Station 5: Jerusalemsberg - Jesus stirbt
29. März 2024
Karfreitag - Ökumenischer Kreuzweg
Vorangehend Lesung aus dem Evangelium nach Matthäus:
„Von der sechsten Stunde an war Finsternis über dem ganzen Land bis zur neunten Stunde. Um die neunte Stunde schrie Jesus mit lauter Stimme: Eli, Eli, lama asabtani?, das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Einige von denen, die dabeistanden und es hörten, sagten: Er ruft nach Elija. Sogleich lief einer von ihnen hin, tauchte einen Schwamm in Essig, steckte ihn auf ein Rohr und gab Jesus zu trinken. Die anderen aber sagten: Lass, wir wollen sehen, ob Elija kommt und ihm hilft. Jesus aber schrie noch einmal mit lauter Stimme. Dann hauchte er den Geist aus.“
Mein Gott, mein Gott – so verlassen stirbt er. Einsam. Und die Welt wird still. Und ich schaue auf den Schmerzensmann, der sich so quält, auch für uns. Heute, 2024, und hier auf dem Jerusalemsberg. Ausgerechnet Jerusalem – und mir gehen sie alle ans Herz, die in diesen Tagen und in diesem Moment gequält, gefoltert, verhöhnt, entwürdigt, gekidnappt, in Kellern gefangen gehalten, unschuldig ermordet werden. Die auf der Flucht sind und ihre Kinder sterben sehen. Furchtbar, was Menschen im Krieg täglich aushalten müssen. Zum Beispiel in der Ukraine. Und eben auch, was so viele Israelis in ihrer Angst um die Entführten erleiden! Die Eskalation der Gewalt fordert unentwegt weitere Opfer, und Tausende im Gazastreifen leiden Hunger und dürsten nach Gerechtigkeit.
Eli, eli, lama asabtani. Gott, warum hast du mich verlassen. Dieser unser Kreuzweg, diese Via Dolorosa, die wir gegangen sind, macht mit jedem Schritt deutlich: Der Schmerz der Welt schreit zum Himmel. Ein einziger Protest ist dieser Schrei der Verlassenheit. Ein Protest gegen eine Stille, die verschweigt, was Menschen einander antun können. Ein Protest gegen die Stille, die entsteht, wenn wir bei menschenverachtenden Worten und Taten verstummen – in diesen Tagen auch in unserem Land.
Nein, das Kreuz Jesu, es ist das große Trotzdem! Der Schrei ist ein lauter Schrei. Und nein, Gott hat uns nicht verlassen. Im Gegenteil: Er selbst ist es, der da gerade stirbt und trauert und durstig ist nach Gerechtigkeit. Gott ist uns so nahe. Gerade jetzt. Mehr geht nicht. Gott ist in unserer Angst und Ohnmacht und ist im Schmerz der Leidenden.
Das Kreuz ist das große Trotzdem – des Mitgefühls. Der Mitleidenschaft. Wir sollen berührbar bleiben, gerade weil Krieg, Terror und Hass kein Ende nehmen. Uns mit Bildern überfluten. Karfreitag ist ein einziges Plädoyer gegen die Abstumpfung und das Verstummen. Und gegen jedes relativierende „Ja, aber.“ So wie es derzeit so oft zu hören ist. „Ja, der Angriff der Hamas am 7. Oktober war furchtbar, aber ...“ Gottes Leid umfasst ausnahmslos alle Gequälten. Und deshalb darf niemals das eine Leid gegen anderes Leid aufgewogen werden. Weder rechtfertigt der jahrzehntelange Nahostkonflikt die Gräueltaten der Hamas, noch kann der Kampf gegen den Terror die Tötung unschuldiger Zivilisten entschuldigen. Es gehört miteinander verbunden. Kein „Ja, aber“, das trennt, sondern ein „Ja, und“, das verbindet. Die Leidenden hier und dort brauchen unser mitfühlendes Handeln. Denn wir alle hier sind doch als Gemeinschaft unterwegs – um Verbundenheit zu zeigen und Empathie. Wir alle sind ein einziges „Ja, und“. Das eint uns! Uns eint die Haltung, entgegen der Aufhetzer Argumente und Sichtweisen wenigstens anzuhören, auch wenn es nicht unsere eigenen sind. Und wir gehen doch deshalb heute den Kreuzweg auf der Via Dolorosa Lübecks, um zu zeigen: Ja, und wir treten gemeinsam ein gegen Antisemitismus und rechtsextreme Hetze, finden uns nicht ab mit Gewalt und Hass. Ja, und wir stehen gemeinsam ein dafür, das Leben zu achten und zu schützen und einander mit Liebe und Respekt zu begegnen – unabhängig von Religion, Herkunft oder Weltanschauung. Denn ja: Wir sind nicht von Gott verlassen – sondern haben gemeinsam die Kraft, Brücken zu bauen und dem Frieden und der Barmherzigkeit den Weg zu ebnen.
Gott ist mit uns mit seinem großen Ja, dass wir wach bleiben – aufgeweckt. So können wir aufbrechen und mit seinem Segen nach vorn gehen, dem Ostermorgen und neuer Hoffnung entgegen.