Predigt zum Gedenken an die Reformation über Matthäus 5, 1-12
02. Oktober 2011
„Das Heilige Evangelium steht geschrieben bei Matthäus im 5. Kapitel, die Verse 1 bis 12.“
1 Als er aber das Volk sah, ging er auf einen Berg und setzte sich; und seine Jünger traten zu ihm.
2 Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach:
3 Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich.
4 Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.
5 Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.
6 Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.
7 Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.
8 Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.
9 Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen.
10 Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich.
11 Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und reden allerlei Übles gegen euch, wenn sie damit lügen.
12 Seid fröhlich und getrost; es wird euch im Himmel reichlich belohnt werden. Denn ebenso haben sie verfolgt die Propheten, die vor euch gewesen sind. Amen.
Gemeinde singt: „Gud…
Liebe Schwestern und Brüder in Christus!
I
Von Herzen danke ich Ihnen für die Einladung, heute im Dom zu Hadersleben zu Gast zu sein! Wir erinnern uns gemeinsam an den Kern unseres Glaubens, an die reformatorische Theologie, die uns seit den Tagen der Haderslebener Artikel von 1528 miteinander verbindet und auf eine sehr besondere Weise die Orte Schleswig, Hadersleben und Wittenberg zu einem bedeutsamen Dreieck der Reformationsgeschichte macht.
Darum richten wir uns miteinander aus auf Gottes Wort und Sakrament, damit sich für uns ereigne, was Martin Luther auf die Formel gebracht hat, es sei die Aufgabe der Christenmenschen, jeden Tag neu „den Glauben in´s Leben zu ziehen.“
Sich an die Reformation Luthers und seiner Mitstreiter zu erinnern, heißt nicht, in ein Museum zu gehen, um sich mehr oder weniger distanziert die Relikte einer fernen Vergangenheit anzusehen. Im Gegenteil: Gedenken heißt, an die Quelle zu gehen und zu trinken aus einem lebendigen Traditionsstrom, der für uns fruchtbares und bewohnbares Land schafft.
Und die Quelle des Christenlebens ist die Taufe, aus ihr kommt alles gekrochen, sagt Martin Luther! Aus Gottes Zuspruch an uns, aus seiner Liebe zu uns, kommt alles Leben, alles Heil. Aus Gnade, nicht wegen unserer Verdienste. Aus Glauben, nicht aus Werken. Nicht aus uns selbst zuerst, auch nicht aus unseren Strukturen. Das war und das ist die Sprengkraft der Gedanken der Reformatoren! Wir Christenmenschen sind von Christus gerufen und berufen, die Taufe zu leben! So findet man das ausgedrückt auch in den Haderslebener Thesen von 2007, die eine Gruppe von Pastorinnen und Pastoren ihres Bistums auf Initiative von Bischof Arendt formuliert hatte.
Die Reformation und ihre Wirkungen in Kirche und Gesellschaft sind nicht zu denken ohne den norddeutschen und den skandinavischen Raum! Luthers glaubensstarker Ruf der Freiheit hatte sehr schnell die Regionen des „Kernlands der Reformation“ in Mitteldeutschland überschritten. Hier, in den deutsch-dänischen Landen war es vor allem Johannes Bugenhagen, der mit seinen Kirchen- und Schulordnungen das gesellschaftliche und kirchliche Leben neu geordnet hat. Und Herzog Christian von Schleswig und Holstein, der spätere dänische König Christian III,verkörpert in seiner Person anschaulich die Dynamik des Traditionsstroms zwischen Schleswig, Wittenberg und Hadersleben, bzw. später Kopenhagen. Auch darum ist die gelebte Partnerschaft zwischen den Städten und Kirchen in Hadersleben und Wittenberg eine bedeutende Tatsache: Der Glaube überschreitet Grenzen, macht frei vor Gott!
III
ch sehe, liebe Schwestern und Brüder, diesen reformatorischen Ruf nach Freiheit grundgelegt in dem wunderbaren Text zu Beginn der Bergpredigt Jesu im fünften Kapitel des Matthäusevangeliums: Jesus wendet sich hier eben nicht nur an einen kleinen Kreis von Jüngern, die das Privileg hatten, in seiner Nähe leben zu dürfen. „Als er aber das Volk sah“, legt er los und redet. Keine Geheimlehre wird da ausgebreitet für eine exklusive Gruppe von Esoterikern oder Klerikern. Nein: Gottes Wort wird von Jesus ausgerichtet an alles Volk! Die Bergpredigt Jesu ist eine Befreiungspredigt. Denn die, die die Worte zuerst hören, sind Menschen, die in Ängsten leben, gefangen in Macht-Netzen und Fremdherrschaft. Menschen, die sich nach Freiheit sehnen und Recht. Menschen, die genug haben von Hass und Gewalt. Gerade sie sind es, denen Jesus zuruft: „Ihr seid das Licht der Welt, ihr seid das Salz der Erde!“ Auf euch kommt es an, auf euren Glauben, auf euer Hören auf Gott – nicht auf den Gehorsam gegen Kirche oder weltliche Macht kommt es an!
