Predigt über Jesaja 58, 7-12 zum Landeserntedankfest in Anklam
02. Oktober 2011
Zum Landeserntedankfest 2011 ist uns nach der Ordnung unserer Kirche ein Bibelwort vorgelegt, dass vor zweieinhalb Jahrtausenden im alten Israel zum ersten Mal verkündigt worden ist. Wir finden es im Buch des Propheten Jesaja 58, 7-12.
Es ging den Leuten damals nicht üppig, aber sie fanden ihr Auskommen. Eine Zeit großer Not lag hinter Ihnen. Nun trat ein Prophet auf, ein Mann mit großer Sprachkraft und einer Botschaft von Gott. Er weißt auf einen geheimnisvollen Zusammenhang hin. Er sagte:
Brich dem Hungrigen dein Brot,
und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus.
Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn,
und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!
Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte,
und deine Heilung wird schnell voranschreiten,
und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen,
und die Herrlichkeit des Herrn wird deinen Zug beschließen.
Dann wirst du rufen und der Herr wird dir antworten.
Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich.
Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst
und nicht mit Finger zeigst und nicht übel redest,
sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt
und den Elenden sättigst,
dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen,
und dein Dunkel wird sein wie der Mittag.
Und der Herr wird dich immer da führen
und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken.
Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten
und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt.
Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat,
und du wirst wieder aufrichten, was vor Zeiten gegründet ward;
und du sollst heißen:
„Der die Lücken zumauert
und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne.“
Liebe Gemeinde!
Erntedank – das hört sich an nach etwas, was Bauern und Gartenbesitzer feiern. Aber ist das so? Haben wir nicht alle Grund zur Dankbarkeit? Schauen Sie zurück: Was war Ihre Ernte in diesem Jahr? Wo hat Gott Sie reich beschenkt? Was ist gewachsen? Was haben Sie heimgebracht? Ich glaube, wir haben viele Gründe Gott zu danken – es wurden in der Tat Ernten eingebracht, gewiss etwas schwieriger als in anderen Jahren, aber immerhin. Es ist dann doch noch besser geworden als befürchtet. Aber auch vieles andere ist geschehen, was zu danken lohnt. Menschen haben sich kennen gelernt, neue Beziehungen und Ehen sind entstanden. Kinder wurden geboren, Wunden sind verheilt, Menschen haben einander vergeben, es ist manches gelungen … Wir haben unser 2Auskommen gefunden. Wir haben Geschenke von Gott erhalten und können danke sagen. Und wir können von dem, was wir haben, weitergeben.
Da lohnt es sich innezuhalten und zu fragen, worauf es ankommt. Das Wort aus dem Jesajabuch ist dabei eine gute Hilfe. Manches kommt uns bekannt vor, obwohl Jahrtausende zwischen der Verkündigung dieses Prophetenwortes und uns heute liegen. Der Krieg war schon Jahrzehnte her, mehr als ein halbes Jahrhundert, aber immer noch stellte man fest, dass im Stadtbild Lücken zu sehen waren und manche Straßen ausgebessert werden mussten. Kann man nicht über unser Land und auch über diese Stadt Anklam sagen, was der Prophet damals über das Land Israel sagt: „Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten, was vor Zeiten gegründet wart; und du sollst heißen: „Der die Lücken zu mauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne“. Ein merkwürdiger Name – aber mancher Bürgermeister würde sich auch heute freuen, wenn sein Kosename im Volk „Baulückenschließer und Straßenausbesserer“ wäre. Wir kennen den „Pferdeflüsterer“ und Frauenversteher. Wir würden uns freuen, wenn es auch den „Baulückenschließer“ gäbe.
I. Gott kümmert sich
Denn das ist doch die Klage, die wir heute allenthalben hören: „Wer kümmert sich?“Offensichtlich haben damals, zur Zeit des Propheten die Leute geklagt: „Wo ist denn Gott? Kümmert er sich auch nicht?“ Sie konnten die Entwicklung des Landes mit einem treu sorgenden Gott nicht in Übereinstimmung bringen. Hier, unter uns, spricht man ähnlich wie damals: „Schau dir doch den Lauf der Welt an! Was wir da sehen, passt doch nicht zu einem Gottesglauben. Wenn es Gott gäbe, dann müsste unsere Welt doch anders aussehen!“ Und doch gibt es einen bezeichnenden Unterschied zwischen damals und heute. Nicht die Existenz Gottes stand damals in Frage, sondern lediglich, ob Gott sich kümmert. Hat Gott nicht seine Menschen einfach im Stich gelassen? Die Menschen damals – und übrigens fast überall auf dieser Erde auch heute, mit Ausnahme der so genannten westlichen Welt, glauben unbeirrbar an Gott. Sie können sich die Existenz der Erde, den alljährlichen Ablauf der Natur, das Wachsen, Gedeihen und Ernten ohne einen dahinter stehenden Gott gar nicht vorstellen. Wer hat diese Gesetzmäßigkeiten in die Natur gelegt?
