6. April 2022 | Christus-Kirchengemeinde Wandsbek

Schleswig-Holsteinische Kirche im Nationalsozialismus

06. April 2022 von Kirsten Fehrs

Buchvorstellung - Helge-Fabien Hertz: Evangelische Kirchen im Nationalsozialismus. Kollektivbiografische Untersuchung der schleswig-holsteinischen Pastorenschaft

Es gibt eine Menge Möglichkeiten, die Forschungsarbeit zu würdigen und zu loben, die Sie, lieber Herr Dr. Hertz, uns gleich vorstellen werden. Zum einen ist sie eine echte Pionierarbeit. Zum ersten Mal wurden alle Pastoren einer deutschen Landeskirche untersucht, die von 1933 bis 1945 im Amt waren. 729 Pastoren. 729 Menschen mit ihren 729 Lebensgeschichten und Berufsbiographien.

Eine beeindruckende Fleißarbeit – und das ist das zweite Lob –, für die Sie eine riesige Menge an Material in Archiven durchgearbeitet, Gespräche geführt und Quellen ausfindig gemacht haben. Knapp 1.800 Seiten in drei Bänden – das ist für eine Doktorarbeit eine wirklich ungewöhnliche Menge an aufgearbeitetem Material.

Und schließlich, drittens, ist zu würdigen, dass Sie mit Ihrer Forschung einen elementar wichtigen Beitrag, nicht nur zur Geschichtsschreibung unserer Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland leisten, sondern auch der heutigen Kirche einen Spiegel vorhalten. Denn natürlich ist unsere Geschichte auch Teil unserer Gegenwart. Und wenn, dies darf ich schon vorwegnehmen, diese große Studie zeigt, dass es in der Schleswig-Holsteinischen Landeskirche aufs Ganze gesehen mehr Nähe als Distanz zum Nationalsozialismus gegeben hat, dann hat das eine tiefe Bedeutung für uns heute.

Es lässt innehalten und Fragen stellen; es bringt uns ins Gespräch miteinander und mit unserer Vergangenheit. Dafür ist dieser Abend da und deswegen danke ich Ihnen, lieber Herr Dr. Hertz und dem Verein für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte für diese Veranstaltung und der Christus-Kirchengemeinde Wandsbek für ihre wieder einmal unvergleichlich zugewandte Gastfreundschaft – samt großartiger musikalischer Gestaltung.

Die Vorgängerin eben jener Christuskirche nebenan am Wandsbeker Markt ist im Zweiten Weltkrieg zerstört worden. Eine Abbildung vom Innenraum der früheren Kirche, die hier bis zu den Bombennächten des Krieges stand, ziert den Umschlag der drei Bände. Wobei „ziert“ ein wirklich falsch gewähltes Wort ist, mit dem ich Ihre Aufmerksamkeit auf das Bild richten möchte. Ist es doch aus heutiger Sicht unerträglich, wenn da über dem Altarraum zwischen Deutschem Kreuz und Hakenkreuz zu lesen ist: „Unser Glaube ist der Sieg.“

Angebracht wurde die Inschrift vermutlich in den ersten Jahren der Nazi-Herrschaft. Und auf einen Blick wird klar: Hier wurden nationalsozialistische Ideologie und christlicher Glaube auf eine Weise vermischt, die einem in der historischen Rückschau wirklich das Herz stocken lässt. Eine Herrenmenschenideologie, die andere abgewertet, ausgegrenzt und mit dem Ziel der Ausrottung massenhaft getötet hat, verbindet sich mit einem verkürzt wiedergegebenen, biblischen Zitat!

Hier war von einem Sieg die Rede, der andere vernichtend besiegen sollte. Der später durch Deutschland vom Zaun gebrochene Angriffskrieg begann – auch – in schleswig-holsteinischen Kirchen. Und das sogenannte „Entjudungsinstitut“ in Eisenach, das in rassistischem Wahn jeden jüdischen Einfluss aus dem deutschen kirchlichen Leben ausmerzen wollte, wurde von der Schleswig-Holsteinischen Landeskirche mitgegründet und mitgetragen – als eine von elf daran beteiligten Landeskirchen, darunter übrigens auch die von Lübeck und von Mecklenburg.