Auch darum haben die „Seligpreisungen“ eine Wirkung entfaltet, die wohl beispiellos ist in der Geschichte christlicher Predigt, weil das befreiende Wort Gottes hinein spricht in die Realität der Welt, in die Lebensgeschichten der Einzelnen. So wird es Lebenswort.
„Selig sind die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ Was hat diese Provokation etwa Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts Menschen aufgerüttelt in der Zeit der „Friedensbewegung“ gegen die Aufrüstung der Welt mit todbringenden Massenvernichtungsmitteln. Und dieses Wort Jesu hat eine Rolle gespielt in der friedlichen Revolution Ende der 80er Jahre in Deutschland, bis die Mauer fiel: diese Vision von Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit; diese Ermutigung zum Widerstehen und die Befreiung von Angst, die von den Worten ausgeht!
Ich denke beispielhaft an ein ökumenisches Ereignis, das die Nordelbische Kirche und das Erzbistum Hamburg in diesem Jahr intensiv beschäftigt hat. In einer großen Seligsprechungsfeier wurde die Erinnerung wach gehalten an die von nationalsozialistischen Schergen 1943 umgebrachten vier Lübecker Geistlichen Hermann Lange, Eduard Müller, Johannes Prassek und Karl Friedrich Stellbrink; die ersten drei waren katholische Kapläne, Stellbrink war evangelischer Pastor. Diese Geistlichen hatten sich ab 1941 öffentlich dem nationalsozialistischen Ungeist widersetzt und wurden nach Verhaftung und Folter ermordet. Die vier Lübecker Märtyrer haben in einer Zeit, in der eine mörderische „Wahrheit“ verordnet wurde von den nationalsozialistischen Machthabern, mit Wort und Tat bezeugt die christliche Wahrheit von der Liebe Gottes zu allen Menschen! Über Konfessionsgrenzen hinweg: allein auf Gottes Wort hin! Allein aus Glauben, der ihnen half, die furchtbare Angst zu tragen. Sie waren auf ihre je eigene Weise Gotteskämpfer – Kämpfer und Zeugen in Wort und Tat für Gottes allumfassende Liebe und Gerechtigkeit.
„Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn das Himmelreich ist ihr.“Wir Evangelischen kennen keine Seligsprechung im Sinne des Kirchenrechts, wie es in der Katholischen Kirche gültig ist. Für uns geschieht sie in der Taufe, die uns zu Mitgliedern der Gemeinschaft der Heiligen macht. Wir Evangelischen sollen und wollen gleichwohl der Heiligen und Märtyrer als Vorbilder im Glauben gedenken, dass wir darin unseren Glauben stärken. Wir wissen und sehen an diesen Zeuginnen und Zeugen: die Bindung an Jesus Christus, an Gottes Wort, macht frei, zu widerstehen, den Mund aufzutun.
Allein das Wort – solo verbo.
III
„Man kann mit der Bergpredigt nicht die Welt regieren“, hat der damalige deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt den Friedensbewegungen zugerufen. Nein, das wollten wir auch gar nicht. Aber ich lasse nicht davon ab, zu glauben, dass die Bergpredigt Jesu Herzen regieren kann. Und so regierte Herzen regieren die Welt anders: mit Liebe, zur Freiheit, barmherzig. Solche Herzen sind unruhige Herzen, die sich nicht zufrieden geben mit dem, was immer schon so war. Die wissen und glauben: nicht müssen bleiben Hass und Verfolgung; Ungerechtigkeit zwischen Arm und Reich ist nicht gottgewollte Schicksalsgefüge; das Recht der Starken gegen die Schwachen ist nicht der Weg des Heils; der Wert des Menschen und seine Würde hängen nicht ab von Leistung und Reichtum, Schönheit und Klugheit! Das Wort Gottes selbst will frei machen von Zwängen.
„Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. – Und: Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ So schreibt Martin Luther 1520.
Der Christenmensch lebt in Christus durch den Glauben und im Nächsten durch die Liebe. Weil Gott uns zuerst liebt – nicht weil wir so tolle Leute sind, sondern obwohl wir Leute sind mit Schwächen und Makeln und Fehlern. Das ist der Grund der Freiheit. Und diese Freiheit wächst aus der Bindung an Gottes Wort, aus dem Glauben, dass diese Macht mächtig ist. Darum gehören Freiheit und Verantwortung zusammen. Ein Freiheitsbegriff, der sich löst von der Verantwortung, kehrt sich in sein Gegenteil – unsere Geschichte hat das gezeigt!