Ich erinnere mich, wie ich vor einigen Jahren bei einem Besuch in Tansania von Deutschland, von Vorpommern erzählen sollte. Als ich unseren afrikanischen Freunden berichtete, dass mehr als 75 %, also Dreiviertel der Bevölkerung bei uns überhaupt keiner Kirche angehört, da konnten Sie es gar nicht fassen. Aber an welchen Gott glauben sie denn? Und ich versuchte zu erklären, dass unter anderem durch die besondere Geschichte Ostdeutschlands der Gottesglaube für viele Menschen verloren gegangen ist. Das konnten sich meine Gesprächspartner gar nicht vorstellen und sagten: „Auch wir hatten doch einen Sozialismus. Aber dass Gott der Schöpfer von Allem ist, dass Gott hinter Allem steht, das ist uns doch selbstverständlich. Woher sollen denn sonst diese Erde und alles, was wir haben, kommen?“ Und dann tuschelten Sie untereinander und fanden es so komisch, beinahe absurd, dass dort im fernen Deutschland so viele Menschen die Abhängigkeit von Gott nicht wahrgenommen haben.
Mir scheint, es sind zwei Gründe, die hinter dem weithin verlorenen Gottesglauben bei uns stehen. Zum einem wissen wir alle: Wenn wir auf dieser Erde nicht allein sind, wenn wir unser Leben und auch die jährlich geschenkte Ernte einem für uns sorgenden Gott verdanken, dann können wir unser Leben nicht führen, als ob es diesen Gott nicht gäbe. Dann müssten wir ja auch nach dem Willen dieses Gottes fragen und könnten unser 3Leben nicht allein nach unserem Willen führen. In der Tat war ja schon das Urbekenntnis der frühen Christen: „Herr ist Jesus!“ Wer glaubt, der hat nicht lediglich eine andere, unverbindliche philosophische Anschauung von der Entstehung der Welt, sondern er weiß: Die Existenz Gottes entscheidet auch darüber, was in meinem Leben möglich ist oder nicht. Mit der Frage nach Gott ist gleichzeitig die Entscheidung über die Macht in meinem Leben auf dem Plan. Philosophisch formuliert: Mit der Gottesfrage entscheidet sich auch die Frage nach der Autonomie des menschlichen Lebens. Oder so, dass es jeder versteht: Wer hat in meinem Leben zu sagen?
Zum anderem ist die Frage des Gottesglaubens auch eine Frage der gesellschaftlichen Konvention. In der DDR war es ja wahrhaftig nicht opportun als gottgläubig und Kirchenmitglied zu gelten. Dem kommunistischen Staat entsprach die Einstellung: „Ohne Gott und Sonnenschein bringen wir die Ernte ein“. Daher ist es auch eine Frage der Erziehung und Gewöhnung, ob man in seinem Leben mit Gott rechnet oder nicht. Wenn heute viele sagen, „Gott gibt es nicht“, dann muss man sich klar machen, dass dies eine Denkfigur von gestern ist. Das sieht man schon daran, dass hier unter uns, in Ostdeutschland, mehr jüngere Leute an Gott glauben als ältere. Trotzdem ist ja unter uns die Frage, die dem Propheten gestellt worden ist, lebendig: „ Wo ist denn Gott? Wie kann ich ihn denn erfahren? Warum erfahre ich ihn in meinem Leben nicht?“
II. Das Geheimnis des Teilens
Darauf antwortet der Prophet: „ Ich kann euch sagen, warum Gott sich von euch abgewandt hat. Glauben kann nämlich nur der, der sein Leben teilt!“ Oder: „Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!“ (V. 8). Darum gehört die Bibel zum Kulturgut der Menschheit, weil sie einfache Wahrheiten klar ausspricht. Diese klassisch schöne Formulierung des Propheten sagt doch ganz schlicht: „Mach aus Gott kein philosophisches Problem, solange du deinem Mitmenschen das zum Leben Notwendige vorenthältst.“ Gott ist zuerst kein Problem des Denkens, sondern des Dienens.
Reiche Gesellschaften haben eher ein Problem mit dem Glauben an Gott als arme. Schon das Sprichwort sagt: „Not lehrt beten.“ Überfluss macht satt und selbstzufrieden. Fehlt dagegen das eine oder das andere, dann wächst die Solidarität. Es ist ein Paradox. Aber arme Gesellschaften sind oft solidarischer. Gott lässt den Menschen sagen: „Ihr kreist in euren Gedanken nur um euch. Sicher, es könnte euch besser gehen. Die Ernte hätte besser ausfallen können. Es ist manchmal mühsam, mit dem auszukommen, was zum Leben bleibt. Aber hallo, das eigentliche Problem ist ein anderes. Es gibt auf dieser Erde Menschen, denen fehlt das Notwendige zum Leben. Gebt ihr ihnen zu essen.“
Ja, liebe Erntedankfestgemeinde, das ist der eigentliche Skandal, dass beinahe 1 Milliarde Menschen auf dieser Erde nicht genug für das tägliche Leben hat. Dabei wäre genug für alle da. Neuere Untersuchungen haben ergeben, dass niemand hungern müsste auf dieser Erde. Bei verantwortlicher Ausschöpfung der natürlichen Ressourcen und gerechter Verteilung der Lebensmittel wäre genug für alle da. Die Not in dieser Welt ist so groß, dass nur eine radikale Bereitschaft zum Teilen wirklich helfen kann. Jedes Jahr sterben durch Hunger und mangelnde Versorgung von Kranken etwa 10 Millionen Menschen, die ansonsten nicht sterben müssten. Bedenken Sie bitte: In den sechs Kriegsjahren von 1939 bis 1945 haben 52 Millionen Menschen den Tod gefunden. Und wir stehen fassungslos vor dem Grauen dieser Kriegstoten. Genauso fassungslos werden die nach uns kommenden Generationen sein, wenn sie sehen, dass das Sterben auch ohne Krieg 4im 20. und 21. Jahrhundert weitergegangen ist. In fünfeinhalb Jahren sterben an Hunger ziemlich exakt so viele Menschen, wie im II. Weltkrieg den Tod gefunden haben.
