Predigt zu 30 Jahren AIDS-Seelsorge
01. April 2024
Ostermontag
Der Mensch heißt Mensch,
weil er vergisst, weil er verdrängt,
weil er hofft und liebt,
weil er mitfühlt und vergibt,
und weil er lacht und weil er lebt
Du fehlst.
Liebe Menschen mit eurer Herzlichkeit in dieser österlichen Jubiläumsgemeinde,
wie wichtig ist es, dass es euch gibt! Und dass ihr da nicht fehlt und gefehlt habt, wo ihr so sehr gebraucht wurdet, seit 30 Jahren: Einfach als Mensch für andere Men-schen da zu sein. Mensch, der – wir hören Herbert Grönemeyer mit diesem unvergleichlichen Groove – der hofft und liebt, der mitfühlt und vergibt, der lacht und lebt...Glückwunsch zu 30 Jahren allermenschlichste AIDS-Seelsorge! Und Glück-wunsch zu 30 Jahren Partnerschaft vom Feinsten – liebe Gemeinde zu St. Georg. Seit dreißig Jahren tanzt ihr als Pas de deux verlässlich aus der Reihe des bürger-lich Üblichen, um nicht zu sagen als lange Reihe der Vielfalt mit unglaublich vielen Haupt- und Ehrenamtlichen. Danke für Euer aller Engagement – für positiv Leben und Lieben. Unzählige Menschen habt ihr in all den Jahren begleitet, durch Angst, Not und Tod – aber auch in dem Wunsch, wieder dem Leben die Hand zu reichen und aufzustehen, ganz österlich halt. Wir haben von beidem eben im Statement von Thomas Buhk (zum Glück gibt´s Statistiken!) und von Reiner gehört. Ehrlich. Menschlich. Nur die Harten kommen in den Garten.
Und der Mensch heißt Mensch
Weil er irrt und weil er kämpft
Und weil er hofft und liebt
Weil er mitfühlt und vergibt
Und weil er lacht
Und weil er lebt -
Du fehlst
Das Lied „Mensch“ hat Herbert Grönemeyer anlässlich des Todes seiner Frau geschrieben – und spricht wohl jedem aus der Seele, der schon einmal einen gelieb-ten Menschen verloren hat. Der Mensch heißt Mensch, weil er kämpft, immer wieder hofft und so sehr liebt. Du fehlst. Übergroßer Schmerz und Verlust liegen in diesen beiden Worten. Schmerz, der wohl nie ganz vergeht. Das ist, finde ich, besonders dann zu spüren, wenn wir der Verstorbenen gedenken, draußen bei den Steinen mit ihren Namen, dass die Geliebten nie vergessen werden. Du fehlst – das ist die Überschrift dabei. Und zugleich schwingt immer auch mit, wieviel Liebe und Lachen es gab, im Miteinander auf dem Weg!
Den beiden Freunden auf dem Weg nach Emmaus nun ist so gar nicht nach La-chen. Angst haben sie. Total verstört sind sie. Hoffnungslos. Du fehlst, Jesus, stammeln sie. Die Bilder von Jesu Tod und seiner Qual, die werden sie nicht los. Die Augen sind gehalten, heißt es. Es ist, als würden sie seinen Schmerzensweg auf der Via Dolorosa innerlich immer wieder gehen. So sehr sind sie im Bann dieser furchtbaren Bilder, dass sie gar nicht bemerken, wie plötzlich jemand neben ihnen geht. Unaufdringlich. Leise. Präsent. Sie fangen an, ihm ihr Herz auszuschütten, er hört zu, fragt nach. Findet die richtigen Worte, auch des Trostes. Das muss man schon können, wisst ihr. Mit hinuntergehen ins Jammertal. Und dann auch wieder heraus ans Licht.