Darum, liebe Schwestern und Brüder, ist der Glaube, der sich auf Christus beruft, nicht Privatsache, sondern eine öffentlich Angelegenheit und eine Angelegenheit, die sich um die öffentlichen Dinge, um das Gemeinwohl kümmert: Sie lässt sich nicht einsperren zur Pflege des frommen Ich sozusagen; sie ist nicht etwas, das nichts zu suchen hätte in der Gesellschaft. Gottes Zuspruch und Anspruch führen jene, die glauben, über sich selbst hinaus.
Der Glaube, der die Realität der Welt sieht und die Gottes darin gleichermaßen, führt in die Tat des Friedens, in den Widerspruch gegen Ungerechtigkeit, in die Konfrontation mit dem wieder aufstehenden Hass gegen alles Fremde. Noch einmal Martin Luther: „Nicht gute Früchte machen den guten Baum, sondern der gute Baum trägt gute Früchte!“
Hier bei uns werden Gott sei Dank Christen nicht verfolgt wegen ihres Glaubens. Aber woanders in dieser Welt gehen Menschen aufeinander los, indem sie sich auf Gottes Wort berufen. Wir sehen in Libyen, in Somalia, in Israel und Palästina, wohin der Weg der Friedlosigkeit und Unbarmherzigkeit, wohin die Gnadenlosigkeit und Fundamentalismus führen: in Verfolgung, Hunger, Flucht und Tod.Und wir wissen: Es kann uns nicht egal sein, was mit Schwestern und Brüdern auf der Welt geschieht: was wir hier tun oder lassen, hat Folgen auf der anderen Seite der Welt. Wie wir hier leben, beeinflusst das Klima jenseits des Äquators.
Die Bergpredigt redet davon, dass die Nähe zu Gott selbst sich auch bestimmt von unserer Antwort auf die Nähe Gottes zu uns! Himmel und Erde kommen zusammen, wo Menschen aufstehen, den Mund auftun und die Hände und die Herzen. Wo sie nicht nur um des eigenen Vorteils willen ihre Entscheidungen treffen, sondern weil sie den Nächsten im Blick haben, den Bruder, die Schwester. Zur Reformation in die Nähe Gottes hinein sind wir gerufen im Gedenken an die Reformatoren.
IV
Von Wittenberg ist die Erneuerung ausgegangen – nicht nur der Kirche, sondern auch der Gesellschaft. Und gerade hier im Norden, diesseits und jenseits der Grenze, hat sich die Freiheitskraft gezeigt. Nicht immer haben wir in der Geschichte unserer beiden Länder das Wort dessen, der selig spricht die Friedfertigen ausreichend geachtet – zu viele Gedenkorte gibt es, die sich mit Schlachten beschäftigen und an Tote erinnern. Friedfertig waren wir nicht immer, miteinander; barmherzig waren wir nicht immer miteinander; mutig genug waren wir auch nicht miteinander, als es darum gegangen wäre, Widerstand zu leisten gegen die verbrecherische Herrschaft des Naziregimes in Deutschland und auch hier in Skandinavien.
Aber von hier ist ausgegangen auch eine Botschaft, die bis heute beispielhaft, für ganz Europa ist oder sein könnte: die Bonn-Kopenhagener Erklärung 1955 meine ich, die das Miteinander der Minderheiten diesseits und jenseits der Grenze regelt, das Zusammenleben der Kulturen regeln und die Freiheit, und die aus dem Geist der Verständigung, der Toleranz gewachsen ist – Toleranz, die in dem anderen Gott selbst vermutet und jedenfalls damit rechnet, dass der andere etwas hat, was mir selber fehlt, mich reich machen könnte. Eine Toleranz, die gelernt hat: Vielfalt ist nicht Störung, sondern vielmehr Reichtum des Lebens.
Es gibt auch die Erfahrung der Versöhnung nach dem mörderischen Zweiten Weltkrieg – zeichenhaft geschehen in der Übergabe der Heiliggeist-Kirche zu Flensburg an die Dänische Kirche. Wir haben gelernt und wir haben verstanden, was Jesus von uns fordert, was er uns aber auch zutraut: „selig sind die Friedfertigen, selig sind die Barmherzigen!“
Wenn also nachher ein Baum gepflanzt wird, ein Entsprechungsbaum zu dem in Wittenberg schon gepflanzten, dann ist das auch eine schöne Geste der seit 15 Jahren bestehenden Partnerschaft zwischen den Städten. Dann ist das aber vielmehr noch ein lebendiges, ein Lebens-Zeichen für die reformierende, erneuernde Kraft des Wortes, an die der Mann aus Wittenberg erinnert hat und das unser Herr Jesus Christus sprach und immer neu spricht „Als er aber das Volk sah“. Das ist, was uns nährt und hält – über alle Grenzen hinweg.
Amen.