Sicher, manche Probleme können nicht gelöst werden. Dem Hunger in der Welt aber könnte massiv entgegen gearbeitet werden, wenn nur der Wille dazu vorhanden wäre. Allerdings fehlt auch der politische Wille. Nicht nur bei uns, sondern auch in den Ländern des Südens, dort, wo gehungert wird. Der Westen und Norden dieser Welt ist so sehr mit Immobilien-, Banken- und Schuldenkrise beschäftigt, dass die elementaren Bedürfnisse von Millionen von Menschen gar nicht in den Blick geraten. In manchen Ländern des Südens wird um die Macht gekämpft, so dass die Herrschenden eher den tausendfachen Tod ihrer Landsleute in Kauf nehmen, als Macht abzugeben. Somalia ist dafür ein trauriges Beispiel. Die Warlords, die Stammesfürsten, kleben einerseits an ihrer Macht und wollen andererseits als Moslems auch keine Hilfe aus den christlichen Ländern der Welt akzeptieren. Die Folge ist ein massenhaftes Sterben, vor allen Dingen der Schwächeren, nämlich von Frauen und Kindern. Wer kann, rettet sich in ein Nachbarland, z.B. nach Kenia. Dort hat der Lutherische Weltbund, zu dem auch unsere Pommersche Evangelische Kirche gehört, im Auftrag des Weltflüchtlingshilfswerkes das größte Flüchtlingslager der Welt eingerichtet. Es heißt Dadaab. Bestimmt haben Sie in der allgemeinen Berichterstattung davon gehört. Täglich kommen ca. 2000 weitere Flüchtlinge dazu. Wir wollen heute in diesem Gottesdienst eine Kollekte für die Menschen in diesem Flüchtlingslager zusammen legen. Natürlich ist die Erstversorgung nur ein Tropfen auf den berühmten heißen Stein. Aber – wie es so schön heißt – es kann der Anfang eines Regens sein.
Menschen aus Fleisch und Blut brauchen unsere Hilfe. Mit einem kleinen symbolischen Schritt wollen wir heute beginnen. Aber wir wissen: Dieser Schritt steht in einem großen Zusammenhang. Es beginnt immer mit der uns möglichen Tat, vielleicht für die Integration unseres arbeitslosen Nachbarn hier in Vorpommern, vielleicht die Spende gegen die Not in Afrika. Aber dabei wird es nicht bleiben. Wir müssen auch an den Strukturen unserer Marktwirtschaft arbeiten, dass sie wirklich sozial und umweltverträglich ist. Das ist die Aufgabe der Politiker und wir wollen sie auf ihrem Weg begleiten.
Dabei erinnern wir als Kirche an die alten biblischen Wahrheiten: Es ist genug für alle da. Teilen macht reich. Besonders die drei großen „Gs“ müssen geteilt werden, damit heilvolle Verhältnisse für alle entstehen. Die drei großen „Gs“ sind die Gewalt, die Güter und der Glaube. In einer Welt, für die es sich zu leben lohnt, haben möglichst viele teil an der Macht, sind die Güter möglichst gerecht verteilt und schafft der Glaube eine neue Lebensqualität. Dafür, liebe Gemeinde, ist Jesus Christus gekommen. Er selbst hat gesagt: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben und volle Genüge haben sollen“ (Luther), „Leben in seiner ganzen Fülle“ (NGÜ, Joh. 10, 10). Weil Gott für uns sorgt, dürfen wir beruhigt sein, so hat Jesus in dem Abschnitt gelehrt, den wir als Evangelium gehört haben. Er hat sein Leben mit uns geteilt. Er hat von seiner Macht als Sohn des himmlischen Vaters abgegeben. Er gibt uns Anteil an den Gütern der ewigen Welt. Er ruft uns zum Glauben, damit wir Gott vertrauen und nicht an unseren Fähigkeiten verzweifeln. Wenn wir uns von ihm auf seinen Weg ziehen lassen, dann wird die Verheißung unseres Predigttextes wahr. Gottes Licht bricht auf wie die Morgenröte. Es wird heil, was zerstört ist. Gerechtigkeit breitet sich aus. Es wird aufgebaut, was lange wüst gelegen hat. Und die Herrlichkeit des Herrn bleibt ewiglich. Amen.