt Gott hin. So wird das Kind selbst zu einem leuchtenden Stern in der Nacht, noch ganz der Mutter zugewandt. Gott sendet seinen Glanz direkt Maria in´s Gesicht. Eine lichtvolle Dynamik von unten links nach oben rechts – und von oben rechts nach unten links. Und das alles in klaren Farben; eine Szene von anrührender Einfachheit. Nur die Grundfarben und ihre Komplementäre benutzt Emil Nolde. Heilsam elementar, heilsam vereinfachend – so hat der Maler hier das Wunder der Heiligen Nacht auf die Bildtafel gebannt. Weil das der Zauber der Nacht auch ist: dass Gott hinein kommt in diese komplexe, verwirrende Welt, in die Unübersichtlichkeit: ganz einfach, als Kind. Diese einfache Botschaft birgt das Umwerfende, das Erlösende, dem unsere Sehnsucht gilt: einfach leben, einmal frei sein von dem komplizierten Lebenszusammenhängen. Die Grundfarben des Lebens: sie sind einfach. Und sie entsprechen einander: die Liebe und die Gemeinschaft; die Nacht und das Licht; die Menschen und die Tiere; Gott und Mensch. Von dieser Einfachheit und in dieser Einfachheit leben wir, dürfen wir leben. Wir müssen nicht alles verstehen. Nur dies: du musst dich nicht fürchten. Gott ist in der Welt.
„Herr, ich werfe meine Freude wie Vögel an den Himmel. Die Nacht ist verflattert. Ein neuer Tag aus deiner Liebe, Herr, ich danke dir…“ An diesen Kanon aus Afrika denke ich, wenn ich Maria mit dem Kind sehe: Freude an den Himmel werfen; Leichtigkeit darf sein, alles Schwere darf hinter mir bleiben, ist nicht das einzige, was mein Leben bestimmt, „…da uns schlägt die rettende Stund, Christ, in deiner Geburt…“
Die Freude bricht aus Maria heraus. Die Maria hier, sie ist mir ein Urbild dafür, dass wir Beschenkte sind. Von Gott beschenkte Menschen – zur Weihnachtszeit, aber eben auch nicht nur zur Weihnachtszeit! Ja, dass wir Beschenkte sind, trotz allem, was uns ärgert und die Sinne benebelt. Trotz mancher Verzweiflung über andere und uns selbst. Trotz allen Kriegswütens nicht nur in Afghanistan und trotz aller Engstirnigkeit, die verhindert, dass dringende Zukunftsaufgaben endlich angepackt werden. Ja, Beschenkte sind wir – so wie auch das ungewickelte Kind dort in seiner nach Schutz schreienden Nacktheit. Beschenkt und ausgerüstet mit vielen Gaben und Fähigkeiten, mit Händen, die teilen können, mit Mündern, die sich öffnen können, um zu erbeben die Stimme für die Schwachen und Elenden. Wir selbst können also mitmachen an der so nötigen Verwandlung der Welt, die von Gott her schon längst begonnen hat – damals auf den Feldern von Bethlehem.
IV
Weihnachten: Gott sagt nicht: „Kannst du vergessen, die Welt!“
Nein, sagt Gott, ich vergesse nicht: Dich nicht! Und nicht, was zu Dir gehört: Deine Sehnsucht nicht, nicht Deine Wut. Deine Hoffnung nicht, nicht Dein Leid. Dein Lachen nicht und nicht Dein Weinen. Siehe da, das Kind im Glanz aus der Höhe.
Ich – Gott – komme da hinein: in Dein Dunkel, in Deine Angst. Die kannst Du dann vergessen; hinter Dir lassen. Alles wird umspielt von dem Glanz aus der Höhe; es wird alles neu. Wie damals bei den Hirten. Ganz einfach plötzlich alles, das ganze Leben neu.
Ich weiß wohl, liebe Gemeinde, das Glück dieser Heiligen Nacht haben wir nicht jederzeit abrufbar gespeichert in unserem Lebensnetz – es scheint auf eher in Augenblicken der unbändigen Freude, in denen wir uns gleichsam an den Himmel werfen wie Vögel. Manchmal geschieht es, dass das Glück eines Augenblicks mein Leben und das Leben dieser Welt verwandelt: in ein neues Licht taucht, das vom Himmel leuchtet. Fürchtet euch nicht: denn siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird!
Nein, das kannst du nicht vergessen!
Amen.