Predigt zu Johannes 3, 16 in der Christvesper zum Heiligen Abend 2010 im Dom St. Nikolai zu Greifswald, 17 Uhr, von Bischof Dr. Hans-Jürgen Abromeit: „Keiner soll verloren gehen“

24. Dezember 2010 von Hans-Jürgen Abromeit

Liebe Gemeinde, 
Jahr für Jahr hören wir die Weihnachtsgeschichte. Was wird darin eigentlich ausgesagt über Gott und die Menschen, dass dieses Fest so faszinierend sein lässt? Da wandert auf behördliche Anweisung ein Ehepaar aus dem Norden des Landes Israel in den Süden. Dort schenkt die junge Mutter Maria einem Jungen das Leben. Dieser Sohn muss etwas Besonderes sein. Hirten, die dort auf dem Felde ihre Herde hüteten, erscheint ein Engel und erläutert ihnen, dass der Neugeborene der dem Volk Israel verheißene Messias ist. Diese Geburt sei eine große Freude für alle Welt. Die Hirten machen sich auf den Weg zu dem unwirtlichen Ort der Niederkunft. Sie finden wie angekündigt das neugeborene Kind und erzählen den Eltern die Deutung, die der Engel Gottes für diese Geschichte ihnen mitgeteilt hat. Das ist eine schöne Geschichte, die aber nur verstanden werden kann, wenn man die Vorgeschichte kennt und wenn man gleichzeitig die Nachgeschichte vor Augen hat, wie es mit diesem neugeborenen Jesuskind weitergegangen ist. Es gibt ein Wort im Neuen Testament, das so etwas wie eine Deutung der Weihnachtsgeschichte ist. Es steht im dritten Kapitel des Johannesevangeliums (V. 16) und lautet: „Denn so sehr hat Gott diese Welt geliebt: Er hat seinen einzigen Sohn hergegeben, damit keiner verloren geht, der an ihn glaubt. Sondern damit er das ewige Leben erhält“ (Basisbibel).

Das Stichwort, das uns hier gegeben wird, lautet: „Liebe“. „Gott hat geliebt“. Zu Recht sagt man deswegen, Weihnachten sei das Fest der Liebe. Mit Jesus Christus, seiner Person und seiner Botschaft verbindet sich, dass mit ihm die Liebe Gottes in die Welt gekommen ist. Liebe, das ist gar nicht selbstverständlich. 

Ein kurzer Blick auf unsere Gesellschaft in Deutschland genügt, um festzustellen, dass das Miteinander schwieriger wird und das Klima rauer. Die einen halten sich mit mehreren Jobs mühsam über Wasser und wissen trotzdem nicht, wie sie den Monat überstehen sollen. Andere kommen an ihre Grenzen, weil sie vor Arbeitsbelastung nicht wissen, wo ihnen der Kopf steht und sind „ausgebrannt“. Wieder andere nimmt jahrelange Arbeitsund Perspektivlosigkeit die Antriebskraft zum Leben; sie wissen oft nicht, wohin mit ihrer Zeit. Immer mehr Menschen fallen so dauerhaft aus dem gesellschaftlichen Miteinander heraus, weil ihnen die Kraft fehlt, sich einzubringen. Sie schaffen es nicht, am gesellschaftlichen Leben in Vereinen, bei Kulturveranstaltungen, in der Kirche teilzunehmen. Sie drohen, für die Gesellschaft verloren und mit ihrem Leben zugrunde zu gehen. 

Wo bleibt hier die Liebe? Haben wir dazu den Anstoß und die Kraft? Kümmert sich nicht jeder nur um sich selbst und hat damit genug zu tun? 

Gott aber ist nicht egal, was mit jedem einzelnen seiner Menschen geschieht. Er lässt diese Welt nicht los, die er erschaffen hat. Dieser zentrale Satz aus dem Johannesevangelium steht über Weihnachten (Kap. 3 Vers 16): „Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht zugrunde gehen, sondern das ewige Leben haben.“ Darum kann und darf uns auch nicht egal sein, was mit jedem einzelnen Menschen geschieht. Keiner soll verloren gehen. Wir brauchen in der Gesellschaft einen Platz, an dem wir gebraucht werden. Wir brauchen aber auch einen Platz im Himmel, damit unser Leben eine ewige Perspektive hat. Keiner soll verloren gehen. 

