Predigt von Landesbischöfin Kühnbaum-Schmidt zu Markus 8, 1-9
04. Oktober 2020
„Und sie aßen und wurden alle satt… Es waren aber etwa viertausend“. 4000 Menschen satt machen, mal eben so. Mit ganz wenigem: mit sieben Broten und einigen Fischen. Klingt eher unwahrscheinlich, nicht wahr? Das muss also ein Wunder sein. Und ob es Wunder überhaupt gibt, oder ob es sie immer wieder gibt, wie sie genau funktionieren - wer weiß das schon. Spekulieren will ich darüber nicht. Aber genau zuhören, was von diesem Wunder erzählt wird. Darauf hören, was es in Kopf und Herz und Hand auslöst. Und was wunderbares geschieht, damit dieses Wunder von der Speisung der 4000 seinen Lauf nehmen kann.
II
Das erste Wunderbare geschieht gleich zu Beginn. Jesus sagt: „Mich jammert das Volk, denn sie harren nun schon drei Tage bei mir aus und haben nichts zu essen. Und wenn ich sie hungrig heimgehen ließe, würden sie auf dem Wege verschmachten; denn einige sind von ferne gekommen.“
Warum ist das wunderbar? Weil hier einer, weil Jesus Verantwortung übernimmt. Er fühlt sich verantwortlich. Verantwortlich nicht nur für seine Freunde, die Jünger, sondern für 4000 Menschen, von denen er sicher nur die wenigsten kennt. Er könnte ja auch sagen: Was kann ich schon dafür, dass sie mir nachlaufen? Was kann ich dafür, dass sie nicht an Verpflegung gedacht haben? Ist es mein Problem, dass sie einen weiten Heimweg haben?
Überlegungen dieser Art kennen wir zur Genüge. Bevor wir helfen, fragen wir erst einmal, wer überhaupt zuständig ist. Und ob wir überhaupt helfen müssen. 4000 Menschen, die drei Tage ausharren und nichts zu essen haben. Jesus jedenfalls fühlt sich verantwortlich: „Mich jammert das Volk, denn sie harren nun schon drei Tage bei mir aus und haben nichts zu essen. Und wenn ich sie hungrig heimgehen ließe, würden sie auf dem Wege verschmachten; denn einige sind von ferne gekommen.“
12000 Menschen in Moria, tausende Männer, Frauen und Kinder in anderen Flüchtlingslagern an den Grenzen Europas. Jammert es uns, dass sie dort seit Wochen und Monaten ausharren? Jammert es uns, „wenn sie hungrig heimgehen und auf dem Wege verschmachten?“
Das erste und grundlegend Wunderbare ist, dass einer, Jesus, sich verantwortlich fühlt und Verantwortung übernimmt. Wunderbar ist das, weil es bedeutet: Du bist mir nicht egal. Du bist mir wichtig. Ihr seid mir nicht gleichgültig. Euer Schicksal liegt mir am Herzen. Es lässt mich nicht kalt. Was mit uns und bei uns mit Menschen geschieht, in unserer Stadt, in unserem Land, an den Grenzen Europas, mit den Menschen auf dieser Erde, mit Gottes bedrohter Schöpfung, das alles geht mich etwas an. Es jammert mich. Und weil das so ist, übernehme ich Verantwortung. Damit es anders werden kann. Nicht wegsehen, sondern hinsehen. Verantwortung übernehmen - wunderbar!
III
Bei diesem einen Wunderbaren bleibt es nicht. „Jesu Jünger antworteten ihm: Woher nehmen wir Brot hier in der Einöde, dass wir sie sättigen? Und Jesus fragte sie: Wie viele Brote habt ihr? Sie sprachen: Sieben. Und Jesus nahm die sieben Brote und dankte.“
4000 Menschen, sieben Brote - müsste man jetzt nicht ins Lamentieren ausbrechen? Darüber, dass das alles viel zu wenig ist und natürlich niemals reichen wird.
„Und Jesus nahm die sieben Brote und dankte.“ Das ist das zweite Wunderbare, was geschieht. Der Dank. Der Dank für das, was da ist. Genau das steht heute, am Erntedankfest im Mittelpunkt. Von Herzen Danke sagen für das, was da ist.
Danke für eine Ernte, die bundesweit besser als erwartet, aber doch unter dem Durchschnitt ausfällt. Danke an alle, die in der Landwirtschaft tätig sind. Die unter erneut schwierigen und regional sehr unterschiedlichen Bedingungen, sei es mit lang anhaltender Trockenheit oder Spätfrösten in unserem ganzen Land für eine verlässliche Ernte sorgen. Und das trotz wirtschaftlicher Risiken, trotz der existentiellen Sorge, welche Auswirkungen der Klimawandel ganz konkret in ihrer Region für ihren Betrieb haben wird, und in diesem Jahr auch: trotz Corona. Wie vernetzt wir mittlerweile weit über die Grenzen unseres Bundeslandes, aber auch über unser ganzes Land hinaus im Blick auf die Versorgung mit Lebensmitteln, im Blick auf die Einbringung der Ernte sind - auch das hat uns Corona deutlich spüren lassen. Die Frage, wie dringend nötige Erntehelfer aus unseren europäischen Nachbarländern unter den nötigen schützenden Vorkehrungen zur Corona-Pandemie dennoch sicher und gut in unserem Land arbeiten können, ist dafür eines von vielen Beispielen.