Ich glaube, es gibt kaum eine passendere Geschichte für die AIDS-Seelsorge als diese österliche, aufbauende Emmausgeschichte. Und zwar deshalb, weil hier trau-rige Menschen, denen so viel fehlt, – denen Glaube, Hoffnung, Liebe komplett weggebrochen sind – , hier zuallererst einmal traurig sein dürfen. Trauern ist der erste Schritt wieder ins Leben. Mit heißen Tränen soll der Verlust beweint, die Qual beklagt werden – Gott hält das ja alles aus, und mit Verlaub: Sein Bodenpersonal auch. Und irgendwann ist es gut. Viele von Euch, glaube ich, haben das schon selbst erlebt. Dass sich irgendwann der Stein auf der Seele wieder löst. Wie bei den beiden Emmausfreunden. So gut tut ihnen der Trauerbegleiter an ihrer Seite, dass sie bitten, ja ihn drängen: Bleib bei uns, es wird ja schon Abend. Denn nachts, da ist es immer am schlimmsten mit der Traurigkeit und der Angst.
Natürlich geht der vermeintlich Fremde mit. Und als er mit ihnen das Brot bricht – da hält ihre Augen nichts mehr. Sie erkennen ihn! Ihren Jesus. Er ist nicht mehr tot. Fehlt nicht mehr. Der Herr ist auferstanden. Halleluja. Er ist wahrhaftig auferstan-den. Halleluja. Mit allem hatten sie gerechnet, nur nicht mit dem Leben!
Ostern, liebe Geschwister, sollten wir entschieden mit dem Leben rechnen. Es hat sein Recht, und genau das sagt ihr hier schon konsequent dreißig Jahre lang. Und deshalb geht ihr auch den noch so kompliziertesten Weg mit, von Mensch zu Mensch. Und zwar als Christenmensch, also mit Christus in und neben dir. Und das bedeutet etwas! Es sagt, gleich was du selbst glaubst: Du bist unsagbar kostbar. Einmalig. Unvergleichlich du selbst. Als Mensch, der würdig ist und klug, aufrecht und verliebt, der mitfühlt und vergibt – mit Christus in und neben dir bist du so frei, Mensch zu sein! Nicht mehr in Angst gefangen, Angst und Freiheit gehen nicht zu-sammen. Als Christenmensch bist du befreit davon, so sein zu müssen, wie andere dich haben wollen, allemal die, die nichts, aber auch gar nichts von dir verstehen. Du bist befreit dazu, so liebenswert, klug, queer zu sein wie nur irgendwas. Du bist so frei – dich für Andere reinzuhängen. Und du bist so frei, freundlich zu sein und nicht so knadderig. Mit Christus im Herzen leben heißt, seiner wunderbaren und revolutionären Idee immer wieder auf die Welt zu helfen: Dass nämlich jedem Men-schen – gleich welcher Hautfarbe, Religion, Geschlecht, Sexualität – dass jedem Menschen das Versprechen auf Zukunft zugeliebt ist. So positiv, lebendig, auch mit HIV positiv.
Und ja, das war 1994 in unserer eigentlich ja ganz fortschrittlichen Nordelbischen Kirche längst noch nicht so selbstverständlich wie jetzt. Viele hier wissen das noch. Ohne Bischöfin Maria wäre es noch schwieriger gewesen und ohne Rainer Ehlers, Niels, Detlev und Thomas, Susanne, Ian und Silke, Sebastian und Ralf und unzäh-lige andere hier (die ich nicht den Fehler mache aufzuzählen, weil ich garantiert wieder eine:n von den gefühlt zweihundert Leuten vergesse...). Ohne euch alle wä-re man dem Tabu nicht zu Leibe gerückt, das trotz aller Aufklärung bisweilen immer noch mit seinem Stigma aktiv ist und sich gerade weltweit hartnäckig hält.
Damals in den 80ern, als HIV sich ausbreitete und ohne die heutigen segensrei-chen Medikamente für viele das Todesurteil bedeutete, damals habe ich in der Seelsorge im Strafvollzug gearbeitet. HIV – hieß gefangen sein in großer Angst. Vor allem bei den Drogenabhängigen, die ja oft zu mehreren ein Spritzbesteck benutz-ten und sich schnell ansteckten. Einige wurden im Knast krank, furchtbar elend, und starben binnen kürzester Zeit. So unglaublich schnell geschah das damals. Und so unerhört einsam. Diese Einsamkeit war mit das Schlimmste. Denn die Men-schen waren für ihre Umwelt dies: Unberührbar. Ich erinnere meine eigene Hyste-rie, und ich habe mich geschämt dabei. Scham, Tod, Ausgrenzung, Null-Information und schnell die Hände desinfizieren – das Tabu AIDS hatte voll gegriffen.