Wie kann das geschehen? Liebe schenkt unserm Leben Ewigkeit. Deswegen gibt es unter uns eine Sehnsucht nach Liebe. All zu häufig erfahren junge Leute dann aber, dass das, was sie als Liebe gemeint haben, in unserer sexualisierten Gesellschaft nur Sex gewesen ist. Liebe ist etwas Unverfügbares. Liebe öffnet mir die Tore der Ewigkeit. Bevor ich lieben kann, muss ich geliebt werden. Damit ich vertrauen kann, muss ich das Urvertrauen, das normalerweise eine Mutter und ein Vater ihrem Kind entgegenbringen, erfahren haben. Und dann – jeder, der das einmal erlebt hat, weiß es – ist es wiederum eine wunderbare Erfahrung, wenn ich spüre: Ich werde geliebt. Es ist dieses Gefühl des „Oh“! Und des Unglaublichen. Es ist das, was Herbert Grönemeyer die „Flugzeuge im Bauch“ genannt hat. Diese Erfahrung, geliebt zu werden, ist dann auch die Voraussetzung, selber Liebe zu schenken. 

Liebe ist nicht an den Dingen ablesbar. Nicht, weil mich meine Frau oder mein Mann mit großen und teuren Dingen beschenkt, spüre ich, dass ich geliebt bin. Auch bei Gott spüren wir seine Liebe nicht daran, dass er uns Glück, Gesundheit, Erfolg oder Wohlstand schenkt. Entscheidend ist nicht, wie viel und wie großes jemand schenkt, sondern dass ich spüre, der andere meint wirklich mich, unverwechselbar mich. Sein oder ihr Interesse gilt mir als Person. Er liebt mich nicht, weil ich etwas habe, sondern weil ich bin, so bin, wie ich nun einmal bin. Wenn ich jemanden liebe, dann möchte ich nicht mehr ohne diesen Jemand sein. Genau das bringt das Wort aus Johannes 3 zum Ausdruck. Gott hat diese Welt, die sich allzu oft von ihm losgesagt hat, die nichts von ihm wissen wollte, nicht losgelassen. Gott wollte nicht ohne sie, ohne uns, sein. Gott liebt seine ihm verloren gegangene Welt. Darum – und das ist der Hintergrund der gesamten Weihnachtsgeschichte - nimmt Gott noch einmal einen ganz neuen Anlauf auf die Menschen zu. Er teilt den Menschen nicht nur etwas mit, sondern er wird selber Mensch. 

Das Bibelwort drückt es so aus: „Er hat seinen einzigen Sohn hergegeben.“ Wer gültig etwas von und über Gott erfahren möchte, kann es nur über diesen Sohn erfahren. Wenn die Bibel hier vom Sohn redet, dann möchte sie damit das, was Gott uns durch Jesus Christus, durch seine Person und seine Menschwerdung mitteilt, herausheben von allem andern, was sonst über und von Gott gesagt worden ist. Wer den Sohn Gottes hat, der hat das Leben. 

Es gibt eine kleine Geschichte, die dies sehr gut illustriert. Sie spielt in den USA. Ein reicher Mann und sein Sohn hatten ihre Freude daran, wertvolle Gemälde zu sammeln. In ihrer Sammlung gab es Picasso und sogar Rafael. Sie konnten sich an ihren großartigen Kunstschätzen freuen. Dann brach der Vietnamkrieg aus und der Sohn zog in den Krieg. Er starb, als er einem anderen Soldaten das Leben rettete. Natürlich trauerte der Vater sehr um seinen Sohn. Es war sein einziger Sohn. Vier Wochen nach dem Tod des Sohnes meldete sich ein junger Mann bei dem Vater. Er teilte ihm mit: „Mein Herr, Sie kennen mich nicht, aber ich bin der Soldat, für den ihr Sohn sein Leben gab. Er rettete viele Leben an jenem Tag. Er brachte mich in Sicherheit, als ihn eine Kugel ins Herz traf, und er war sofort tot. Er hat oft von Ihnen und von Ihrer Liebe für die Kunst geredet.“ 

Und dann schenkte dieser junge Mann dem Vater, dessen Sohn ihn gerettet hatte, ein von ihm selbst gemaltes Portrait seines Sohnes. Es war kein großartiges Gemälde, und doch hatte dieser Soldat die Persönlichkeit des Sohnes im Bild eingefangen. Der Vater war so gerührt, dass er weinen musste. Er hängte das Portrait seines Sohnes an einer herausgehobenen Stelle in seiner häuslichen Kunstsammlung auf. 