Und wenn wir heute, mit mehr als 75 Jahren Abstand, auf diese ja nicht neuen Erkenntnisse über die Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus zurückschauen, erschrocken zurückschauen, dann geschieht das nicht mit der Pose des moralischen Siegers. Wir schauen nicht herab auf irrende Menschen in dunklen Zeiten. Sondern wir begeben uns in einen aufrichtigen Dialog mit der Vergangenheit. Mit der ganzen Vergangenheit.

Und wenn dieser Dialog ehrlich und angemessen sein soll, dann muss doch immer klar bleiben: Wir sehen nicht zuerst auf die Kirche, nicht zuerst auf die 729 Pastoren und auf jene Menschen, die vielleicht zu Mittätern geworden sind. Nein, bevor wir uns gleich von den Erkenntnissen berichten lassen, sehen wir die etwa sechs Millionen Jüdinnen und Juden, Männer, Frauen, Kinder, die vernichtet worden sind. Wir sehen Sinti und Roma, Zeugen Jehovas, Homosexuelle, politisch Verfolgte, Menschen mit Behinderung. Und wir denken an die fast nicht zählbaren Opfer eines Krieges, den Deutschland als Angriffskrieg begonnen hat. 60 Millionen Menschenleben – das ist die ungefähre und immer wieder bedrückende Größenordnung.

So unfassbar viele Menschen, deren Leben sinnlos ausgelöscht wurde, die ausgegrenzt und entwürdigt wurden, Trauernde, Verletzte an Leib und Seele, zerbrochene Leben auf allen Seiten. Wir sprechen von unermesslichem Leid, über das man nicht hinwegsehen darf. Und glücklicherweise auch nicht mehr hinwegsehen kann. Das ist es, worum es geht: den Opfern gerecht werden, dem Unrecht gerecht werden und der unzerstörbaren Würde dieser Menschen gerecht werden, indem wir fragen: Wer war verantwortlich? Wer hat mitgemacht, befördert, geschwiegen?

Die gründliche Arbeit von Herrn Dr. Hertz zeigt: Es ist ein sehr schmerzhaftes Wir, mit dem wir diese Frage beantworten müssen. Die Schleswig-Holsteinische Kirche und viele ihrer Amtsträger haben es an Distanz mangeln lassen, nicht wenige haben sogar mitgemacht und mitgetragen. Dieser Glaube, der da über die Apsis der Kirche gepinselt wurde, war kein Sieg, sondern eine beschämende Niederlage.

Und wenn wir das mühsam auszusprechen lernen, ist auch das keine moralische Überheblichkeit, keine historische Besserwisserei. Denn das merken wir ja an den kritischen Rückfragen und Reaktionen: Es waren ganz normale Menschen, auch liebenswerte und geachtete Pastoren, durchaus viele klug, aufgeschlossen, die als Menschen ihrer Zeit zu Beteiligten ihrer Zeit wurden. Verantwortlich für ihr Denken, Reden und Tun, natürlich – da ist nichts zu bagatellisieren. Aber eben in ihrer Schuldhaftigkeit auch Menschen. Menschen mit Familien und Freunden, Menschen die geliebt haben und geliebt wurden, etliche, die auch Gutes gewirkt und denen man dankbar verbunden war. Das ist ja das Schlimme und das Schwierige, dass das Grauen sich so untrennbar in das ganz normale Leben und in den Alltag hineinverwoben hat. Und wer von uns weiß denn, wie Sie oder ich gedacht, geredet, gehandelt hätten?

Wir sitzen nicht zu Gericht. Aber wir stehen an der Seite derer, die auf menschenverachtende Weise zu Opfern gemacht wurden. Gerade jetzt in der Passionszeit, die doch so unmissverständlich klar macht, auf welcher Seite Jesus stand, auf welcher Seite Gott steht, wann immer es um Unrecht und Gewalt geht.

Wir würdigen das millionenfache Leid und fragen deswegen nach der Verantwortung. Und setzen uns dem Schmerz aus, auch den Diskussionen, die manche Antworten uns bringen werden.

Und wir wissen: Dies ist kein Schlusswort. Kein abschließendes Urteil. Aber gern lassen wir uns von Ihnen, lieber Herr Dr. Hertz, die Augen öffnen für dies Kapitel unserer Geschichte. Ich danke Ihnen dafür und Ihnen, liebe Gäste, für Ihre Aufmerksamkeit.

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