Bis wir uns in der Seelsorge gegenseitig bewusst machten: Wir sind Christenmen-schen, Himmel! Da brennt doch unser Herz! In der Nachfolge Jesu, der keine Be-rührungsangst kennt, aber auch keine Distanzlosigkeit. Seine Seelsorge ist die Mut-tersprache der Kirche. Ist Schutzraum für die Würde der Angeschlagenen, der Ver-ängstigten. Derer, die sich im inneren Konflikt befinden und nicht wissen, was sie tun sollen. Seelsorge ist der Raum zum Durchatmen, wenn die Angst einem die Luft abschnürt. Seelsorge ist der Raum der Verschwiegenheit, den man braucht, um endlich wieder die eigene innere Stimme wahrzunehmen.
Seelsorge ist genau dies: Ein Raum der Freiheit, wieder der Mensch zu werden, der man ist und sein wollte.
Und ich schaue heute mit großer Dankbarkeit auf die AIDS-Seelsorge, auf all die Couragierten, die uns damals aufgerüttelt haben und informiert und nicht nachge-lassen haben darin, die Politik, aber auch uns als Kirche in die Verantwortung zu rufen. Danke. Danke auch für alles Konkrete. Danke, dass man eins ums andere Mal in dieser Kirche zusammenkommen konnte, um in der Gemeinschaft zu tragen, was sich allein unerträglich anfühlte. Danke für die Nähe. Für die Solidarität. Die Gebete. Die Lieder. Kann denn Liebe Sünde sein? Nein. Deshalb ja jährlich zum Welt-Aids-Tag der Candle Walk – eigentlich genau ein Emmausweg. Auch da mit ´ner Fete hinterher, mit Essen und Trinken und Frohsein bei Fiete.
Mit Christus auf dem Weg sein, liebe Geschwister, heißt Mensch sein. So wie Chris-tus selbst, der gern gegessen hat und getrunken, geschlafen und geweint, der lieb-te, heilte und tröstete, der lachte und andere umarmt hat. Niemals nämlich ist das Menschsein nur mit unserem Geist zu haben, sondern wird erst dann lebendig, wenn wir atmen, um zu singen, wenn wir Sterbenden sanft den Arm streicheln – und wenn wir den Rücken gerade machen und aufstehen gegen alle Menschen-verachtung, aufstehen auch, um den Hetzern mit ihrer lebensfeindlichen Ideologie tapfer die Stirn zu bieten. Christlicher Glaube in dieser verwundeten Welt – er ist leibhaftig, braucht Hand und Herz.
Mit Christus auf dem Weg sein – heißt schließlich: Der Weg verändert uns. Du kommst anders an, als du losgegangen bist. So auch Ihr hier. Ihr seid dem Wandel der Zeiten immer mit neuen Projekten entgegengekommen. Auch deshalb war und ist die AIDS-Seelsorge über die 30 Jahre hin so erfolgreich. Gut, dass das nicht aufhört, wenn ab 2024 behutsam Stück für Stück aus der ursprünglichen AIDS-Seelsorge eine queer-sensible Seelsorge wird. Ich finde das so mutig wie großartig, wieder einmal. Ihr seid so frei, damit kein Mensch das Gefühl haben muss, „falsch“ oder „anders“ zu sein und nicht vorzukommen mit dem ganz eigenen Begehren nach Leben und Lieben. Wenn das nicht positiv ist!
Viel Glück und Segen, liebe AIDS-QUEER-SENSIBEL-SEELSORGE auf dem Weg. Nehmt die Kraft von Ostern mit ins Neue. Voller Dankbarkeit für das, was war und zukunftsmutig für das, was kommt. Denn er ist ja mit uns, alle Zeit, der Liebhaber des Lebens – auferstanden von dem Tod. Ha! Grund genug zu feiern und zu lieben und lachen.
Der Herr ist auferstanden. Halleluja.
Er ist wahrhaftig auferstanden – Halleluja!
Amen.