Nur wenige Monate später starb der Vater. Bei einer großen Auktion wurden seine Bilder angeboten. Das Interesse daran war groß. Auf der Bühne des Auktionshauses stand als erstes das Bild des Sohnes. Als der Auktionator es anbot, fand sich niemand, der für dieses Bild bieten wollte. Alle wollten die Bilder der berühmten Maler erstehen. Schon kam Unwillen unter den Besuchern der Auktion auf, weil niemand das Bild des Sohnes erstehen wollte und die Auktion nicht voran ging. Endlich meldete sich aus einer hinteren Ecke des Raumes der langjährige Gärtner des Mannes und bot 10 Dollar für das Bild. Er war ein armer Mann und konnte sich nicht viel leisten. Doch der Auktionator versuchte, den Preis noch in die Höhe zu treiben. Niemand wollte mitbieten. Ja, die Auktionsbesucher wurden sogar ärgerlich. Sie wollten nicht das Bild des Sohnes. Sie wollten die wertvollen Stücke für ihre eigenen Kunstsammlungen. So schlug der Auktionator mit dem Hammer: „Zum Ersten, zum Zweiten, verkauft für 10 Dollar.“ Nun wollten alle an der Versteigerung der weiteren Bilder teilnehmen, doch der Auktionator legte seinen Hammer hin und sagte: „Es tut mir leid, die Auktion ist beendet.“ „Aber wir wollen die anderen Bilder kaufen.“, schallte es ihm entgegen. Darauf entgegnete der Auktionator: „Es tut mir leid. Als ich gerufen wurde, um diese Auktion zu veranstalten, wurde mir eine geheime Bedingung aus dem Testament mitgeteilt. Es war mir nicht erlaubt, diese Bedingung weiterzusagen, bis zu diesem Zeitpunkt. Nur das Bild des Sohnes durfte versteigert werden. Wer dieses Bild kauft, wird das ganze Erbe besitzen, einschließlich der anderen Bilder. Der Mann, der den Sohn nahm, bekommt alles!“

So, wie der reiche Kunstsammler eine besondere Beziehung zu seinem verstorbenen Sohn gehabt hat und alles demjenigen anvertraut hat, der sich für seinen Sohn interessierte, so hat auch Gott uns seine Liebe durch seinen Sohn mitgeteilt. In Jesus Christus, demSohn Gottes, geboren im Stall zu Bethlehem, finden wir alles, was wir zum Leben und zum Sterben brauchen. Wer dem Sohn glaubt, für den wird auch die Kraft des Glaubens mächtig. Wer dem Sohn nicht glaubt, der verliert auch alle anderen Schätze, die der Glaube wirken kann. Wer den Sohn nicht hat, der gewinnt auch keinen Platz im Himmel. An Jesus Christus zu glauben bedeutet die angebotene, aber verwechselbare Rettung zu ergreifen. Wer Gottes Liebe entdecken will, der sollte zur Krippe gehen. Diese Liebe drängt sich nicht auf. Sie ist unscheinbar, wie ein solch kleines, neugeborenes Kind. Aber in ihr finden wir einen konkreten Haftpunkt in Raum und Zeit. Darum ist der Sohn so wichtig. Durch den Sohn wissen wir, wie Gott ist. Durch den Sohn können wir zu Gott kommen. Darum dreht sich Weihnachten alles um diesen Sohn Gottes, um Jesus Christus.

In der Analyse unterscheidet sich die Welt heute nicht so sehr von der Welt zur Zeit des ersten Weihnachtsfestes im römisch besetzten Palästina der Zeitenwende, wie wir meinen. Prekäre und überfordernde Lebensbedingungen für eine zunehmende Zahl von Menschen haben auch die Zeitgenossen von Maria, Joseph und den Hirten und die Menschen unter der Herrschaft von Kaiser Augustus geprägt. Auch Jesu Eltern gehörten zu den „Armen vom Lande“.

Seit dieser Zeit, seit der Geburt dieses kleinen Kindes im Stall von Bethlehem, müssen nicht mehr Sorge, Not und Angst vor der Zukunft das letzte Wort in unserem Leben haben. Gott steht uns zur Seite, in Zeit und Ewigkeit. Gerade weil mit der Geburt des Gottessohns zu Weihnachten die Ewigkeit in unsere Welt hinein fällt, kann das auch unseren Blick auf diese Welt verändern. Gott will uns hinein nehmen in seine Mission, den Menschen Frieden und Gerechtigkeit zu schaffen. Gott kommt in unsere Welt. Stellen wir uns zu ihm und lassen zuerst uns selbst verändern. Dann fordert Gottes Kommen uns heraus, für gerechte Verhältnisse zu kämpfen, Frieden zu suchen, uns der Schwachen anzunehmen und die gute Nachricht von Versöhnung und Neuanfang weiter zu sagen.

So kommt die Weihnachtsbotschaft in unser Leben hinein, ob wir allein sind, mit unserer Familie oder mit Freunden feiern. Gott gab uns seinen Sohn, damit wir das Leben haben. 
Amen.

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