Stichwort Corona - auch den Blick auf die Pandemie will ich heute, am Erntedankfest, auf das konzentrieren, was mich dankbar macht und wem ich danken will: Zuerst den Menschen in öffentlicher und politischer Verantwortung, die diese wahrgenommen haben und wahrnehmen, verlässlich, umsichtig, engagiert. Ebenso den Frauen und Männer in der Pflege, in sozialen Einrichtungen, in Kindertagesstätten und Schulen, in den Kirchengemeinden und an vielen anderen Orten. Sie alle sind an der Seite derer, an die sie gewiesen sind und die sie brauchen. Dafür bin ich dankbar. Und ich danke für alle, die mit der Fürsorge für sich und ihre eigene Familie verantwortlich umgehen und zugleich für andere Menschen da sind - sie pflegen, begleiten, unterstützen, mit ihnen lachen und weinen, an ihrer Seite sind und bleiben. Denn nur gemeinsam, miteinander bestehen wir auch in Zeiten der Pandemie.
Gemeinsam - ja auch dafür bin ich heute dankbar: gemeinsam 30. Gemeinsam 30 Jahre Deutsche Einheit, gemeinsam 30 Jahre in diesem Bundesland. Besonders bin ich in diesen Tagen so vielen Menschen dankbar für ihren friedlichen und beharrlichen Einsatz für Freiheit und Menschenrechte während der Friedlichen Revolution im Jahr 1989. Die Montags gemeinsam in den Kirchen beteten und dann auf den Straßen friedlich demonstrierten. Ohne sie ist die Deutsche Einheit undenkbar. Ich denke an und danke für das Engagement von Christenmenschen und Kirche für Menschenrechte und Freiheit. Denn Freiheit und Verantwortung füreinander - beides gehört zusammen. Und sie werden verbunden durch Nächstenliebe, durch Barmherzigkeit und Mitmenschlichkeit. Gemeinsam 30, das heißt auch: gemeinsam für Mitmenschlichkeit und Menschenfreundlichkeit, für die Würde aller Menschen. Auch dafür bin ich dankbar.
IV
Zweimal wunderbares: Verantwortung übernehmen, danken für das, was da ist. Und jetzt kommt das dritte Wunderbare in dieser Geschichte. Es klingt, zugegeben, ein wenig verrückt: „Und Jesus nahm die sieben Brote, dankte, brach sie und gab sie seinen Jüngern, dass sie sie austeilten, und sie teilten sie unter das Volk aus. Sie hatten auch einige Fische; und er sprach den Segen darüber und ließ auch diese austeilen. Und sie aßen und wurden satt. Und sie sammelten die übrigen Brocken auf, sieben Körbe voll.“
Das dritte Wunderbare: Jesus rechnet nicht. Er kalkuliert nicht. Sondern er gibt, was da ist. Mit vollen Händen. Hält nichts zurück, teilt bedingungslos. Weil er sieht, dass sieben Brote und einige Fische mehr sind als nichts. Weil er wie wir heute wohl sagen würden, das Potential dessen sieht, was vorhanden ist – auch wenn es nur sehr wenig ist. Immerhin sind da ja sieben Brote und einige Fische. Immerhin sind da Menschen, die das, was da ist, mit austeilen. Die für andere da sein wollen. Immerhin ist da einer, der alles gibt, was er hat, am Ende sogar sein Leben.Einer, der schon mal anfängt, die Dinge anderes zu sehen und anders zu machen. Und immerhin sind da 4000 Menschen, die ihm zugehört haben, die in seiner Nähe sein wollen. 4000 Menschen, die wissen wollen, was es mit Jesus und seiner Botschaft auf sich hat. Mal sehen, was daraus werden kann.
Und so nimmt Jesus die sieben Brote und einige Fische, dankt Gott dafür, dass es sie gibt, spricht den Segen über sie, teilt sie und gibt sie den Jüngern zum Verteilen. „Und sie aßen und wurden satt; und sie sammelten die übrigen Brocken auf, sieben Körbe voll.“
V
Wie werden Menschen satt? Die Antwort des Evangeliums lautet: Menschen werden satt, an Leib und Seele, wenn wir Verantwortung füreinander übernehmen, wenn wir dankbar sehen auf das, was auch aus wenigem werden kann, und wenn wir freigiebig teilen, was da ist. Dann nimmt dreimal Wunderbares seinen Lauf - durch Kopf und Herz und Hand. Von mir zu dir, und weiter zu dir, zu dir, zu dir….
Denn aus wenigen kann alles werden - himmlische Fülle. In einem einzigen Buch kann man die ganze Welt entdecken. Wer in einen Menschen verliebt ist, möchte die ganze Welt umarmen. Und wer Verantwortung übernimmt, für andere, für Gottes bedrohte Schöpfung, wer dankbar ist für das, was da ist, und anfängt, es freigiebig zu teilen, kann der Anfang von Wunderbarem sein. Deshalb: lasst uns ein Wunder sein. Denn aus wenigem kann alles werden, himmlische Fülle. Und alle, alle werden satt.
Amen.